Lynchjustiz - bis heute verbunden mit Rassismus, Terror und Gewalt, mit dem berüchtigten Ku-Klux-Klan und dem amerikanischen Süden - kostete im Lauf der amerikanischen Geschichte Zehntausende Menschen das Leben. Im Namen der "Gerechtigkeit", der "Selbstverteidigung des Volkes" und der "Vorherrschaft der weißen Rasse" wurden Menschen geteert und gefedert, gefoltert, gehängt oder verbrannt. Mehr oder weniger organisierte Gruppen, die den Anspruch erhoben, im Namen lokaler Gemeinschaften und einer höheren Gerechtigkeit zu handeln, nahmen sich das Recht heraus, angebliche Verbrecher zu bestrafen. Manfred Berg erzählt die Geschichte der Lynchjustiz von ihren Anfängen in der Kolonialzeit und während der Revolution bis in die Gegenwart. Die rassistische Lynchjustiz gegen schwarze Amerikaner nimmt breiten Raum ein, aber der Historiker erinnert auch an andere, lange Zeit vergessene Opfergruppen wie Mexikaner und Chinesen. Er berichtet vom Widerstand gegen die Lynchjustiz und untersucht, warum sie um die Mitte des 20. Jahrhunderts aufhörte und welches Erbe sie in der amerikanischen Kultur hinterlassen hat. Wer verstehen will, warum das staatliche Gewaltmonopol in den USA eine vergleichsweise geringe Akzeptanz findet und die USA die drakonischste Strafjustiz der westlichen Welt praktizieren, aber auch welche Kontinuitäten zwischen dem Lynchen und der Praxis der Todesstrafe bestehen, findet in diesem Buch Antworten. Manfred Berg legt die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung der Geschichte der Lynchjustiz in den USA vor, erweitert den Blick aber auch auf die aktuelle und weltweit geübte Praxis des Lynchens.
Frankfurter Allgemeine ZeitungDie Gewalt gegen Schwarze kannte keine Grenzen
Prägungen von langer Dauer: Manfred Berg erzählt die Geschichte der Lynchjustiz in Amerika
Abraham Lincoln, damals ein junger Anwalt und Politiker in Illinois, kritisierte 1838 in einer Rede den "mobokratischen Geist" in Amerika. Das empörte Volk, das als Mob das Gesetz in die eigene Hand nahm, war laut Lincoln ein landesweites Phänomen, und "Berichte über die von Mobs verübten Schandtaten" waren "alltägliche Nachrichten". Lincoln nannte drei Fälle von Hinrichtungen durch Mobs. In Vicksburg, Mississippi, waren fünf Glücksspieler gehängt worden. So erging es in diesem Staat auch Sklaven, die einen Aufstand geplant haben sollen, und Weißen als ihren angeblichen Anstiftern. In St. Louis, Missouri, rächte ein Mob den Tod eines Hilfssheriffs und verbrannte den Täter, einen freien Mulatten, bei lebendigem Leib.
Was Lincoln als Mobgewalt ablehnte, war nach dem Selbstverständnis der Akteure allerdings eine gerechtfertigte Form des gemeinschaftlichen Schutzes vor Verbrechern. Die Lynchjustiz sollte Recht und Ordnung wahren, "wenn und solange die Staatsgewalt dazu nicht bereit oder in der Lage ist", schreibt Manfred Berg in seiner Geschichte der Lynchjustiz in Amerika. Der Heidelberger Historiker hat eine faktenreiche Gesamtdarstellung verfasst. Die Einzelanalyse von Lynchmorden und ihrer Legitimierung verknüpft er souverän mit Prägungen von langer Dauer, denn das kulturelle Erbe der Lynchjustiz reiche bis in die Gegenwart, so Berg, "auch wenn dies in der amerikanischen Öffentlichkeit nur selten anerkannt wird".
Dass die Verteidiger der Lynchjustiz sich auf ein Mitwirkungsrecht des Volks beriefen, führt Berg auf die Kolonialzeit zurück. Wehrfähigen Männern oblag es, als "Posse" (Hilfstrupp) den Sheriff zu unterstützen. Hinrichtungen fanden öffentlich statt. Verbrecher sollten vor der Gemeinschaft ihre Schuld gestehen, die Zuschauer zeigten ihre Zustimmung zur Strafe - und bisweilen deren Erlass, wenn es zu einem Gnadenakt in letzter Minute kam. Im Konflikt der Kolonien mit dem Mutterland vollzogen patriotische Mobs an Zollbeamten und anderen Vertretern der Kolonialpolitik das Strafritual des Teerens und Federns. Nachdem der Unabhängigkeitskrieg ausgebrochen war, griffen Colonel Charles Lynch und andere Milizoberste in Virginia zu Ad-hoc-Tribunalen, um gegen Verräter und Verbrecher vorzugehen. In einem Brief sprach Lynch selbst von "Lynchs Gesetz".
