In mindestens zwei seiner Werke beschreibt Lukian von Samosata (geb. um 120 und gest. um 180) Visionen, Bilder und Geschehen, die gewiss keine direkte Entsprechung in den Gegebenheiten des 2. Jahrhunderts finden. Der Mond, Jupiter oder die Sonne sind in Reichweite, mit einem Boot oder den starken Flügeln eines Adlers und eines Geiers erreichbar. Die antiken Texte sind auch nach fast zweitausend Jahren erstaunlich und verwunderlich, keineswegs überholt, und haben Erwin Fahrni zu einer literarischen Auseinandersetzung mit ihnen beflügelt. In "Lukian. Ruft – Ein Epos" vermischen sich die räumlichen und zeitlichen Dimensionen. Der Raum ist grenzenlos, die Zeit steht still oder rast wie verrückt davon. Die einzelnen Texte lösen sich von den Vorlagen, die Handlung ist zwar im ersten und zweiten Buch noch nachvollziehbar (die Lukian-Erzählerfigur geht durch die gleichen Stationen wie in der antiken Storia), die textliche Ordnung hat ein Grundmuster, alles verliert jedoch den roten Faden im dritten Buch, in dem vom epischen Fluss nur einzelne Pfützen übrig bleiben, Geronnenes aus Schriften Lukians und früheren und neueren Texten Erwin Fahrnis, zufällig sechzig. Die beiden Teile zuvor umfassen die gleiche Anzahl an Strophen. So rundet sich das Werk scheinbar – insgesamt dreimal sechzig neunversige Strophen bzw. ungleich geformte Abschnitte; die Quersumme von hundertachtzig ergibt neun: Neun ist im Werk die immer wieder auftauchende, rätselhafte Wunderzahl. Ob sie etwas bedeutet oder ob es reine Spielerei ist, bleibe hier ungeklärt. Doch abgerundet ist am Ende nichts. Die Texte des dritten Buches müssen ihre Ordnung erst noch finden, aussichtslos ist wahrscheinlich, einen Zusammenhang herzustellen. Sicher ist dagegen: Die weiterhin angedeuteten Expeditionen ins All, ins Irgendwo, ins Irgendwann oder doch ins zeitlich wie örtlich Reale und Begrenzte, sind keine Irrfahrten eines Träumenden; denn es ist die Welt, die aus den Fugen geraten ist, und mit ihr hat sich das Individuum in seine Atome aufgelöst, die täglich aufs Neue lose Verbindungen eingehen; sei es als Lukian, Menippus, Robert, Thomas, Marcel oder als Schreiber – oder alle miteinander.