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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die meisten Dinge gehen tiefer als Hautfarben: Bernardine Evaristos Roman "Mädchen, Frau etc."
Zu sagen, dieses Buch handele von zwölf schwarzen Frauen, trifft es nicht ganz, denn die Grenzen sind fließend. Ist man eine Frau, wenn man sich selbst nicht als solche sieht? Und ist man schwarz, wenn man erst in höherem Alter seine Vorfahren ausfindig macht, weil man als uneheliches, ungewolltes Kind weggegeben wurde - so war das eben damals, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts - und sich immer ein wenig gewundert hat, warum man in der Sonne viel schneller braun wird als alle anderen? Ein Leben lang hielt man sich für eine brave langweilige Engländerin, und dann das. Wenn es um Menschen geht, diese Spezies, bei der die Vielfalt im evolutionären Programm angelegt ist, kommt man mit Dichotomien nicht weit.
Es ist nicht immer alles so einfach. Bernardine Evaristo selbst ist Tochter einer englischen Lehrerin mit irischen und deutschen Vorfahren und eines nigerianischen Schweißers und ersten schwarzen Stadtrats des Bezirks Greenwich. Der Vater stammt von der brasilianischen Einwanderergruppe der Aguda in Nigeria ab, befreiten Sklaven, die im neunzehnten Jahrhundert zurück nach Afrika migriert sind und einen afrobrasilianischen Kulturmix im Gepäck hatten. Die Familiengeschichte nachzuverfolgen kann ein Ansatz sein, um Menschen und dem, was sie umtreibt, näherzukommen. Und das ist auch der Ansatz, den Evaristo in ihrem Buch "Mädchen, Frau etc." wählt.
Die Figur, die den Roman eröffnet und das Personal erzählerisch bündelt, ist Amma, Regisseurin und Theaterschriftstellerin. Wir begegnen ihr an einem Tag in London, als sie an der Themse entlanggeht, in gespannter Erwartung, denn am Abend soll ihr neues Stück "Die letzte Amazone von Dahomey" Premiere feiern, eine Art Königsdrama aus dem alten Westafrika. Ziemlich viele der Figuren im Buch werden zu diesem Premierenabend erwartet, andere werden nicht erwartet und kommen trotzdem.
Amma hat eine Karriere als Aktivistin und Hausbesetzerin hinter sich - "Protest, glaubten sie, müsse öffentlich sein, penetrant und absolut nervtötend für die, denen er galt" -, bis nach vielen höflichen Absagen der Durchbruch am National Theatre kam. Inzwischen ist Amma eine feste Größe des öffentlichen Kulturlebens. Ihre Latzhosen und Palästinensertücher hat sie durch einen "Verrückte-Alte-Look" ersetzt, wie ihre Tochter indigniert zur Kenntnis nimmt und sie anfleht, zu Marks & Spencer zu gehen wie jede andere normale Mutter auch. Amma definierte sich lange darüber, gegen das Establishment zu kämpfen. Nun ist sie selbst etabliert und muss sich an ihre neue Rolle erst gewöhnen.
Diese eigenwillige Amma hat zwei beste Freundinnen. Einmal die Lehrerin Shirley, die von Ammas Künstlerfreunden immer als bieder und langweilig abgetan wird, aber an ihrer Schule in einem sozial herausgeforderten Viertel in kleinem Rahmen Großes leistet, was ihr nicht immer gedankt wird. Und Dominique, die sich vor Jahren mit einer lesbischen Radikalfeministin einließ, die mit ihr ein unabhängiges, autarkes Leben in der amerikanischen Prärie führen wollte und am Ende manipulativer und brutaler war als die meisten der Patriarchen, die sie eigentlich so verachtet.
Zwölf Menschen also, denen man hier näherkommt, zwölf Biographien, zwölf Leben vom späten neunzehnten Jahrhundert bis ins frühe einundzwanzigste. Evaristo erzählt von Frauen, die in England nie Wurzeln schlagen konnten und stets fremd blieben, und von solchen, die britischer sind als jeder Cockney. Sie sind arm und reich, avantgardistisch im Denken und Handeln oder leben unauffällig vor sich hin und vermeiden jede Aufregung. Sie leben in der Stadt oder auf dem Land, haben Glück oder Pech, sind erfolgreich oder nicht, willensstark oder nicht so sehr. Ein ganzes Kaleidoskop an Figuren und Blickwinkeln also, und jeder Blick bereichert das Gesamtbild um eine neue Facette. Gemeinsam ist den Figuren, dass sie "of colour" sind, also eingewandert oder von Einwanderern abstammend - oder auch von schönen fremden Seeleuten ferner Kontinente und allzu arglosen englischen Mädchen, die sich in einem unvorsichtigen Moment auf sie einließen.