Als die Bürger von Vicksburg im Juli 1835 die weißen Spieler lynchten, äußerten zwar viele Zeitgenossen Lincolns ebenfalls Kritik an Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren. Besonders im Süden galt solch vehementes Handeln aber als beispielhaft. Dort war die Lynchjustiz eng mit der Sklaverei verbunden, und wie in dem von Lincoln zitierten Fall löste die Furcht vor Aufständen etliche Lynchmorde aus. Gewalt gegen Schwarze kannte keine Grenzen. Durch den dreizehnten Verfassungszusatz wurde die Sklaverei nach dem Bürgerkrieg abgeschafft; die Lynchjustiz trug jedoch dazu bei, die weiße Vorherrschaft weiter zu sichern.
Über die enge Verbindung mit der Sklaverei und der Rassenfrage im Süden hinaus folgt Berg einem zweiten Traditionsstrang der Lynchjustiz an der "Frontier", der westwärts wandernden Siedlungsgrenze. Das Lynchrisiko für Mexikaner im Südwesten lag ähnlich hoch wie das für Schwarze im Süden. Berg betont, dass Lynchmobs auch an der "Frontier" ihre Opfer oft erst aus einem Gefängnis befreiten, obwohl doch die Abwesenheit staatlicher Justiz das Lynchen notwendig gemacht haben solle.
Fast drei Viertel der Opfer waren Afroamerikaner - bezogen auf 4716 Lynchmorde, die "nach konservativen Schätzungen" zwischen 1882 und 1946 geschahen. Vor manchmal Hunderten oder Tausenden Zuschauern hielten die Lyncher ihre Rituale der Gewalt als Massenspektakel ab. Die Opfer wurden verstümmelt und verbrannt, Leichenteile waren Trophäen, Fotografien dokumentierten den Stolz der Täter. Ein zentrales Motiv zur Legitimierung der Gewalt war der Schutz weißer Frauen vor vermeintlichen Vergewaltigern. Berg legt die perfide Logik offen, mit der dabei die Schwarzen gleich doppelt für das Lynchen verantwortlich gemacht wurden: Wie nämlich der einzelne schwarze Mann an der Kontrolle seiner Lust scheitere, so scheitere auch die schwarze Gemeinschaft als Ganze an der Kontrolle ihrer potentiellen Triebtäter.
Der amerikanische Senat bekannte in einer Entschuldigungsresolution vom 13. Juni 2005 sein historisches Versagen, nie ein Gesetz gegen das Lynchen beschlossen zu haben. Während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sank die Zahl der Lynchmorde aber auch ohne ein Bundesgesetz. Für die Selbstverteidigung der Afroamerikaner gegen Mobgewalt bringt Berg ebenso Beispiele wie für das Engagement der "National Association for the Advancement of Colored People" (NAACP) und anderer Reformgruppen. Doch vor allem verweist er darauf, dass das Ende der Lynchjustiz "mit einer drastischen Ausweitung der staatlich exekutierten Todesstrafe einherging".
THORSTEN GRÄBE.
Manfred Berg: "Lynchjustiz in den USA". Hamburger Edition, Hamburg 2014. 275 S., Abb., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Prägungen von langer Dauer: Manfred Berg erzählt die Geschichte der Lynchjustiz in Amerika
Abraham Lincoln, damals ein junger Anwalt und Politiker in Illinois, kritisierte 1838 in einer Rede den "mobokratischen Geist" in Amerika. Das empörte Volk, das als Mob das Gesetz in die eigene Hand nahm, war laut Lincoln ein landesweites Phänomen, und "Berichte über die von Mobs verübten Schandtaten" waren "alltägliche Nachrichten". Lincoln nannte drei Fälle von Hinrichtungen durch Mobs. In Vicksburg, Mississippi, waren fünf Glücksspieler gehängt worden. So erging es in diesem Staat auch Sklaven, die einen Aufstand geplant haben sollen, und Weißen als ihren angeblichen Anstiftern. In St. Louis, Missouri, rächte ein Mob den Tod eines Hilfssheriffs und verbrannte den Täter, einen freien Mulatten, bei lebendigem Leib.
