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Teresa Präauers alternative Mädchenerzählung
Dichter und Kinder teilen eine Gemeinsamkeit. Sie nehmen das Spiel der Phantasie so ernst wie die Wirklichkeit. Sigmund Freud führte diese Einsicht zu dem Schluss: "Der Gegensatz zum Spiel ist nicht der Ernst, sondern die Wirklichkeit." Um 1900 mag der Gegensatz zwischen Tatsachen und dem Als-ob noch klar gewesen sein. Heute muss man konstatieren: Die Ernsthaftigkeit ist geblieben, die Trennung zwischen Wirklichkeit und Fiktion indes wirkt verschwommen. Wenn die österreichische Autorin Teresa Präauer in ihrer Erzählung "Das Mädchen" ihre Kindheitserinnerungen entspinnt, überlagern sich von Beginn an in größter Ernsthaftigkeit Realität und Fiktion.
So nimmt die Erzählung ihren Ausgangspunkt bei der Beobachtung eines Jungen: "Wir beginnen mit einem neunjährigen Kind, einem Jungen, ausgerechnet hier und jetzt. Ich habe ihn nicht in die Welt gesetzt, er wurde vom Universum geschickt." Wenn hier etwas geschickt erscheint, dann das Geschick der Erzählerin, in die Opposition von Finden und Erfinden, einen Zwischenraum einzurichten, in dem die Phantasie ihre Flügel spreiten kann. Denn während die Erzählerin den Jungen begleitet, wie er "sich täglich im Umgang mit Feuerwaffen, Lichtschwertern, Umhängen, Hüten und Federschmuck" übt", entfaltet sie gleichzeitig eine alternative Mädchenerzählung. Die Beobachtung des Spiels lässt die Erinnerung nicht einfach Vergangenes aufrufen. Vielmehr verbindet sie die Gedächtnisarbeit direkt mit der Frage, inwiefern sich Jungen- und Mädchenerfahrungen von Beginn an unterscheiden oder annähern.
Schnell avanciert der Satz "Wer über das Mädchen nachdenkt, denkt über Anfänge nach" zum Refrain. Präauers Mädchen-Erinnerung besteht aus einer kunstvollen Umkreisung der Anfänge. Die vergilbten Schnappschüsse im väterlichen Fotoalbum erlauben ein vorsichtiges Herantasten an die Achtziger- und Neunzigerjahre. Die Bildwelten überlagern sich mit Reflexionen und vielseitigen Lektüre-Eindrücken zu einem mädchenspezifischen Resonanzraum. Letzterer schließt Silvia Bovenschens Klassiker "Die imaginierte Weiblichkeit" ebenso ein wie Irmgard Keuns "Als ich Bazillenträger war" oder auch Annie Ernaux' "Erinnerung eines Mädchens".
Von diesen Vorbildern übernimmt Präauer Schreibweisen der Selbstbegegnung, um sie selbst zu erproben: "Das Mädchen auf dem Foto bin nicht ich, aber sie ist auch keine Fiktion. Über niemanden sonst weiß ich so viel, niemanden sonst kenne ich so gut, weshalb ich zum Beispiel sagen kann / dass sie das Ausweisfoto an einem Nachmittag in den Winterferien hat machen lassen." Aus diesen Faltungen des Selbst eröffnet sich die Möglichkeit, den fremden Zuschreibungen und Mustern eine eigenständige Mädchen-Memoria abzugewinnen. Präauer hat ihre im Jahr 2021 gehaltene Zürcher Poetikvorlesung in ein kindlich ernstes Phantasiespiel gewandelt. CHRISTIAN METZ
Teresa Präauer: "Das Mädchen". Erzählung.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 78 S., geb., 16,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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