Dass Evaristo diese Szenen mit viel Einfühlung und leichtem Humor erzählen kann, spricht sehr für sie und dieses Buch. Überhaupt ist es in den erzählten Passagen am stärksten und immer dann, wenn es Orte, Zeiten und Soziotope beschreibt, die einem als Leser fremd sind. Etwa das Leben der Seemannstochter Grace, halb Engländerin, halb Abessinierin (vermutlich), mit der das Schicksal es gut meint, obwohl sie im Heim aufwächst und weiß Gott komplizierte Startbedingungen hat. Das Schicksal schickt ihr den rothaarigen Gutsbesitzer Joseph über den Weg, und alles scheint gut, wäre da nicht die Nachwuchsplanung, die erst ihn und dann sie aus der Bahn wirft. Wie die beiden sich zusammenraufen, wie sie die Tochter Hattie aufziehen, das ist mit viel Wärme und Wissen geschrieben und hat wenig mit Hautfarben zu tun, weil manche Dinge, womöglich sogar die meisten, viel tiefer gehen.
Am schwächsten ist das Buch in einigen Dialogen. Mitunter legt Evaristo ihren Figuren Positionen und Diskurse in den Mund und lässt sie darüber allzu hölzern debattieren. Aber das passiert zum Glück selten. Auch erlaubt sich die Übersetzerin einige Ausreißer, etwa den leidigen Vergleich von dunkleren Hauttönen mit Kolonialwaren, was durch das neutraler formulierte Original nicht gedeckt ist. Aber das sind zum Glück Ausnahmen. Tanja Handels, die auch schon Zadie Smith übersetzt hat, gelingt es insgesamt gut, die Sogwirkung von Evaristos eigenwilliger Prosa zu übertragen.
Denn die Form hat es durchaus in sich. Nicht nur das Spiegelkabinett der Kapitel, das sich zu einem Gesamtbild zusammensetzt, ist bemerkenswert, sondern auch die Struktur innerhalb der Kapitel. Sätze gib es nicht, dafür viele Absätze, die den Erzählfluss gliedern und sich meist an eine Satzstruktur anlehnen, aber manchmal eben auch nicht. Manchmal stehen auch Wörter oder Namen isoliert da. Abschrecken lassen sollte man sich davon nicht, denn diese Sprache zieht einen in das Buch hinein wie ein betörender Gesang, und nach spätestens zwei Kapiteln versteht man den Rhythmus und kann sich ihm kaum mehr entziehen.
Viele hatten Evaristo nicht unbedingt auf dem Zettel, als sie im Jahr 2019 zusammen mit Margaret Atwood den Booker-Preis zugesprochen bekam. Dabei ist sie beileibe kein Neuling im Geschäft, sondern Theatermacherin, Professorin für Kreatives Schreiben und Autorin von insgesamt acht Büchern, von denen bislang allerdings noch keines ins Deutsche übersetzt worden war. Womöglich schien die Sprache den Verlagen auf den ersten Blick zu experimentell. Dieses ist das erste, das man hierzulande lesen kann, womöglich das ambitionierteste und sicher erfolgreichste. Das letzte wird es mit Bestimmtheit nicht bleiben.
Hautfarbe, so die Erkenntnis am Ende der gut fünfhundert Seiten, sagt erst einmal noch nicht besonders viel über einen Menschen. Das klingt redundant, ist aber angesichts der kaum auszurottenden stereotypen Darstellungen sogenannter Quotenminderheiten leider immer noch nötig. Wenn diese Einsicht allerdings am Ende eines Buches steht, das weitgehend auf erhobene Zeigefinger verzichtet und stattdessen auf Formwillen, Leichtigkeit, Wärme und Humor setzt, ist das keine ganz schlechte Bilanz.
ANDREA DIENER
Bernardine Evaristo: "Mädchen, Frau etc.". Roman.
Aus dem Englischen von Tanja Handels. Tropen-Verlag, Stuttgart 2021. 512 S., geb., 25,- [Euro].
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