Was Lincoln als Mobgewalt ablehnte, war nach dem Selbstverständnis der Akteure allerdings eine gerechtfertigte Form des gemeinschaftlichen Schutzes vor Verbrechern. Die Lynchjustiz sollte Recht und Ordnung wahren, "wenn und solange die Staatsgewalt dazu nicht bereit oder in der Lage ist", schreibt Manfred Berg in seiner Geschichte der Lynchjustiz in Amerika. Der Heidelberger Historiker hat eine faktenreiche Gesamtdarstellung verfasst. Die Einzelanalyse von Lynchmorden und ihrer Legitimierung verknüpft er souverän mit Prägungen von langer Dauer, denn das kulturelle Erbe der Lynchjustiz reiche bis in die Gegenwart, so Berg, "auch wenn dies in der amerikanischen Öffentlichkeit nur selten anerkannt wird".
Dass die Verteidiger der Lynchjustiz sich auf ein Mitwirkungsrecht des Volks beriefen, führt Berg auf die Kolonialzeit zurück. Wehrfähigen Männern oblag es, als "Posse" (Hilfstrupp) den Sheriff zu unterstützen. Hinrichtungen fanden öffentlich statt. Verbrecher sollten vor der Gemeinschaft ihre Schuld gestehen, die Zuschauer zeigten ihre Zustimmung zur Strafe - und bisweilen deren Erlass, wenn es zu einem Gnadenakt in letzter Minute kam. Im Konflikt der Kolonien mit dem Mutterland vollzogen patriotische Mobs an Zollbeamten und anderen Vertretern der Kolonialpolitik das Strafritual des Teerens und Federns. Nachdem der Unabhängigkeitskrieg ausgebrochen war, griffen Colonel Charles Lynch und andere Milizoberste in Virginia zu Ad-hoc-Tribunalen, um gegen Verräter und Verbrecher vorzugehen. In einem Brief sprach Lynch selbst von "Lynchs Gesetz".
Als die Bürger von Vicksburg im Juli 1835 die weißen Spieler lynchten, äußerten zwar viele Zeitgenossen Lincolns ebenfalls Kritik an Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren. Besonders im Süden galt solch vehementes Handeln aber als beispielhaft. Dort war die Lynchjustiz eng mit der Sklaverei verbunden, und wie in dem von Lincoln zitierten Fall löste die Furcht vor Aufständen etliche Lynchmorde aus. Gewalt gegen Schwarze kannte keine Grenzen. Durch den dreizehnten Verfassungszusatz wurde die Sklaverei nach dem Bürgerkrieg abgeschafft; die Lynchjustiz trug jedoch dazu bei, die weiße Vorherrschaft weiter zu sichern.
Über die enge Verbindung mit der Sklaverei und der Rassenfrage im Süden hinaus folgt Berg einem zweiten Traditionsstrang der Lynchjustiz an der "Frontier", der westwärts wandernden Siedlungsgrenze. Das Lynchrisiko für Mexikaner im Südwesten lag ähnlich hoch wie das für Schwarze im Süden. Berg betont, dass Lynchmobs auch an der "Frontier" ihre Opfer oft erst aus einem Gefängnis befreiten, obwohl doch die Abwesenheit staatlicher Justiz das Lynchen notwendig gemacht haben solle.
Fast drei Viertel der Opfer waren Afroamerikaner - bezogen auf 4716 Lynchmorde, die "nach konservativen Schätzungen" zwischen 1882 und 1946 geschahen. Vor manchmal Hunderten oder Tausenden Zuschauern hielten die Lyncher ihre Rituale der Gewalt als Massenspektakel ab. Die Opfer wurden verstümmelt und verbrannt, Leichenteile waren Trophäen, Fotografien dokumentierten den Stolz der Täter. Ein zentrales Motiv zur Legitimierung der Gewalt war der Schutz weißer Frauen vor vermeintlichen Vergewaltigern. Berg legt die perfide Logik offen, mit der dabei die Schwarzen gleich doppelt für das Lynchen verantwortlich gemacht wurden: Wie nämlich der einzelne schwarze Mann an der Kontrolle seiner Lust scheitere, so scheitere auch die schwarze Gemeinschaft als Ganze an der Kontrolle ihrer potentiellen Triebtäter.
