Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein halbwegs stabiles System entstand in den zentralasiatischen Sowjetrepubliken
Seit dem Ende des Kalten Krieges hat das deutsche Interesse an Russland sträflich nachgelassen. Während der Ukraine-Krise wurde dem Auswärtigen Amt bewusst, dass der Politik die Fachleute fehlen. In Anbetracht dessen bietet eine Buchbesprechung über ein Kapitel russischer Geschichte, das bis in das derzeitige Weltgeschehen hineinreicht, zu folgendem sachbezogenen Hinweis passende Gelegenheit: Die Diplomatie des Kremls steht unter mehreren Vorzeichen. Man denkt dort vor historischem Hintergrund - und da Russland kein Nationalstaat ist, in Kontinuität zu den Zaren, in imperialen Kategorien. Moskau hat seine westliche und östliche Hemisphäre zielgerichtet zu einem Gesamtorganismus verwoben.
Daran erinnert in einem geschichtlichen Rückgriff eine Studie über Stalins Herrschaft in Zentralasien. Diese Region ist ein ethnisch, religiös und geopolitisch heterogenes Konstrukt, das auf seine Einzelelemente hin kaum zu durchleuchten ist. Gemeint sind die bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion existenten Sowjetrepubliken Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan und Kasachstan. Die Zaren hatten das Land zwischen den Flüssen Amudaria und Syrdaria nicht integriert, sondern kolonisiert.
In den Revolutionswirren zeigte Russland an seiner östlichen Peripherie Separations- und innere Erosionserscheinungen, denen Stalin mit allen Mitteln der Gewalt entgegentrat. Führende Funktionäre waren sich allerdings mit ihm darin einig, dass eine Kolonisierung Zentralasiens nicht mehr in Frage kam. Notwendig erschien ein perspektivisches "Befriedungsprogramm", das Christian Teichmann in all seinen Schwächen und Erfolgen darlegt. Demzufolge entschied der Diktator sich für ein Konzept, das die Revolution mit dem im Aufbau befindlichen arbeitsteiligen Gefüge innerhalb der Sowjetunion bündelte.
Die von Lenin initiierte zentrale Elektrifizierung sollte bereits den Zusammenhalt der Sowjetrepubliken bewirken. In diesem Kontext schuf Stalin ein Geflecht von Verkehrsverbindungen, wie der Weißmeer- und der Moskau-Wolga-Kanal eindrucksvoll demonstrieren. Diese Verkehrskommunikation bildete wiederum eine der Voraussetzungen für angestrebte regionale wirtschaftliche Monostrukturen, die die Sowjetunion der angestrebten Autarkie näher bringen und nicht zuletzt die Koordinationsautorität des Kremls stärken sollten. Und endlich blockierte diese regionale wirtschaftliche Schwerpunktsetzung die Unabhängigkeitsbestrebungen nichtrussischer Ethnien, weil ihnen die Vielfalt ökonomischer Bedingungen zur Eigenstaatlichkeit fehlte.
Was Zentralasien betrifft, so verfügte Stalin die technologische Nutzung der Naturkraft, wenn er auf ein gigantisches Bewässerungssystem zur Monopolisierung des Baumwollanbaus setzte. Die Belieferung der westrussischen Textilindustrie bedeutete das Einfügen Zentralasiens in das nach Aufgaben gesplittete Sowjetsystem mit Scharnierfunktion Moskaus.
Intentionen in Kontrast zu Reaktionen der Bevölkerung, Anstrengungen und technische Fehlschläge, idealistischer Einsatz und bürokratisches Chaos sind ein realistisches Bild Stalinscher Politik in Zentralasien. Das Konzept des Kremls stellte nicht in Rechnung, dass der in Zentralasien dominante Islam sich der Bolschewisierung gegenüber als partiell resistent erwies. Zudem fehlten der Revolution die Industriearbeiter als Massenbasis. Man erfährt, dass die Landbevölkerung sich weitgehend passiv bis oppositionell gegenüber den Moskauer Eingriffen verhielt, die die Kollektivierung einschlossen sowie die Auflösung tradierten Eigentums und bestehender Sozialsysteme. Selbst überzeugte einheimische Revolutionäre fühlten sich an die koloniale Ausbeutung der Zarenzeit erinnert, in der Russland bereits weltweit den fünften Rang unter den Baumwollproduzenten einnahm. Der Strategie der Bündelung von bolschewistischer mit technoökonomischer Expansion zur Sicherung des Herrschaftsbereichs war nur auf lange Sicht Erfolg vergönnt. In der Kombination von revolutionärem Elan und staatsterroristischem Druck mittels einer "Modernisierungsdiktatur" gelang es Stalin erst nach Jahrzehnten, ein halbwegs stabiles System zentralasiatischer Sowjetrepubliken zu installieren.
Der Autor dieser Studie regt zum Brückenschlag zwischen Geschichte und Gegenwart an. So betrachtet, kollidierte Stalins Revolutionsimperialismus mit dem englischen Kolonialimperialismus gegenüber Afghanistan. Die Moskauer Politik erwies sich aber erst 1978 mit der Ausrufung der kommunistischen Demokratischen Republik Afghanistan als zeitweilig erfolgreich. Als eine von den Vereinigten Staaten, den Saudis und Pakistan unterstützte islamische Guerrilla Widerstand leistete, marschierten russische Truppen ein. Sie mussten 1992 abziehen, als die Mudschahedin Kabul einnahmen. Mit deren zunehmender Islamisierung wurden die Vereinigten Staaten mit ihren Verbündeten die Geister, die sie riefen, nicht mehr los. Aber auch die Nato wusste bei Teilnahme der Bundeswehr das Land nicht zu befrieden, wie die afghanischen Asylsucher ins Bewusstsein rufen.
Stalins Politik des ökonomischen Teilens und Herrschens birgt noch heute aktuell erkennbare Gefahren. Der ökonomische Patchwork-Teppich der Sowjetunion stellte sich während der Perestrojka als eine Gefahrenquelle für den Zusammenhalt Russlands dar. War ein Erosionsprozess wie 1991 erst einmal in Gang gekommen, rissen Fäden gesamtstaatlicher Vernetzung. So wird verständlich, welche versorgungswirtschaftliche Einbuße das Wegbrechen der Ukraine als Kornkammer des russischen Reichs bedeutet und welche ökonomischen Schwierigkeiten die Ukraine bei ihrer absoluten Energieabhängigkeit von Russland und ihrer landwirtschaftlichen Monostruktur zu überwinden hat.
HANS-ERICH VOLKMANN
Christian Teichmann: Macht der Unordnung. Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920-1950. Hamburger Edition, Hamburg 2016. 287 S., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main