Es ist spät geworden, die meisten Büros am Quai des Orfèvres sind verwaist. Nur bei Kommissar Maigret bullert noch der Kanonenofen. Endlich findet er die Zeit, einen längst überfälligen Bericht zu schreiben, was ihn einige Mühe kostet: Zahlreiche leere Biergläser säumen bereits seinen Schreibtisch. Im Büro mischt sich der Pfeifenrauch mit dem Nebel der Novembernacht. Da bekommt er überraschend Besuch: Eine junge Frau, deren Blässe durch ihre schwarze Kleidung noch betont wird, bekennt sich eines Mordes für schuldig. Ein dringendes Telefonat ruft Kommissar Maigret ins Nebenzimmer. Als er zurückkehrt, ist die Frau verschwunden. Maigret wird sie wiederfinden - in einem »anständigen« Wohnhaus in Montreuil, einem Vorort von Paris. Mühsam halten die Bewohner eine bürgerliche Fassade aufrecht, alle haben sie etwas zu verbergen. Und alle haben sie Angst. Denn einer der Bewohner ist tot - er wurde ermordet.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.04.2019Der Fall
Null
Maigret und
die Masken Simenons:
Der frühe Roman
„Das Haus der Unruhe“
wurde erstmals
ins Deutsche übersetzt
VON LOTHAR MÜLLER
Lange war der Vielschreiber eine verächtliche Figur. Erst mit der modernen Presse, dem Fortsetzungsroman und der Ausweitung des Lesepublikums begann er zu einem Autortyp zu werden, der selbst ein Genie sein konnte statt nur dessen Gegenbild. Balzac und Dickens schadete es nicht, dass sie Fortsetzungsromane schrieben, ihr Heroismus der Produktion im großen Stil war dem Zeitalter der Maschinerie und großen Industrie ebenbürtig.
Im zwanzigsten Jahrhundert hat kaum ein Autor mehr für die Aufwertung des Vielschreibers getan als der Belgier Georges Simenon, der Mann mit der Schreibmaschine, der bisweilen achtzig Seiten am Tag schrieb. Im Vielschreiber steckt das Prinzip der Serie. Er schließt Verträge nicht für ein Buch, sondern für mindestens zehn. Georges Simenon, der in jungen Jahren zu schreiben begann, war von Beginn an vom Rhythmus der seriellen Produktion durchdrungen. Und er wurde zum Vater eines der erfolgreichsten Serienhelden der modernen Literatur. In vielen schnell geschriebenen Kolportageromanen, die ohne Liebesabenteuer kaum auskommen konnten, nahm er Anlauf, ehe er sich mit der Figur des Kommissar Maigret das Genre des Kriminalromans aneignete und es eroberte.
Jetzt ist im Rahmen der großen Simenon-Offensive des Zürcher Kampa Verlags zum ersten Mal „La Maison de l’Inquiétude“ ins Deutsche übersetzt worden, einer der Romane, in denen Maigret seine ersten Auftritte hatte. Er erschien zum ersten Mal im März 1930 als Fortsetzungsroman in der Tageszeitung L’Œuvre, als Buch erst 1932 in einer Krimireihe des Pariser Verlags J. Tallandier.
Hintergrund der Simenon-Offensive ist ein verlegerischer Coup. Der Diogenes Verlag hat die Simenon-Rechte 2017 an Daniel Kampa verloren, der selbst zwanzig Jahre bei Diogenes arbeitete, bevor er 2013 als Verlagsleiter zu Hoffmann & Campe nach Hamburg ging. Für den 2018 in Zürich neu gegründeten Kampa Verlag ist Georges Simenon der Schlüsselautor. Mehrere Bände sind bereits neu erschienen, mit Nachworten prominenter Autoren, manche in Neuübersetzungen.
Das Nachwort zu „Maigret im Haus der Unruhe“ hat Daniel Kampa selbst geschrieben. Es gibt Einblick in die Bemühungen der Philologen zu klären, wann um 1930 Simenon welchen frühen Roman geschrieben hat, in dem Maigret auftaucht und wann und wo genau „Pietr-le Letton“ (1931, dt. „Maigret und Pietr der Lette“), entstanden ist, den Simenon selbst zu seinem ersten Maigret-Roman erklärt und mit einer Ursprungslegende versehen hat, die längst widerlegt ist.
Einem Gedankenblitz, so viel ist sicher, ist Maigret nicht entsprungen, sondern dem unermüdlichen Erproben von Genrekonventionen. Die Verleger druckten durchaus nicht jedes Manuskript sofort, das Simenon ihnen anbot, es musste in das Verlagsprofil passen. „La Maison de l’Inquiétude“ erschien noch unter dem Pseudonym „Georges Sim“, das über Frankreich hinaus zu einem bekannten Markenzeichen geworden war. Maigret tauchte im Titel nicht auf, war aber zum ersten Mal die Hauptfigur.