Der amerikanische Senat bekannte in einer Entschuldigungsresolution vom 13. Juni 2005 sein historisches Versagen, nie ein Gesetz gegen das Lynchen beschlossen zu haben. Während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sank die Zahl der Lynchmorde aber auch ohne ein Bundesgesetz. Für die Selbstverteidigung der Afroamerikaner gegen Mobgewalt bringt Berg ebenso Beispiele wie für das Engagement der "National Association for the Advancement of Colored People" (NAACP) und anderer Reformgruppen. Doch vor allem verweist er darauf, dass das Ende der Lynchjustiz "mit einer drastischen Ausweitung der staatlich exekutierten Todesstrafe einherging".
THORSTEN GRÄBE.
Manfred Berg: "Lynchjustiz in den USA". Hamburger Edition, Hamburg 2014. 275 S., Abb., geb., 32,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Rudolf Walther beschränkt sich in seiner Besprechung dieses Buch fast völlig auf die Nacherzählung des Inhalts. Manfred Bergs Definition des Lynchmord findet dabei ebenso seine Zustimmung, wie die Geschichte von der Kolonialzeit über die Sklavenhaltung bis in die heutige Zeit sein Entsetzen erregt. Berg analysiere die kulturellen Bedingungen vor allem der Südstaaten, unter denen es möglich war, dass tausende von Menschen, unter Missachtung eines an sich schon drakonischen Rechtssystems, spontaner Selbstjustiz zum Opfer fielen, fasst der Rezensent zusammen, der von Bergs genauen Ausführungen gleichermaßen bestürzt und beeindruckt ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche ZeitungIm Namen des Volkszorns
Ein politisches Großverbrechen: Manfred Bergs erschütternde
Studie über die Lynchjustiz in den Vereinigten Staaten
VON RUDOLF WALTHER
Am 13. Juni 2005 verabschiedete der amerikanische Senat eine Resolution, mit der er sich bei den Opfern von Lynchjustiz entschuldigte und diese Praxis als „schlimmste Erscheinungsform des Rassismus in den USA“ anprangerte. Der Senat gestand sein Versagen ein, weil er keiner der rund 200 Gesetzesvorlagen für ein Bundesgesetz gegen Rassismus, die seit 1900 eingebracht worden waren, zugestimmt hatte, obwohl „99 Prozent“ der Mitwirkenden bei Lynchmorden der Strafverfolgung entgingen. Nie zuvor und nie danach hat ein amerikanisches Parlament eine solche Mitverantwortung an einem Verbrechen eingeräumt.
Als Erster präsentiert Manfred Berg eine umfassende Darstellung und Analyse des politischen Großverbrechens in deutscher Sprache. Im Unterschied zu anderen politisch motivierten Verbrechen wie Vertreibungen, Säuberungen und diskriminierenden Gesetzen gegen Minderheiten ging die Lynchjustiz in den USA aber nicht von staatlichen Institutionen aus. Sie beruhte vielmehr auf mehr oder weniger spontaner Selbstjustiz von gleichzeitig politisch erregten und wirtschaftlich interessierten Bürgern, deren Taten der Staat in stiller Komplizenschaft hinnahm oder einfach duldete oder nur mit lächerlich nachsichtigen Gerichtsurteilen sanktionierte.
Berg definiert den Lynchmord präzis als „extralegale Bestrafung angeblicher Verbrecher durch mehr oder weniger organisierte Gruppen“ im Namen der „gemeinschaftlichen Verteidigung von Recht und Ordnung“. Er grenzt diese archaische Praxis damit ab von „hate crimes“, die ohne Billigung des Publikums stattfanden, und „race riots“ sowie anderen pogromartigen Attacken auf Minderheiten.
Historiker belegen, dass allein zwischen 1882 und 1946 mindestens 4716 Menschen Opfer von so definierten Lynchmorden wurden. Achtzig Prozent der Taten fanden im Süden der USA statt und 3425 Opfer waren Afroamerikaner.
Die Praxis der Selbstjustiz ist jedoch mehr als hundert Jahre älter. Das Wort „lynchen“ geht wahrscheinlich auf den Oberst Charles Lynch aus Virginia zurück, der Anhänger der britischen Kolonialmacht mit der Berufung auf „Lynch’s Law“ verprügeln ließ. Im Kampf um die Eroberung des Westens bildeten sich unter den Pionieren Bürgerkomitees („vigilance committees“), die sich mangels funktionierender staatlicher Organe mittels Selbstjustiz gegen Räuberbanden, Vieh- und Pferdediebe wehrten.
