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Kollateralschäden einer rheinischen Metzgerfamilie: Andrea Roedig erzählt aus ihrer Kindheit
Literaturgeschichtlich haben sich die Auseinandersetzungen mit dem (eigenen) Vater bisher als ergiebiger und übrigens auch produktiver erwiesen; unnötig, hier Namen zu nennen. Solche mit der Mutter gibt es kaum - Gottfried Kellers "Grüner Heinrich", der in der ersten, pessimistischeren Fassung an seinem schlechten Gewissen gegenüber der Mutter zerbricht; der andere Gottfried (Benn), der behauptete: "Ich trage dich wie eine Wunde auf meiner Stirn, die sich nicht schließt" (John Lennon meinte es in dem Lied "Mother" ähnlich); Thomas Mann, der sich selbst darüber wunderte, wie kalt er im "Doktor Faustus" seine Mutter in Gestalt der Senatorin Rodde abgefertigt hatte; natürlich Michael Lentzens "Muttersterben" und "Der Tod meiner Mutter" von Georg Diez. Na ja, ein paar sind es dann doch.
Diese Schmerzenskinder haben jetzt ein Geschwisterchen bekommen: "Man kann Müttern nicht trauen" von Andrea Roedig. Das genremäßig nicht weiter ausgewiesene, auch nicht allzu dicke Buch ist ohne Zweifel eine der bemerkenswertesten Neuerscheinungen dieses Frühjahrs, nicht nur für dtv. Es mag erlaubt sein, eine Selbstauskunft zu bemühen: "Das Buch erzählt in autofiktionaler Weise die Geschichte meiner Mutter, die die Familie verließ, als ich zwölf Jahre alt war. Es ist eine persönliche Auseinandersetzung mit der Frage, wer diese Frau war, die mir zeitlebens fremd geblieben ist, und zugleich erzählt das Buch über ein Frauenleben in den sechziger und siebziger Jahren, über Wünsche, Hoffnungen und Befreiungsversuche."
Dem wäre wenig hinzuzufügen, wüsste die Erzählung nicht schon durch eine aufs Allerwesentlichste reduzierte, kondensierte Mitteilsamkeit zu imponieren, die weit davon entfernt ist, manieriert zu wirken. Hier wird, aus syntaktischer Bequemlich- oder Ideenlosigkeit, keine Ein-Wort-Satz-Expressivität vorgetäuscht; der knappe, spröde, angenehm alltagssprachliche Stil ist vielmehr die historisch wie ästhetisch stimmige Art und Weise, vom Aufstieg und vom Niedergang einer ebenso bodenständigen wie dann eben doch ungut abgehobenen rheinischen Metzgersippe zu berichten. Fast hätte man als Untertitel "Verfall einer Familie" drunterschreiben können; aber wer jetzt gleich "Buddenbrooks" sagt, hat trotzdem verloren. Um den Verfall der Düsseldorfer beim Klarnamen gerufenen Familie Roedig, aus der das Kind Andrea und dessen jüngerer Bruder halbwegs heil herauskommen, geht es zwar auch; aber der Titel, der hätte eleganter ausfallen können, will schließlich eingelöst werden und wird es auch.
So ist es im Wesentlichen das Porträt der kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geborenen Liselotte "Lilo", geborene Adler, die das, was sie ihrerseits unter ihrer noch vor dem Ersten Weltkrieg geborenen Mutter Gertrud erlitten hat, inklusive Gewalt und Vernachlässigung, die Zähne zusammenbeißend in sich verkapselt und es, in Form einer höchstens durch sadistische Spielchen, nicht aber durch liebevolle Zuwendung unterbrochenen, letztlich unaufhebbaren Distanz, an die Tochter weitergibt. Und die muss dann sehen, wie sie mit ihrem Leben zurechtkommt.
Dass man das aber nicht mehr mitbekommt, verleiht dem ansonsten schonungslosen Zugriff auf diese vor beschränktem Horizont verbrachten Leben etwas Diskretes und, in dem vollständigen Mangel an Selbstbespiegelung, auch Nobles. Die reale Andrea Roedig, die auf die sechzig zugeht und also vermutlich schon beim Schreiben im richtigen Alter war, mit der eigenen Vergangenheit ihren Frieden zu machen - anders wäre diese gegenüber jedermann Gerechtigkeit und am Ende Nachsicht übende Abgeklärtheit auch kaum erklärlich -, ist freie Publizistin und war fünf Jahre lang in Jakob Augsteins "Freitag" Feuilletonchefin.