Er muss einen Mord aufklären, dem in Montreuil, einem östlich gelegenen Vorort von Paris, ein ehemaliger Offizier der Handelsmarine zum Opfer gefallen ist. Aus dem Kapitän auf großer Fahrt ist längst ein gut situierter Pensionär geworden, Mitglied der Gesellschaft für Geschichte und Geografie und Bücherliebhaber. Maigret hat seinen Amtssitz schon am Quai des Orfèvres, auch den Ofen gibt es schon und die Pfeife. Einmal geht sie beim Nahkampf mit einem Verdächtigen zu Bruch, und es folgt ein Satz, der aufhorchen lässt: „Zwölf Jahre lang war diese Pfeife seine ständige Begleiterin gewesen. Etwa hundert Verhaftungen hatte sie miterlebt.“
Hier zeichnet sich ein Grundzug des Kommissars ab. Er ist von Beginn an ein Mann mittleren Alters, und man weiß, dass er eine schwere, massige Figur ist, der ein Leichtgewicht nicht beikommt. Maigret wird mit den mittleren Sphären im Bunde sein, ein besondres Faible für die kleinen Leute haben und selber ein Kleinbürger sein. Den Nahkampf hält er aus, aber er sucht ihn nicht. Am Ende dieses Romans wird sich seine Hand um den Revolver legen, aber er wird ihn aus der Hosentasche nicht hervorziehen. Er ist nicht der Mann der Distanzwaffen, sondern der Nähe. Sie sucht er, anders als den Nahkampf.
Ist die verwirrte junge Frau, die zu Beginn in einer Novembernacht am Quai des Orfèvres auftaucht und sich des Mordes bezichtigt, tatsächlich die Täterin? Es ist eine krude Mixtur, die Georges Sim in „La Maison de l’Inquiétude“ zusammengebraut hat. Ein altes Muster romantischer Schauererzählungen, das Doppelgängertum, gehört zu den Ingredienzien, und am Ende wird ein „Irrenarzt“ zur Auflösung des Falles beitragen. Er wird einen Wahnsinn enthüllen, in dem die Urängste der Kliniken des 19. Jahrhunderts spuken, die Drohungen des physiologischen Determinismus und der Erbkrankheiten.
Maigret ist schon hier ein Mann, der in die Mietshäuser, die Antiquitätengeschäfte Rue du Faubourg-Saint-Honoré, die Stundenhotels und billigen Absteigen geht, um ihr Aroma einzusaugen. Wer mit wem in einem Haus eine heimliche Liebschaft unterhält oder geschäftlich unter einer Decke steckt, erschnüffelt er unweigerlich. Keine unwillkürlichen Regungen der Nervosität und unterdrückten Panik entgehen ihm. Doch er steckt noch nicht mit seinem Autor unter einer Decke, er lebt noch jenseits der spektakulären Zäsur, durch die er zur Serienfigur werden wird, die unauflöslich an den Namen Georges Simenon gekoppelt ist.
Noch ist er ein Geschöpf von Georges Sim, noch ist der Name Georges Simenon unbekannt. Erst mit der spektakulären Werbeaktion, mit der die ersten beiden Maigret-Bände präsentiert werden, ändert sich das. Sie findet am 20. Februar 1931 in einem Nachtclub am Montparnasse statt. Die 400 Gäste waren zu einem „Bal anthropométrique“ geladen. Man war aufgefordert, sich als Polizist oder Verbrecher zu kostümieren, wie bei der erkennungsdienstlichen Behandlung war die Fotografie im Einsatz, die Einladungskarten waren der Polizeibürokratie nachempfunden, am Eingang wurden den Gästen die Fingerabdrücke abgenommen.
Der gesamte Werbeetat des Verlags von Arthème Fayard ging dafür drauf, aber der Ball war ein Erfolg, Gesprächsstoff in Paris und Gegenstand der Presseberichterstattung in ganz Frankreich. Durch diese Aktion wurde Georges Simenon zum Autor der Maigret-Romane, und zugleich wurde Georges Sim verabschiedet, noch bevor die Buchfassung von „La Maison de l’Inquiétude“ erschienen war.