Im Süden der USA, wo die Sklavenwirtschaft herrschte, war die Praxis der Selbstjustiz („popular justice“) eindeutig rassistisch codiert und diente der Disziplinierung von Sklaven. Formen von „popular justice“ gab es in der ganzen Welt zwischen Russland und Lateinamerika, aber nirgends hielt sie sich so hartnäckig lange wie in den USA, wo das staatliche Gewaltmonopols – trotz eines drakonischeren Strafrechts – weniger geachtet wurde als in Europa.
Die Wurzeln der Lynchjustiz in Amerika liegen in der Kolonialzeit. In North Carolina wurden schon vor 1776 – der Gründung der USA – wenigstens 76 Todesurteile verhängt, aber für die Vollstreckung fehlen Belege. Unbekannt waren damals in den amerikanischen Kolonien Folter und grausame Formen der Strafe. Diese rechtliche Schranke galt allerdings nur für Weiße. Sklaven dagegen waren bloß „bewegliches Eigentum“ und wurden grausam bestraft: Man räderte sie, man ließ sie verhungern und verbrennen. Die Kolonialmacht tolerierte auch, dass bewaffnete Siedler („regulators“) strafend und mordend gegen Indianer vorgingen.
Spätestens von 1830 an war die Lynchjustiz „Teil der amerikanischen Kultur“. 1845 gab Präsident Andrew Jackson – ein skrupelloser Haudegen auf dem Kapitol – die Devise aus, „dass das Gesetz den Willen und das Interesse des Volkes schützen müsse“ und dieses Gesetze notfalls missachten dürfe. In der Kultur der Südstaaten, die auf Ehre, Rache, Gewalt und Leidenschaft beruhte, stieß das auf fruchtbaren Boden. Glücksspieler, Gesetzlose, Räuber und andere „Sünder“ bekamen nun den „Bürgergeist“ und den „Volkszorn“ zu spüren und wurden kollektiv gelyncht, wenn Gerichte nicht einschritten.
Die sklavenbesitzende Pflanzeraristokratie des Südens bildete zwar eine Minderheit, aber als kulturell, politisch und wirtschaftlich dominierende Elite gelang es ihr, die armen Weißen im Süden für ihre Interessen einzuspannen im „Rassenkampf“ gegen angeblich jederzeit aufstands- und vergewaltigungsbereite Sklaven. Gab es zunächst noch ein „erstaunliches Maß an Fairness“ (Berg) in den Verfahren gegen Sklaven, denn ein toter Sklave war ein wirtschaftlicher Verlust für den Besitzer, so änderte sich das nach dem verlorenen Bürgerkrieg (1861 bis 1865) schlagartig.
Der unterlegene Süden wollte die drohende „Negerherrschaft“ mit allen Mitteln verhindern. Die Pflanzeraristokratie konnte die Konformität und Loyalität der Sklaven nur mit erhöhter Gewalt und Lynchjustiz sichern. Der rassistisch imprägnierte Paternalismus wurde abgelöst von blankem Rassenhass. Im Wahlprogramm der Demokraten hieß es 1865: „Komme, was wolle, es darf unter gar keinen Umständen jemals eine Gleichheit zwischen Weißen und anderen Rassen geben.“ Die Gesetze zum Schutz und zur Gleichberechtigung von Schwarzen wurden im Süden noch Jahrzehnte lang missachtet oder unterlaufen. Zum spontan agierenden Mob gesellte sich das organisierte Verbrechen. Zwischen 1868 und 1871 ermordete der Ku-Klux-Klan rund 20 000 Menschen. „Die Praxis des Lynchens zielte darauf, die Botschaft des Terrors sichtbar zu machen.“ Der Klan praktizierte nun Schlachtrituale an Schwarzen, die vor der Verbrennung gefoltert und deren Körper danach zerteilt und in Portionen verkauft wurden.
Fotografen machten aus den Morden ein lukratives Geschäft mit Postkarten, das erst in einer Ausstellung im Jahr 2000 dokumentiert wurde (vgl. www.withoutsanctuary.org). Nach dem Zweiten Weltkrieg endete die Lynchjustiz und wurde durch das Regime der Todesstrafe ersetzt: Von 1977 bis 2013 wurden in den USA 1300 Todesurteile vollstreckt, 450 davon an Afroamerikanern. – Manfred Bergs brillante Studie belegt die Geschichte der Lynchjustiz facettenreich mit bestürzenden Details, die den Leser erschaudern lassen.
