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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Viktor Mayer-Schönberger und Thomas Ramge gehen mit der europäischen Internetpolitik ins Gericht
Der Befund ist nüchtern: Europa ist eine Datenkolonie. "Nicht Emmanuel Macron oder Angela Merkel entscheiden darüber, welche Informationen von wem wie zur Bekämpfung der (Covid-19-) Pandemie in Europa genutzt werden können", so Viktor Mayer-Schönberger und Thomas Ramge in ihrem neuen Buch, "Diese Entscheidung treffen stattdessen die Manager Tim Cook und Sundar Pichai."
Souverän mag sein, wer den Ausnahmezustand deklarieren kann, aber wenn er das wichtigste Kommunikationssystem nicht mehr in der eigenen Hand hat, wird ihn niemand dabei hören. Viktor Mayer-Schönberger, Jurist, Ex-Unternehmer und Experte für Internetregulierung, ist kein Mann, der sich leichtfertig dem Alarmismus hingibt. Kühl referieren er und sein Ko-Autor, der Wissenschaftsjournalist Thomas Ramge, das Scheitern der jüngeren deutschen und europäischen Digitalpolitik.
Mayer-Schönberger und Ramge sehen Europa zwischen den Vereinigten Staaten und China, zerrieben. Die ursprünglich britische Firma ARM, deren Technologie in allen modernen Prozessoren für Mobiltelefone steckt, wurde erst an den japanischen Konzern Softbank, dann an die amerikanische Firma Nvidia verkauft. Nokia, einst scheinbar unangreifbarer Mobiltelefonie-Weltmarktführer, ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Die Europäer, die mit GSM einen der erfolgreichsten technischen Kommunikationsstandards aller Zeiten gesetzt haben, sehen sich nun von dem chinesischen Konkurrenten Huawei in Sachen Mobilnetzausrüstung schwer bedrängt.
Was die üblichen Verdächtigen Apple, Facebook, Google, Microsoft und Amazon angeht, so sehen die Autoren sie - erfrischend direkt - nicht nur als erfolgreiche Unternehmen, sondern eben auch als außenpolitische Instrumente, die gegen die Interessen Deutschlands und der Europäischen Union gerichtet sind. Die Grundlagen für ihr Scheitern aber hätten die Europäer in Politik und Industrie selbst gelegt. Unsere Automobilkonzerne kooperieren lieber mit Apple und Google, anstatt die von ihren Fahrzeugen generierten Daten systematisch selbst auszuwerten. Das mehrheitlich von deutschen Autoherstellern betriebene Geodatensystem Here.com führe ein Schattendasein neben den Karten- und Navigationsdiensten von Apple und Google.
Als Paradebeispiel für verfehlte Internetpolitik betrachten Mayer-Schönberger und Ramge aber die EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Eigentlich dazu gedacht, den Menschen in Europa die Kontrolle über die eigenen persönlichen Daten zurückzugeben und nebenbei Datensammlern wie Google und Facebook die Giftzähne zu ziehen, habe sie genau das Gegenteil bewirkt: "Das hehre Ziel, dass Daten nur mit Zustimmung der Betroffenen verarbeitet werden dürfen, schlug im Datenkapitalismus leider auf der Butterseite auf. Wir sind nicht informationell selbstbestimmt, haben aber die Nutzungsrechte an maschinenlesbaren Informationen an US-Unternehmen abgegeben." Man könnte aus der Praxis noch hinzufügen, dass der Jurist Max Schrems die Durchsetzung dieser Rechte zu seiner Lebensaufgabe machen musste und sich seit Jahren quer durch die jeweils zuständigen europäischen und nationalstaatlichen Instanzen klagt - die meisten Zeitgenossen drücken stattdessen dann doch lieber "OK" auf dem Cookie-Banner und fangen sich die nächsten 500 Datensauger ein. Facebook und Google aber wirtschaften weiter wie bisher.
Mayer-Schönberger warnt davor, Datenpolitik in dieser Situation mit den Mitteln klassischer Industriepolitik betreiben zu wollen, nach dem Motto: Geben wir der Industrie einfach sehr viel Geld, und sie wird eine Datenplattform bauen, so wie sie einen Airbus gebaut hat. Als Beispiel dafür nennt er das von der Bundesregierung geförderte Projekt GAIA-X, aus dem eine europäische Dateninfrastruktur entstehen soll, die es mit den Angeboten von Google, Amazon und Microsoft aufnehmen können soll: "Das ist ein hehres Ziel, aber steuerfinanzierte ,dumb pipes' führen nicht dorthin."