Daniel Kampa nennt in seinem Nachwort den noch an Georges Sim gebundenen Roman eine „Testversion“, die „Blaupause für den offiziell ersten Fall“, also „Pietr der Lette“, in dem Simenon wiederum – diesmal weniger krude – Doppelgängerfiguren auftreten ließ. Aber er kann dann als Verleger doch der Versuchung nicht widerstehen, ihn unter der Seriennummer „Der 0. Fall“ zu publizieren. Sei’s drum. Aber die Zäsur bleibt, und das auch aus inneren, literarischen Gründen.
Man kann das an der „Theorie vom Riss“ erkennen, die Simenon in „Pietr der Lette“ entwirft: „Maigret verfuhr wie die anderen auch. Und wie sie bediente er sich ungewöhnlicher Hilfsmittel, die ein Bertillon, ein Reiss oder Locard der Polizei an die Hand gegeben hatten und die eine Wissenschaft für sich darstellten. Aber er suchte, erwartete, belauerte vor allem den Riss, mit anderen Worten: den Augenblick, in dem hinter dem Spieler der Mensch zum Vorschein kommt.“ Diese Passage dementiert die Maskerade des „Bal anthropométrique“. Maigret wird sein Schnüffeln nicht nach Alphonse Bertillon, Edmond Locard und Rudolf Archibald Reiss ausrichten, den wissenschaftlichen Heroen der kriminalistischen Spurensicherung und Anthropometrie. Indem er nach dem „Riss“ sucht, wird er zur Gegenfigur von Sherlock Holmes werden.
Dafür wird er einen Erzähler benötigen, der unauffällig an seiner Seite steht, ihm ganz nah ist, der in dem Wahrnehmungs- und Witterungsorgan Jules Maigret scheinbar verschwindet. In diesem Roman ist der Erzähler noch längst nicht auf der Höhe seiner Figur angekommen. So gesehen, stimm die Seriennummer, die ihm der Verlag gegeben hat: „Der 0. Fall“.
Georges Simenon: Maigret im Haus der Unruhe. Roman. Aus dem Französischen von Thomas Bodmer. Mit einem Nachwort von Daniel Kampa. Kampa Verlag, Zürich 2019. 224 Seiten, 16,90 Euro.
„La Maison de l’Inquiétude“
erschien zum ersten Mal im März 1930 als Fortsetzungsroman in der Tageszeitung L’Œuvre, als Buch erst 1932 in einer Krimireihe des Pariser Verlags J. Tallandier.
Die Hauptrolle in
Krimis spielen Verbrecher und ihre Verfolger.
Die Hauptrolle in unserer Krimibeilage spielen
Bücher: in Bedrängnis,
oder bedrängend.
So zeichnet sie der
Illustrator Alper Özer.
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Null
Maigret und
die Masken Simenons:
Der frühe Roman
„Das Haus der Unruhe“
wurde erstmals
ins Deutsche übersetzt
VON LOTHAR MÜLLER
Lange war der Vielschreiber eine verächtliche Figur. Erst mit der modernen Presse, dem Fortsetzungsroman und der Ausweitung des Lesepublikums begann er zu einem Autortyp zu werden, der selbst ein Genie sein konnte statt nur dessen Gegenbild. Balzac und Dickens schadete es nicht, dass sie Fortsetzungsromane schrieben, ihr Heroismus der Produktion im großen Stil war dem Zeitalter der Maschinerie und großen Industrie ebenbürtig.
Im zwanzigsten Jahrhundert hat kaum ein Autor mehr für die Aufwertung des Vielschreibers getan als der Belgier Georges Simenon, der Mann mit der Schreibmaschine, der bisweilen achtzig Seiten am Tag schrieb. Im Vielschreiber steckt das Prinzip der Serie. Er schließt Verträge nicht für ein Buch, sondern für mindestens zehn. Georges Simenon, der in jungen Jahren zu schreiben begann, war von Beginn an vom Rhythmus der seriellen Produktion durchdrungen. Und er wurde zum Vater eines der erfolgreichsten Serienhelden der modernen Literatur. In vielen schnell geschriebenen Kolportageromanen, die ohne Liebesabenteuer kaum auskommen konnten, nahm er Anlauf, ehe er sich mit der Figur des Kommissar Maigret das Genre des Kriminalromans aneignete und es eroberte.
Jetzt ist im Rahmen der großen Simenon-Offensive des Zürcher Kampa Verlags zum ersten Mal „La Maison de l’Inquiétude“ ins Deutsche übersetzt worden, einer der Romane, in denen Maigret seine ersten Auftritte hatte. Er erschien zum ersten Mal im März 1930 als Fortsetzungsroman in der Tageszeitung L’Œuvre, als Buch erst 1932 in einer Krimireihe des Pariser Verlags J. Tallandier.