Manfred Berg : Lynchjustiz in den USA. Hamburger Edition, 2014. 275 Seiten, 32 Euro.
Rudolf Walther ist freier Publizist. Zuletzt erschien von ihm: „Aufgreifen, begreifen, angreifen. Historische und politische Essays“, Band 4 (Oktober Verlag, Münster 2014).
Nach dem Zweiten Weltkrieg
wurde die Lynchjustiz durch das
Regime der Todesstrafe ersetzt
„Max und Moritz: USA-Version“ schrieb Gerhard Haderer unter dieses Bild.
Zeichnung: Haderer
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Ein politisches Großverbrechen: Manfred Bergs erschütternde
Studie über die Lynchjustiz in den Vereinigten Staaten
VON RUDOLF WALTHER
Am 13. Juni 2005 verabschiedete der amerikanische Senat eine Resolution, mit der er sich bei den Opfern von Lynchjustiz entschuldigte und diese Praxis als „schlimmste Erscheinungsform des Rassismus in den USA“ anprangerte. Der Senat gestand sein Versagen ein, weil er keiner der rund 200 Gesetzesvorlagen für ein Bundesgesetz gegen Rassismus, die seit 1900 eingebracht worden waren, zugestimmt hatte, obwohl „99 Prozent“ der Mitwirkenden bei Lynchmorden der Strafverfolgung entgingen. Nie zuvor und nie danach hat ein amerikanisches Parlament eine solche Mitverantwortung an einem Verbrechen eingeräumt.
Als Erster präsentiert Manfred Berg eine umfassende Darstellung und Analyse des politischen Großverbrechens in deutscher Sprache. Im Unterschied zu anderen politisch motivierten Verbrechen wie Vertreibungen, Säuberungen und diskriminierenden Gesetzen gegen Minderheiten ging die Lynchjustiz in den USA aber nicht von staatlichen Institutionen aus. Sie beruhte vielmehr auf mehr oder weniger spontaner Selbstjustiz von gleichzeitig politisch erregten und wirtschaftlich interessierten Bürgern, deren Taten der Staat in stiller Komplizenschaft hinnahm oder einfach duldete oder nur mit lächerlich nachsichtigen Gerichtsurteilen sanktionierte.
Berg definiert den Lynchmord präzis als „extralegale Bestrafung angeblicher Verbrecher durch mehr oder weniger organisierte Gruppen“ im Namen der „gemeinschaftlichen Verteidigung von Recht und Ordnung“. Er grenzt diese archaische Praxis damit ab von „hate crimes“, die ohne Billigung des Publikums stattfanden, und „race riots“ sowie anderen pogromartigen Attacken auf Minderheiten.
Historiker belegen, dass allein zwischen 1882 und 1946 mindestens 4716 Menschen Opfer von so definierten Lynchmorden wurden. Achtzig Prozent der Taten fanden im Süden der USA statt und 3425 Opfer waren Afroamerikaner.
Die Praxis der Selbstjustiz ist jedoch mehr als hundert Jahre älter. Das Wort „lynchen“ geht wahrscheinlich auf den Oberst Charles Lynch aus Virginia zurück, der Anhänger der britischen Kolonialmacht mit der Berufung auf „Lynch’s Law“ verprügeln ließ. Im Kampf um die Eroberung des Westens bildeten sich unter den Pionieren Bürgerkomitees („vigilance committees“), die sich mangels funktionierender staatlicher Organe mittels Selbstjustiz gegen Räuberbanden, Vieh- und Pferdediebe wehrten.
Im Süden der USA, wo die Sklavenwirtschaft herrschte, war die Praxis der Selbstjustiz („popular justice“) eindeutig rassistisch codiert und diente der Disziplinierung von Sklaven. Formen von „popular justice“ gab es in der ganzen Welt zwischen Russland und Lateinamerika, aber nirgends hielt sie sich so hartnäckig lange wie in den USA, wo das staatliche Gewaltmonopols – trotz eines drakonischeren Strafrechts – weniger geachtet wurde als in Europa.
