Matthias Jügler zeichnet das bewegende Porträt eines traumatischen Verlustes, erzählt von folgenschweren Zweifeln, von der Kraft des Neubeginns und dem heilsamen Erleben der Natur. Ein feinsinniger Familienroman über ein dunkles Kapitel ostdeutscher Geschichte. - »Wahrhaftig und voller Hoffnung.« Anne Rabe
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Matthias Jügler erzählt in "Maifliegenzeit" eine imaginäre Geschichte, die jedoch auf realen Ereignissen beruht: Zweitausend angeblich kurz nach der Geburt in der DDR gestorbene Kinder werden heute von ihren Eltern gesucht. Sie sollen an kinderlose fremde Ehepaare weitergereicht worden sein.
Von Melanie Mühl
Den dritten Roman von Matthias Jügler sollte man auf der letzten Seite zu lesen beginnen. In der Nachbemerkung offenbart sich das Ausmaß dieser ungeheuerlichen Geschichte, denn der Roman basiert auf historischen Begebenheiten. "Seit einigen Jahren ist nachgewiesen, dass es in der DDR Fälle von vorgetäuschtem Säuglingstod gab", heißt es dort. Den leiblichen Eltern gegenüber wurden die Säuglinge für tot erklärt und zur Adoption an fremde Eltern gegeben. Es sei unklar, wie viele Kinder davon betroffen gewesen seien. "Aufgeklärt sind zum heutigen Zeitpunkt drei solcher Verbrechen, die Zahl der Verdachtsfälle liegt jedoch bei 2000." Zweitausend gestohlene Kinder, deren Eltern in die größte aller Tragödien gestürzt wurden: das eigene Kind zu verlieren, kaum dass es geboren worden ist.
Der Ich-Erzähler in Jüglers Roman "Maifliegenzeit" heißt Hans, ist Rentner, leidenschaftlicher Angler, er lebt in der Nähe von Leipzig und führt eine glückliche Beziehung. Die Vergangenheit hat er in einem hinteren Winkel seines Seelenlebens versteckt. Bis eines Tages ein Anruf kommt. Er ist beim Angeln, und Anne, seine Partnerin, nimmt den Hörer ab. Daniel ist dran, Hans' Sohn.
Vierzig Jahre sind seit dem traumatischen Verlust vergangen, und auch Katrin, Daniels Mutter, ist längst tot. Hans und sie lernten sich im Studium kennen, sie waren zwanzig, verliebt, zukunftsfroh. Als Katrin schwanger war, träumten sie schon von einem zweiten, einem dritten Kind. Doch dann, einen Tag nach der Geburt, tritt die Ärztin ins Krankenzimmer und überbringt jene Nachricht, die zwei Welten zusammenstürzen lässt: Daniel sei auf dem Weg ins Kinderkrankenhaus nach Jena verstorben. Das Herz sei zu schwach gewesen, es tue ihr leid. Ein Schicksalsschlag, bei dem man annehmen könnte, dass die Betroffenen ihren Schmerz nun teilen, einander Halt geben, gemeinsam trauern. Aber nichts davon geschieht, und so folgt auf die eine Tragödie gleich eine zweite, nämlich die der Entfremdung. Hans verfällt in eine Art Schockstarre, als fröre er ein, während Katrin an der Darstellung der Ärztin zweifelt. Sie hatte, von der Narkose nicht gänzlich betäubt, die Schreie ihres Sohnes gehört, laut und kräftig, die Schreie eines gesunden Kindes. Sie ist sich sicher, dass etwas faul ist, aber Hans will davon nichts wissen. Er hebt das Grab für seinen Sohn aus, den weder er noch Katrin je im Arm gehalten haben.
Jüglers Ton ist Pathos fremd, nüchtern und umso eindrucksvoller lässt er seinen Ich-Erzähler berichten, was ihm widerfahren ist. So funktioniert effizientes Erzählen auf knapp 160 Seiten, dass sich weder mit Nebensächlichkeiten aufhält, noch dem Rausch der eigenen Formulierungskunst erliegt.
Matthias Jügler wurde 1984 in Halle geboren, womit er wie die Autorinnen Anne Rabe und Charlotte Gneuß zu jener Generation der Nachgeborenen gehört, die in ihren Werken über die DDR schreiben, ohne sie selbst erlebt zu haben. Ihre Quellen sind Geschichtsbücher, Archivfunde, Familienerzählungen, Schicksale aus zweiter und dritter Hand, preisgegeben von Menschen, die ihre Lebensgeschichten erzählen möchten, ja müssen. Nur allzu gut in Erinnerung ist jene vergangenes Jahr entbrannte Debatte über die Frage, wer wie über die DDR und deren Unrechtsregime, über Gewalt- und Willkürherrschaft schreiben darf, wer wirklich authentisch erzählen kann, kurz: wer die Diskurshoheit hat. Dabei lautet die entscheidende Frage ja: Wem gelingt es, literarisch überzeugend dunkle Stellen deutscher Vergangenheit auszuleuchten und die Erinnerung daran wachzurufen, dass alle Vergangenheit stets Gegenwart ist - Stichwort transgenerationale Traumata. Das düstere Erbe der DDR wirkt fort. Matthias Jügler jedenfalls gelingt es, das Ungeheuerliche zu erzählen.
Kurz nach Mauerfall beantragt Hans Einsicht in die Krankenhausakten von Katrin und Daniel, aber die Ärzte speisen ihn mit fadenscheinigen Antworten ab. Wieder lädt Hans Schuld auf sich: das Versäumnis, diesem so offensichtlichen Verbrechen nachzugehen, das ihm nicht nur seinen Sohn, sondern auch seine Liebe Katrin genommen hat. Es dauert bis zum Jahr 2007, erst da rafft sich Hans, von Anne dazu gedrängt, zu einem neuen Anlauf auf.
Die Maifliegenzeit beginnt am Oberlauf der Unstrut um Pfingsten herum, und über dem Wasser schwirren dann Tausende Maifliegen, ein Schauspiel, dass Hans fasziniert, wie er überhaupt in der Natur Halt findet. Die Maifliegen sind Künstler der Tarnung. "Sie bevölkern mindestens ein Jahr lang den Grund unserer Flüsse und Bäche in so hoher Zahl, dass man es sich kaum vorstellen kann. Aber nur, weil sich etwas dem Blick so konsequent entzieht, heißt das nicht, dass es nicht existiert."
Auch Daniel existiert, aber er heißt Martin, das ist der Name, dem ihm seine Adoptiveltern, die inzwischen tot sind, gegeben haben. Als Hans im Haus seines telefonierenden Sohnes auf ihn wartet, dem imposanten Haus eines beruflich sehr erfolgreichen Mannes, fällt sein Blick auf eine Reihe gerahmter Fotos an der Wand. Sie zeigen seinen Sohn, Seite an Seite mit einer Frau und einem Mann, beide sympathisch, es sind die Adoptiveltern. An ihrer Stelle hätten er und Katrin stehen müssen. Ein paar Fotos, die von einem unwiederbringlich verlorenen Leben zeugen, um das die leiblichen Eltern von einem diktatorischen Staat betrogen worden sind.
Matthias Jügler: "Maifliegenzeit". Roman.
Penguin Verlag, München 2024.
160 S., geb., 22,- Euro.
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