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Alles unter dem Stern des Idealismus: Joachim Radkau beschreibt das Leben der Malwida von Meysenbug
Viele werden Malwida von Meysenbug nur über den Umweg Nietzsche und Wagner kennen, als einsame Kämpferin für Ideale, die dem Untergang geweiht waren, Anhängerin eines goetheschen Harmoniedenkens, das Natur und Individuum in Einklang zu bringen trachtete. Das Buch des Bielefelder Historikers Joachim Radkau ist nicht die erste Biographie dieser so weithin vernetzten Frau, deren "Memoiren einer Idealistin" (1869) zu einem unerwarteten literarischen Erfolg wurden. Der Weg Malwida von Meysenbugs von Kassel, wo sie 1816 geboren wurde, nach Rom, wo sie 1903 starb, führt durch ein Europa des Exils, des Deutsch-Französischen Kriegs, durch England und Frankreich in ein Italien, das sich zur Nation heranbildete.
Wer sich mit ihr beschäftigt, verfängt sich in der Geschichte eines langen Jahrhunderts. Und das heißt hier immer in den Geschichten von bedeutenden Menschen, mit denen sie herzliche und mitunter streitbare Beziehungen pflegte, etwa Alexander Herzen, Giuseppe Mazzini, Carl Schurz (1848er und späterer Innenminister der Vereinigten Staaten) und am Ende mit Romain Rolland. Die Liebe zu Männern und Frauen, die Annahme einer Rolle als Mutter, einer Trösterin und aufbauenden Kraft gehörten zu diesen Beziehungen, in denen sie auch manche Enttäuschung und Eifersucht erlebte.
Doch alles stand unter dem Stern des "Idealismus". Radkau erklärt im Nachwort, was Idealismus in der Philosophie, was der Begriff später in der NS-Zeit und Nachkriegszeit bedeuten konnte. Solche Begriffsgeschichten durchweben diese stattliche Biographie und zeigen die Interessen eines Historikers, der sich zuvor mit der Nervosität im Kaiserreich, Technikgeschichte und der deutschen Umwelt- und Naturbewegung beschäftigt hat. Diese Interessen kommen in der Lebensbeschreibung zusammen, denn Malwida von Meysenbug verknüpfte ihre Naturliebe mit einer politischen Haltung, sah sich aber auch mit nervlichen Problemen konfrontiert und legte ein Fundament für die Lebensreformbewegung. Die Einbettung in historisch-mentalitätsgeschichtliche Kontexte macht aus diesem Lebenslauf, der in Goethes Lebenszeit zurückreicht und den Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts berührt, einen funkelnden Spiegel der Zeit.
Malwida Meysenbug - der Vater, ein Hofbeamter, wurde nachträglich geadelt - stammt aus bürgerlichen Verhältnissen in Kassel, sucht aber bald ihren eigenen Weg, der sie unter anderem nach Hamburg zu einer Schule für Kindergärtnerinnen bringt. Sie sympathisiert mit den Revolutionären von 1848 und gehört zu den wenigen Frauen, die die Reden in der Paulskirche verfolgen. Dann wird das Exil zu ihrer eigentlichen Heimat, denn in Deutschland wird sie bedroht. Zunächst England, wo sie im Kreis deutscher Emigranten unterkommt, die sich zum Teil spinnefeind sind. In diesen Kreisen lernt sie den reichen russischen Emigranten Alexander Herzen kennen, erzieht seine Töchter, reist später, nach manchen Zerwürfnissen und Versöhnungen, mit ihnen nach Italien.
Und dieses Land wird ihre eigentliche Heimat. Viel wird in ihren Briefen über den wohltuenden Süden geredet. Bei der Grundsteinlegung des Baus für die Bayreuther Festspiele 1872 lernt die glühende Wagnerianerin den jungen Basler Professor Friedrich Nietzsche kennen. Sie wird seine Ratgeberin und versucht ihn mit jungen interessanten Damen bekannt zu machen. Kurz wird erwogen, er könne ja Herzens Tochter Olga heiraten. Oder später Lou Salomé. Gern schickt sie ihm aristokratische Feministinnen, die ihm Paroli bieten können, so Resa von Schirnhofer oder Meta von Salis.
