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Jean-Philippe Toussaints Romane, die allesamt von einer Frau namens Marie Madeleine Marguerite de Montalte handeln, erscheinen jetzt in einem Band. "MMMM" ist ein Epochenporträt und ein großer Liebesroman
An Jean-Philippe Toussaint fällt, wenn man ihn trifft, als Erstes seine erstaunliche, fast buddhistische Gelassenheit auf. Anders als andere Schriftsteller, die sich wahlweise poetisch-verwirrt, Rolf-Dieter-Brinkmann-artig randalemäßig aufgekratzt oder genialisch-schratig in Szene setzen, hat Toussaint die Position des gelassenen, die Welt gewissermaßen von einem korsischen Felskarst aus betrachtenden, umwerfend freundlichen Beobachters gewählt. Er sitzt da und erzählt von Korsika und zeigt Fotos, jedes Jahr, wenn sich die ganze Familie auf der Insel trifft, macht er an derselben Stelle ein Foto, man sieht seine Frau und die Kinder vor einem alten Renault 4 in die Luft springen, und jedes Mal sehen die Kinder etwas größer aus als im Vorjahr und der Renault etwas rostiger. Inzwischen ist er ganz verrostet, und die Kinder sind groß.
Es gibt in Toussaints frühem Roman "Monsieur" eine schöne Szene, in der der Held eine Olive mit der Gabel aufzuspießen versucht, was misslingt (alles, was mit Direktheit zu tun hat, misslingt in Toussaints Büchern). Stattdessen beginnt er nun, die Olive sanft, aber stetig mit der Gabel zu massieren, bis sie ihren Widerstand aufgibt und sich widerstandslos und anstrengungsfrei aufspießen lässt. Man kann darin fast eine Toussaintsche Weltmetapher sehen, denn all seine Figuren gehen mit der Welt um, wie es diese Figur mit der Olive tut: Die direkte Konfrontation vermeiden und durch lautlose Zermürbung, auf stetigen Umwegen überraschend elegant zum Ziel kommen.
Viele halten den 1957 in Brüssel geborenen Toussaint für den bedeutendsten französischsprachigen Schriftsteller seiner Generation. Der Roman "Das Badezimmer", der in kurzen, aphorismenhaften Miniaturkapiteln die Geschichte eines Mannes erzählt, der in sein Badezimmer zieht und sich weigert, es zu verlassen, erschien 1985. Der ein Jahr später erscheinende "Monsieur" und der Roman "Der Photoapparat" - der damit beginnt, dass jemand kein Passfoto bei sich hat, sich deswegen nicht zum Führerschein anmelden kann und nach labyrinthischen Wegen durch die Mühen eines Pariser Alltags mit der Sekretärin der Fahrschule auf einer Englandfähre landet, auf der er eine Kamera stiehlt, in Panik den Film verknipst und diese Bilder eines anderen Lebens entwickeln lässt - waren Bücher von einer absurden, minimalistischen Schönheit und Schärfe, wie man sie seitdem so nicht wieder fand.
Doch in der französischen Literaturwelt ist Toussaint schon lange das leiseste Genie - das wegen des fehlenden Lärms auch mit unschöner Regelmäßigkeit bei den großen Preisvergaben übersehen wird. Für einen Goncourt muss es mittlerweile am besten die Geschichte eines doppelten Kindsmords sein, weniger Grusel wollen sich die moribunde lesende Bourgeoisie und ihre Preisrichter nicht antun, und auch ansonsten muss die Apokalypse so grell gemalt werden wie in Houellebecqs "Unterwerfung": In einer Zeit, in der man, ohne den Horrorpegel voll aufzudrehen, in einem von Zusammenbruchs- und Abstiegsängsten geplagten Land kaum Aufmerksamkeit erzielt, drohten Toussaints lakonische, haikuhaft kurze Romane leiser zu verklingen, als sie es verdient haben.
Und so ist es eigentlich eine ebenso ungewöhnliche wie notwendige Heldentat seines deutschen Verlegers Joachim Unseld, die vier über die vergangenen Jahre erschienenen kurzen Romane, die allesamt von einer Frau namens Marie Madeleine Marguerite de Montalte handeln, in einem "MMMM" getauften Band zusammenzufassen und damit zu zeigen, was hier fast unter dem Radar entstanden ist: ein Epochenporträt, ein großer Liebesroman, in dem die Untiefen und Brüche der Gegenwart, die alten (Paris, Korsika) und die neuen (Japan, China) Schauplätze der Gegenwart sichtbar werden. Man kann sagen, dass Marie Madeleine Marguerite de Montalte zu den interessantesten Frauenfiguren der französischen Literatur der Gegenwart gehört, die, wie Toussaint selbst, viel Zeit auf Korsika verbringt, wie auch Toussaints Frau Madeleine Santandréa, die Korsin ist: Die beiden lernten sich kennen, als Toussaint, um dem Militärdienst zu entgehen, als Französischlehrer in die algerische Provinz Medea übergesiedelt war. In Algerien schrieb er auch "Das Badezimmer".
Die fiktive Marie Madeleine also ist die Hauptfigur jener Tetralogie, die Toussaints Verleger und Übersetzer zu einem großen Roman vertäut hat. In diesem Roman stürzt man schon bald mitten in eine große Krise hinein: Ein Mann erhält einen Anruf, mitten in der Nacht, einer Pariser Sommernacht, seit Tagen herrscht eine scheußliche, schweißtreibende Hitze, der Mann schläft schlecht. Neben ihm liegt eine Frau, sie heißt Marie; die Frau, die ihn anruft, heißt auch Marie, und es ist die Frau, die er eigentlich liebt.