Anstelle von DSGVO und Airbus-ähnlichen Megaprojekten schlagen Mayer-Schönberger und Ramge eine "Datennutz-Grundverordnung" vor, die verhindern soll, dass eine Handvoll Großkonzerne aus ihren unter Verschluss gehaltenen Datensilos Monopolrenten abschöpft. Google soll teilen lernen: "Jedes Unternehmen, das auf dem europäischen Markt tätig ist, muss allen Zugang zu seinen Daten gewähren. Wer das nicht möchte, darf in Europa weder Geschäfte machen, noch bekommt er oder sie legalen Zugriff auf den europäischen Datenraum. Die in Europa zu teilenden Daten müssen natürlich von persönlichen Merkmalen befreit werden. Selbstverständlich sind Informationen ausgenommen, die ausdrücklichen gesetzlichen Geheimhaltungspflichten unterliegen. Dazu zählen etwa Daten, aus denen sich Geschäftsgeheimnisse oder direkte Rückschlüsse auf die wirtschaftliche Situation des datenteilenden Unternehmens ziehen lassen."
Der europäische Datenraum, den Mayer-Schönberger und Ramge vorschlagen, ist dem Gedanken der digitalen Allmende, der "Commons", verpflichtet, dem wichtigsten Stützpfeiler einer "Kultur der Digitaltität", wie sie in Felix Stalders gleichnamigem Buch skizziert wird. Wenn anonymisierte Daten frei und ohne zeitliche Beschränkung geteilt werden können, dann steigt ihr Nutzen exponentiell, weil sie sich zu immer neuen Zwecken rekombinieren lassen. Geodaten der Verwaltung können etwa in die Produktion der freien digitalen Weltkarte Openstreetmap einfließen, die wiederum als Grundlage für Navigationsanwendungen aller Art dient. Auch im Kontext von Covid-19 spielen das Netz und seine Tradition der Commons eine positive Rolle: Das Genom des Virus wurde von chinesischen und australischen Wissenschaftlern enorm schnell erfasst und für alle Wissenschaftler frei verfügbar übers Internet zur Verfügung gestellt, was wiederum die Entwicklung von Impfstoffen begünstigt.
Auch die EU-Kommission hat den enormen Wert der Commons erkannt. Im Juli 2019 ist die Richtlinie zu Open Data und Public Service Infrastructure (PSI) in Kraft getreten, die den Behörden der Mitgliedstaaten einen neuen Rechtsrahmen zur Veröffentlichung und Weiterverwendung offener Daten gibt. Die Umsetzungsfrist läuft bis Juli 2021. Der Gedanke der Interoperabilität und die Möglichkeit, Daten jederzeit ohne den gefürchteten Vendor Lock-In von einem Anbieter zum anderen migrieren zu können, findet sich auch in der DSGVO. Bleibt die Frage, ob eine EU, die es kaum schafft, gegen den Einspruch einzelner Mitgliedstaaten wie Irland oder den Niederlanden eine faire Besteuerung von Amazon und Co durchzusetzen, handlungsfähig genug ist, den von den Autoren imaginierten Datenraum zu schaffen.
Wünschenswert wäre es, zumal sich die Autoren von "Machtmaschinen" ausdrücklich gegen Isolationismus und Neonationalismus wenden: Wer die Regeln der EU befolgt, der kann am neuen Datenwohlstand teilhaben. Freilich hat der Plan auch zahllose Tücken, so hindert niemand Facebook daran, seinen Social Graph zum Geschäftsgeheimnis zu deklarieren, das nicht geteilt werden muss. Aber als lösungsorientierter Diskussionsbeitrag, der die Probleme Europas ernst nimmt, ohne in Untergangsstimmung zu verfallen, ist "Machtmaschinen" eminent lesenswert.
GÜNTER HACK.
Viktor Mayer-Schönberger und Thomas Ramge: "Machtmaschinen". Warum Datenmonopole unsere Zukunft gefährden und wie wir sie brechen.
Murmann Verlag, Hamburg 2020. 208 S., geb., 20,- [Euro].
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