Am Ende jedoch kommt es zum Bruch wegen Nietzsches Attacken auf Wagner. Ihr Fazit im Jahr 1893 lautet: Alle wollten einen fertigen Nietzsche, er sei aber der Unfertigste aller Menschen gewesen. Viele Jahre zuvor aber, 1876, jener Aufenthalt, den sie in Sorrent am Golf von Neapel organisiert. Dort will sie mit drei jungen Männern für eine Weile eine Art klösterliche Bildungsgemeinschaft aufziehen: Paul Rée, Albert Brenner und Nietzsche - und die Wagners sind in der Nähe.
Nietzsche brauchte sie nicht nur als Mutterersatz, sondern auch als Ärztin. Die immer Fürsorgliche bereitete ihm Fußbäder oder überzeugte ihn von einer Schnupftabakkur. Doch Nietzsche nieste nicht, und es musste Neues gesucht werden, schließlich war sie aufgeschlossen für alles, was man heute alternativen Weltbildern zurechnen würde, Wasserheilkunde etwa, während sie für Nervenprobleme auf eine Elektrisiermaschine schwor (nach dem System des Doktor Alimonda aus Triest). Die Diskussionen um intelligentes Leben auf dem Mars verfolgte sie gespannt, und im Alter war sie glücklich, von indischen Gelehrten zu hören, dass die Materie belebt sei. Überhaupt war sie eine Kennerin indischen Denkens. Ihr Biograph glaubt sogar, dass sie es besser kannte als ihr Idol Schopenhauer. Nietzsche und anderen mag sie östliche Impulse vermittelt haben.
All dies bringt Malwida von Meysenbug in die Nähe der Lebensreformer, die um 1900 von Worpswede bis Ascona Naturkult und Freigeistigkeit zu praktizieren begannen. Emil Gött, der badische Tolstoi-Anhänger, schwärmte für sie. Politisch nahm sie immer wieder Stellung gegen den Kolonialismus, verurteilte den Burenkrieg der Briten und pries den Mahdi-Aufstand. Für Attentäter zeigte die friedliche Frau ein erstaunliches Verständnis. Widersprüche hielt sie aus, mal war sie Patriotin, gar eine "Malwida Bismarckova", dann wieder eine Pazifistin reinsten Wassers. Für den Antisemitismus Wagners hatte sie nichts übrig, was diesen nicht erfreute. Andererseits ist einer ihrer unflätigsten Briefe Wagners Antipoden Jacques Offenbach gewidmet. Später sollte sie in der Dreyfus-Affäre klare Position für den zu Unrecht Verurteilten beziehen, und für sein "J'accuse" verzieh sie Zola sogar seine Romane.
Ihre eigenen Romane und Dramen fanden kein großes Publikum. Anders aber ihre Erinnerungen, und ihr "Lebensabend einer Idealistin" von 1898 war sogar noch erfolgreicher als die früher erschienenen Memoiren. Die Bücher brachten unausgesetzt Besucher in ihr Haus in Rom, sodass sie sich als "römische Antiquität" oder "Mumu für alle Welt" fühlte.
Radkaus Sympathie ist unverkennbar; man spürt förmlich, wie gerne er ein Gespräch mit Malwida von Meysenbug führen würde. Er kann deshalb auch ungeduldig werden mit ihr, wovon viele Ausrufzeichen zeugen und Einwürfe wie: "Man wird erst einmal schlucken" oder "der Leser reibt sich die Augen". Trotz ihres stattlichen Umfangs bietet die Biographie anregende Lektüre. Zur ihrer Lesbarkeit trägt auch bei, dass Radkau nicht rein chronologisch vorgeht, sondern mit Vor- und Rückblenden arbeitet. So gelingt ihm tatsächlich eine kaleidoskopische Darstellung des neunzehnten Jahrhunderts, in deren Zentrum der Weg einer überaus interessanten Frau steht. ELMAR SCHENKEL
Joachim Radkau: "Malwida von Meysenbug". Revolutionärin, Dichterin, Freundin. Eine Frau im 19. Jahrhundert.
Hanser Verlag, München 2022. 592 S., Abb., geb., 38,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
"Jetzt hat sie endlich einen klugen, einfühlsamen Biografen gefunden. ... Er stellt Malwida mit großer Verknüpfungskompetenz in die Diskurse ihrer Zeit. Dass sie auch der unseren viel zu sagen hätte, werden hoffentlich andere noch herausarbeiten." Tilman Krause, Welt am Sonntag, 13.03.22