Der Mann rennt deswegen, mitten in der Nacht, gegen halb drei Uhr morgens, durch das überhitzte, leergefegte Paris, vorbei am Reiterstandbild auf der Place des Victoires, zu ihrer Wohnung. Dort sieht er einen Krankenwagen. Ein Mann wird auf einer Trage aus dem Haus transportiert. Oben in der Wohnung steht, nur mit einem T-Shirt bekleidet, Marie zwischen einer halb geleerten Flasche Grappa und einem abgeschalteten Ventilator. Der Erzähler stellt sich vor, was in dieser Nacht passiert ist, die seine ehemalige Freundin Marie mit dem wohlhabenden, älteren Jean-Christophe de G. verbracht hat, bevor der eine Herzattacke bekam und aus Maries Wohnung, die auch einmal die Wohnung des Erzählers war, abtransportiert werden muss und bald darauf stirbt. "Später, als ich an die dunklen Stunden dieser glutheißen Nacht zurückdachte, wurde mir bewusst, dass wir beide, Marie und ich, damals im gleichen Augenblick Liebe gemacht hatten, nur nicht miteinander": Selten hat der erste Satz eines Kapitels, das in MMMM "Die Wahrheit über Marie" heißt, alles, was folgt, den Ton, die Tragik, den Humor, den schleichenden Wahnsinn der Geschichte so extrakthaft vorweggenommen.
Marie, Heldin des Buchs, ist Modemacherin und träumt, wie man im Kapitel "Nackt" erfährt, von einer Haute Couture ohne "Couture", also ohne Schnitt und Naht, sie entwirft ein Honigkleid, das über den Körper gegossen wird "ohne jede Verbindung oder Befestigung". Dieses verbindungslos Haftende prägt als Motiv den Roman, dessen Erzählung elegant und desaströs anhaftend wie Honig voranfließt. Maries Liebhaber, Jean-Christophe de G. besitzt vor seinem Tod einen Reitstall und nimmt in Tokio an einem Vollblut-Turnier teil, muss aber eines seiner Pferde, das unter Verdacht steht, gedopt zu sein, über Nacht außer Landes bringen, was schwieriger ist, als gedacht, weil dieses Pferd am Flughafen Tokio-Narita aus seiner Transportbox ins Dunkel der Nacht flieht.
Man kann schon hier ein aus der Romantik bekanntes Doppelgängermotiv ausmachen, das sich wie ein kunstvolles Netz unter dem Roman ausbreitet - zwei Frauen, die Marie heißen und gleichzeitig geliebt werden; zwei Pferde, das gedopte von Jean-Christophe de G. und das von Maries Vater, beide sind am Ende verletzt -, aber das Großartige an diesem Buch ist vor allem seine Sprache, die immer tastend bleibt: "Aller Wahrscheinlichkeit nach, angesichts der Uhrzeit, zu der Marie in unsere Wohnung zurückgekehrt ist (in unsere Wohnung oder vielmehr in ihre Wohnung, man müsste jetzt sagen, in ihre Wohnung, weil wir seit vier Monaten nicht mehr zusammenwohnten) und angesichts der fast identischen Uhrzeit, zu der ich in meine kleine Zweizimmerwohnung zurückkehrte, in die ich nach unserer Trennung gezogen war, nicht allein, ich war nicht allein - mit wem ich zusammen war, spielt keine Rolle, darum geht es hier nicht -, dürfte es zwanzig nach eins, höchstens halb zwei morgens gewesen sein, als Marie und ich in dieser Nacht in Paris Liebe machten" - es ist, als renne man neben dem Autor und als rufe e
Am Ende der verhängnisvollen Nacht werden die Bilder, die sich alle voneinander machten, immer unschärfer, alles ist dunkel; der Bildschirm des Laptops hat sich abgeschaltet, nur die blaue Kontrolllampe brennt und wirft ihr hartnäckiges, nichts erhellendes Licht auf das Chaos der Dinge; eine Szene, in der der Bildtheoretiker, der Jean-Philippe Toussaint seit Romanen wie "Der Photoapparat" auch ist, durchscheint.
Toussaint hat den Prozess des Verliebens einmal mit einem grippalen Infekt verglichen, man merke irgendwann, da ist es aber schon zu spät, dass die Nase läuft, der Kopf heißer, man selbst matter und wehrloser wird. Viele Szenen seiner Romane sind Fragmente einer Sprache der Liebe. "Liebe heute" heißt eine Erzählungssammlung von Maxim Biller. Es wäre auch ein möglicher Titel für Toussaints großen Roman "MMMM", für das, was die über Flugplätze, durch asiatische Retortenstädte, gläserne Kongresshallen und marode Einkaufszentren taumelnden Figuren eigentlich suchen.
NIKLAS MAAK
Jean Philippe Toussaint: "MMMM". Eine Romantetralogie. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, 600 Seiten, 28 Euro. Der Autor liest am 10. Oktober in der Villa Clementine in Wiesbaden und am 13. Oktober um 18.30 Uhr in der Evangelischen Akademie in Frankfurt.
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
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