Es wäre für sie also ein Leichtes gewesen, das in vielerlei Hinsicht wohlstandsgeprägte Familienleben, das uns heute spießbürgerlich vorkommen mag, aber damals, mit seinen relativ leicht zu durchschauenden, zutiefst menschlichen Wertvorstellungen, nun einmal so war, zu kontrastieren mit einer fortschrittlich-hippen, politisch korrekten Medienwelt; genauso wie eine heutige, an Carolin-Emcke-Ergüsse gewöhnte Leserschaft vielleicht erwarten würde, dass die Homosexualität beider Roedig-Kinder nach literaturfernen Regeln problematisiert und vor allem das Metzgerhandwerk einer gepfefferten Revision unterworfen würde. Nichts dergleichen. Darin, in dieser Weigerung, sperrangelweit offene Türen einzurennen, liegt das Außerordentliche, geistig Kühne dieser Erzählung. Der konsequent auf die Enträtselung der Mutter und, weniger konzentriert, der Familie gerichtete Blick lässt nabelschauhafte Abschweifungen zu den eigentlichen Versehrtheiten der Kinder nicht zu.
Obwohl das, was in der Familie vorfällt, absolut kein Spaß ist, wartet die Chronistin mit sicher platzierten humoristischen Schlaglichtern auf, zum Beispiel bei Heinz, dem im Bettenhandel tätigen zweiten Mann der Mutter, einer fränkisch-bierselig-biederen Natur: "Manchmal, am Telefon, versuchte Lilo, das Band zwischen ihm und uns zu knüpfen. ,Ich geb dir mal Heinz', sagte sie dann, und es entstand diese peinlich-verlegene Stille, was sollte man mit ihm reden, wenn er den Hörer ergriff und sagte: ,Wie gähtsch?'" Alltagsnah, lebenssatt auch die dosiert eingesetzte Komik.
Mit dem von vernarbten Wunden noch vertieften, aber vielleicht auch besänftigten Blick von heute kündet Andrea Roedig auf eine präzise geraffte Art von der Adenauer-Zeit, die ja erst 1963 endete, bis ins gegenwärtige Jahrhundert. Statt mit Schlagworten wie "Wirtschaftswunder" oder "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" zu hantieren, bleibt sie direkt am Leben dran, das sich in durch und durch bürgerlichen, meistens kaufmännischen Berufen buchstäblich erschöpft - Döblin, dem solch unmittelbares Erzählen immer vorschwebte, wäre begeistert.
Die äußerlich liebe, im Grunde hilflose, brutale Oma Gertrud, die Besuche von Herren empfängt, die Pralinen mitbringen und deren Namen in einem Atemzug mit dem Auto erwähnt werden, das sie fahren; Lilo, die mit dem Einheiraten in die angesehene - kann man sich "angesehene" Metzgerfamilien heute eigentlich noch vorstellen? - Metzgerfamilie vielleicht nicht ganz so hoch kommt, wie sie sich das erträumt hatte, aber immerhin; Lilo also, die eisern die Chefin gibt, dann aber plötzlich verschwindet, den vor allem ums eigene Wohl besorgten, nicht ganz seriösen Mann und die vorpubertären, ratlosen Kinder in Richtung Süddeutschland verlässt, sich dort mit einem weder charakterlich noch körperlich gefestigten Mann einlässt - die Wahrhaftigkeit, mit der das Personal in seinem Tun und Lassen erfasst wird, gibt schließlich, wenn das meiste den Bach heruntergegangen ist, einen analytisch souveränen Blick frei: "Es gab in Lilo, wenn man so will, hartnäckige Oberflächlichkeit. Es war nicht möglich, sie intellektuell herauszufordern . . . Ihr Treppchen ist der Körper, meines die Intellektualität. Ich kann so wenig eine dumme Mutter ertragen wie sie eine ungeschminkte Tochter." So geht Literatur, so geht Psychologie.
Von Jürgen Bartsch wissen wir, was aus Kindern einer nordrhein-westfälischen Metzgerfamilie, in der es an nichts Materiellem, nur an der Liebe fehlt, werden kann. Das ist ein schlimmes, extremes Beispiel und soll keineswegs zu Vergleichszwecken herangezogen werden, sondern nur, um deutlich zu machen, vor welchem gleichfalls nicht ganz harmlosen Hintergrund Andrea Roedig ihre Reflexionen aus diesem beschädigten Leben so meisterlich notiert hat. EDO REENTS.
Andrea Roedig: "Man kann Müttern nicht trauen".
dtv, München 2022. 240 S., geb., 20,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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