Die Wurzeln der Lynchjustiz in Amerika liegen in der Kolonialzeit. In North Carolina wurden schon vor 1776 – der Gründung der USA – wenigstens 76 Todesurteile verhängt, aber für die Vollstreckung fehlen Belege. Unbekannt waren damals in den amerikanischen Kolonien Folter und grausame Formen der Strafe. Diese rechtliche Schranke galt allerdings nur für Weiße. Sklaven dagegen waren bloß „bewegliches Eigentum“ und wurden grausam bestraft: Man räderte sie, man ließ sie verhungern und verbrennen. Die Kolonialmacht tolerierte auch, dass bewaffnete Siedler („regulators“) strafend und mordend gegen Indianer vorgingen.
Spätestens von 1830 an war die Lynchjustiz „Teil der amerikanischen Kultur“. 1845 gab Präsident Andrew Jackson – ein skrupelloser Haudegen auf dem Kapitol – die Devise aus, „dass das Gesetz den Willen und das Interesse des Volkes schützen müsse“ und dieses Gesetze notfalls missachten dürfe. In der Kultur der Südstaaten, die auf Ehre, Rache, Gewalt und Leidenschaft beruhte, stieß das auf fruchtbaren Boden. Glücksspieler, Gesetzlose, Räuber und andere „Sünder“ bekamen nun den „Bürgergeist“ und den „Volkszorn“ zu spüren und wurden kollektiv gelyncht, wenn Gerichte nicht einschritten.
Die sklavenbesitzende Pflanzeraristokratie des Südens bildete zwar eine Minderheit, aber als kulturell, politisch und wirtschaftlich dominierende Elite gelang es ihr, die armen Weißen im Süden für ihre Interessen einzuspannen im „Rassenkampf“ gegen angeblich jederzeit aufstands- und vergewaltigungsbereite Sklaven. Gab es zunächst noch ein „erstaunliches Maß an Fairness“ (Berg) in den Verfahren gegen Sklaven, denn ein toter Sklave war ein wirtschaftlicher Verlust für den Besitzer, so änderte sich das nach dem verlorenen Bürgerkrieg (1861 bis 1865) schlagartig.
Der unterlegene Süden wollte die drohende „Negerherrschaft“ mit allen Mitteln verhindern. Die Pflanzeraristokratie konnte die Konformität und Loyalität der Sklaven nur mit erhöhter Gewalt und Lynchjustiz sichern. Der rassistisch imprägnierte Paternalismus wurde abgelöst von blankem Rassenhass. Im Wahlprogramm der Demokraten hieß es 1865: „Komme, was wolle, es darf unter gar keinen Umständen jemals eine Gleichheit zwischen Weißen und anderen Rassen geben.“ Die Gesetze zum Schutz und zur Gleichberechtigung von Schwarzen wurden im Süden noch Jahrzehnte lang missachtet oder unterlaufen. Zum spontan agierenden Mob gesellte sich das organisierte Verbrechen. Zwischen 1868 und 1871 ermordete der Ku-Klux-Klan rund 20 000 Menschen. „Die Praxis des Lynchens zielte darauf, die Botschaft des Terrors sichtbar zu machen.“ Der Klan praktizierte nun Schlachtrituale an Schwarzen, die vor der Verbrennung gefoltert und deren Körper danach zerteilt und in Portionen verkauft wurden.
Fotografen machten aus den Morden ein lukratives Geschäft mit Postkarten, das erst in einer Ausstellung im Jahr 2000 dokumentiert wurde (vgl. www.withoutsanctuary.org). Nach dem Zweiten Weltkrieg endete die Lynchjustiz und wurde durch das Regime der Todesstrafe ersetzt: Von 1977 bis 2013 wurden in den USA 1300 Todesurteile vollstreckt, 450 davon an Afroamerikanern. – Manfred Bergs brillante Studie belegt die Geschichte der Lynchjustiz facettenreich mit bestürzenden Details, die den Leser erschaudern lassen.
Manfred Berg : Lynchjustiz in den USA. Hamburger Edition, 2014. 275 Seiten, 32 Euro.
Rudolf Walther ist freier Publizist. Zuletzt erschien von ihm: „Aufgreifen, begreifen, angreifen. Historische und politische Essays“, Band 4 (Oktober Verlag, Münster 2014).
Nach dem Zweiten Weltkrieg
wurde die Lynchjustiz durch das
Regime der Todesstrafe ersetzt
„Max und Moritz: USA-Version“ schrieb Gerhard Haderer unter dieses Bild.
Zeichnung: Haderer
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