Hintergrund der Simenon-Offensive ist ein verlegerischer Coup. Der Diogenes Verlag hat die Simenon-Rechte 2017 an Daniel Kampa verloren, der selbst zwanzig Jahre bei Diogenes arbeitete, bevor er 2013 als Verlagsleiter zu Hoffmann & Campe nach Hamburg ging. Für den 2018 in Zürich neu gegründeten Kampa Verlag ist Georges Simenon der Schlüsselautor. Mehrere Bände sind bereits neu erschienen, mit Nachworten prominenter Autoren, manche in Neuübersetzungen.
Das Nachwort zu „Maigret im Haus der Unruhe“ hat Daniel Kampa selbst geschrieben. Es gibt Einblick in die Bemühungen der Philologen zu klären, wann um 1930 Simenon welchen frühen Roman geschrieben hat, in dem Maigret auftaucht und wann und wo genau „Pietr-le Letton“ (1931, dt. „Maigret und Pietr der Lette“), entstanden ist, den Simenon selbst zu seinem ersten Maigret-Roman erklärt und mit einer Ursprungslegende versehen hat, die längst widerlegt ist.
Einem Gedankenblitz, so viel ist sicher, ist Maigret nicht entsprungen, sondern dem unermüdlichen Erproben von Genrekonventionen. Die Verleger druckten durchaus nicht jedes Manuskript sofort, das Simenon ihnen anbot, es musste in das Verlagsprofil passen. „La Maison de l’Inquiétude“ erschien noch unter dem Pseudonym „Georges Sim“, das über Frankreich hinaus zu einem bekannten Markenzeichen geworden war. Maigret tauchte im Titel nicht auf, war aber zum ersten Mal die Hauptfigur.
Er muss einen Mord aufklären, dem in Montreuil, einem östlich gelegenen Vorort von Paris, ein ehemaliger Offizier der Handelsmarine zum Opfer gefallen ist. Aus dem Kapitän auf großer Fahrt ist längst ein gut situierter Pensionär geworden, Mitglied der Gesellschaft für Geschichte und Geografie und Bücherliebhaber. Maigret hat seinen Amtssitz schon am Quai des Orfèvres, auch den Ofen gibt es schon und die Pfeife. Einmal geht sie beim Nahkampf mit einem Verdächtigen zu Bruch, und es folgt ein Satz, der aufhorchen lässt: „Zwölf Jahre lang war diese Pfeife seine ständige Begleiterin gewesen. Etwa hundert Verhaftungen hatte sie miterlebt.“
Hier zeichnet sich ein Grundzug des Kommissars ab. Er ist von Beginn an ein Mann mittleren Alters, und man weiß, dass er eine schwere, massige Figur ist, der ein Leichtgewicht nicht beikommt. Maigret wird mit den mittleren Sphären im Bunde sein, ein besondres Faible für die kleinen Leute haben und selber ein Kleinbürger sein. Den Nahkampf hält er aus, aber er sucht ihn nicht. Am Ende dieses Romans wird sich seine Hand um den Revolver legen, aber er wird ihn aus der Hosentasche nicht hervorziehen. Er ist nicht der Mann der Distanzwaffen, sondern der Nähe. Sie sucht er, anders als den Nahkampf.
Ist die verwirrte junge Frau, die zu Beginn in einer Novembernacht am Quai des Orfèvres auftaucht und sich des Mordes bezichtigt, tatsächlich die Täterin? Es ist eine krude Mixtur, die Georges Sim in „La Maison de l’Inquiétude“ zusammengebraut hat. Ein altes Muster romantischer Schauererzählungen, das Doppelgängertum, gehört zu den Ingredienzien, und am Ende wird ein „Irrenarzt“ zur Auflösung des Falles beitragen. Er wird einen Wahnsinn enthüllen, in dem die Urängste der Kliniken des 19. Jahrhunderts spuken, die Drohungen des physiologischen Determinismus und der Erbkrankheiten.
Maigret ist schon hier ein Mann, der in die Mietshäuser, die Antiquitätengeschäfte Rue du Faubourg-Saint-Honoré, die Stundenhotels und billigen Absteigen geht, um ihr Aroma einzusaugen. Wer mit wem in einem Haus eine heimliche Liebschaft unterhält oder geschäftlich unter einer Decke steckt, erschnüffelt er unweigerlich. Keine unwillkürlichen Regungen der Nervosität und unterdrückten Panik entgehen ihm. Doch er steckt noch nicht mit seinem Autor unter einer Decke, er lebt noch jenseits der spektakulären Zäsur, durch die er zur Serienfigur werden wird, die unauflöslich an den Namen Georges Simenon gekoppelt ist.
Noch ist er ein Geschöpf von Georges Sim, noch ist der Name Georges Simenon unbekannt. Erst mit der spektakulären Werbeaktion, mit der die ersten beiden Maigret-Bände präsentiert werden, ändert sich das. Sie findet am 20. Februar 1931 in einem Nachtclub am Montparnasse statt. Die 400 Gäste waren zu einem „Bal anthropométrique“ geladen. Man war aufgefordert, sich als Polizist oder Verbrecher zu kostümieren, wie bei der erkennungsdienstlichen Behandlung war die Fotografie im Einsatz, die Einladungskarten waren der Polizeibürokratie nachempfunden, am Eingang wurden den Gästen die Fingerabdrücke abgenommen.
Der gesamte Werbeetat des Verlags von Arthème Fayard ging dafür drauf, aber der Ball war ein Erfolg, Gesprächsstoff in Paris und Gegenstand der Presseberichterstattung in ganz Frankreich. Durch diese Aktion wurde Georges Simenon zum Autor der Maigret-Romane, und zugleich wurde Georges Sim verabschiedet, noch bevor die Buchfassung von „La Maison de l’Inquiétude“ erschienen war.
Daniel Kampa nennt in seinem Nachwort den noch an Georges Sim gebundenen Roman eine „Testversion“, die „Blaupause für den offiziell ersten Fall“, also „Pietr der Lette“, in dem Simenon wiederum – diesmal weniger krude – Doppelgängerfiguren auftreten ließ. Aber er kann dann als Verleger doch der Versuchung nicht widerstehen, ihn unter der Seriennummer „Der 0. Fall“ zu publizieren. Sei’s drum. Aber die Zäsur bleibt, und das auch aus inneren, literarischen Gründen.
Man kann das an der „Theorie vom Riss“ erkennen, die Simenon in „Pietr der Lette“ entwirft: „Maigret verfuhr wie die anderen auch. Und wie sie bediente er sich ungewöhnlicher Hilfsmittel, die ein Bertillon, ein Reiss oder Locard der Polizei an die Hand gegeben hatten und die eine Wissenschaft für sich darstellten. Aber er suchte, erwartete, belauerte vor allem den Riss, mit anderen Worten: den Augenblick, in dem hinter dem Spieler der Mensch zum Vorschein kommt.“ Diese Passage dementiert die Maskerade des „Bal anthropométrique“. Maigret wird sein Schnüffeln nicht nach Alphonse Bertillon, Edmond Locard und Rudolf Archibald Reiss ausrichten, den wissenschaftlichen Heroen der kriminalistischen Spurensicherung und Anthropometrie. Indem er nach dem „Riss“ sucht, wird er zur Gegenfigur von Sherlock Holmes werden.
Dafür wird er einen Erzähler benötigen, der unauffällig an seiner Seite steht, ihm ganz nah ist, der in dem Wahrnehmungs- und Witterungsorgan Jules Maigret scheinbar verschwindet. In diesem Roman ist der Erzähler noch längst nicht auf der Höhe seiner Figur angekommen. So gesehen, stimm die Seriennummer, die ihm der Verlag gegeben hat: „Der 0. Fall“.
Georges Simenon: Maigret im Haus der Unruhe. Roman. Aus dem Französischen von Thomas Bodmer. Mit einem Nachwort von Daniel Kampa. Kampa Verlag, Zürich 2019. 224 Seiten, 16,90 Euro.
„La Maison de l’Inquiétude“
erschien zum ersten Mal im März 1930 als Fortsetzungsroman in der Tageszeitung L’Œuvre, als Buch erst 1932 in einer Krimireihe des Pariser Verlags J. Tallandier.
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Krimis spielen Verbrecher und ihre Verfolger.
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So zeichnet sie der
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Sylvia Staude scheint es gleich zu sein, ob dies nun der erste Maigret von Georges Simenon ist oder der zweite. Der Argumentation des Herausgebers, der hier den Ursprungstext der Erfolgsserie sehen möchte, folgt sie allerdings durchaus. Maigrets eigener Einschätzung, wonach es sich um eine Schmonzette handelt, möchte sie hingegen nicht zustimmen. Allzu differenziert gezeichnet scheint ihr die Figur des barschen, aber auch sensibel agierenden Kommissars. Die erstmals auf Deutsch erscheinende Geschichte um den Mord an einem Ex-Seemann liest Staude auf jeden Fall mit Freude.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»'Maigret im Haus der Unruhe' ist der vollkommenste der frühen Maigret- Versuche. Mit diesem Roman sitzt die Figur des Kommissars Maigret. Simenon hat seinen Helden endlich im Griff.« Pierre Assouline