Wie vollzieht sich eine symbolische Revolution? Wann hat sie Erfolg? Am Beispiel des Begründers der modernen Malerei, Édouard Manet, geht Pierre Bourdieu diesen Fragen in seinen bahnbrechenden Vorlesungen am Collège de France aus den Jahren 1998 bis 2000 nach.
Bourdieu situiert Manets Malerei in der Krise der Kunst Mitte des 19. Jahrhunderts. Manet bricht mit den Regeln der akademischen Malerei und revolutioniert die gesamte ästhetische Ordnung. Seine Gemälde sind eine Kampfansage: an den Akademismus, den Realismus, den Eklektizismus und sogar an den Impressionismus. Solche symbolischen Revolutionen, so Bourdieu, sind nur vor dem Hintergrund der Konstellationen des gesamten kulturellen Feldes zu erklären. Mit seinen Studien zu Manet hat Bourdieu ein Grundlagenwerk der Kunstsoziologie vorgelegt.
Mit einem unvollendeten Buchmanuskript von Pierre und Marie-Claire Bourdieu
Bourdieu situiert Manets Malerei in der Krise der Kunst Mitte des 19. Jahrhunderts. Manet bricht mit den Regeln der akademischen Malerei und revolutioniert die gesamte ästhetische Ordnung. Seine Gemälde sind eine Kampfansage: an den Akademismus, den Realismus, den Eklektizismus und sogar an den Impressionismus. Solche symbolischen Revolutionen, so Bourdieu, sind nur vor dem Hintergrund der Konstellationen des gesamten kulturellen Feldes zu erklären. Mit seinen Studien zu Manet hat Bourdieu ein Grundlagenwerk der Kunstsoziologie vorgelegt.
Mit einem unvollendeten Buchmanuskript von Pierre und Marie-Claire Bourdieu
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.2015Die Gewalt des Malers
Edouard Manet erntete von der Kritik nur Spott und Häme für seine Malerei. Warum seine Bilder trotzdem eine Revolution auslösten, hat der Soziologe Pierre Bourdieu mit feinem Humor seinen Studenten am Collège de France erklärt. Jetzt sind die Vorlesungen auf Deutsch erschienen
Kann ein Werk für Keksdosen eine symbolische Revolution auslösen? Oder: Wie kann es ein Werk für Keksdosen schaffen, eine Welle unvorstellbarer Gewalt zu entfesseln? Eine Welle der Gewalt, welche die revolutionären Schriften von Karl Marx oder Emile Durkheim nicht mal annähernd in der Form ausgelöst haben, wie sie Edouard Manets Bilder "Frühstück im Grünen" und "Olympia" im Jahr 1863 auslösten.
So fragt der Soziologe Pierre Bourdieu zu Anfang seiner in den Jahren 1998 bis 2000 am Collège de France in Paris gehaltenen Vorlesungen. "Manet. Eine symbolische Revolution" sind die Vorlesungen in der jetzt bei Suhrkamp erschienenen Buchform überschrieben. Und das Mindeste, was man dazu sagen kann, ist, dass sie eine Klasse für sich sind, ohne sich damit den Status der Einzigartigkeit zu verdienen. Bourdieus Vorlesungen schreiben sich in eine Reihe herausragender Bücher ein, die aus Vorlesungen am Collège de France hervorgegangen sind: Michel Foucaults "Die Geburt der Biopolitik", Guy G. Stroumsas "Das Ende des Opferkults. Die religiösen Mutationen der Spätantike" oder Roland Barthes' "Die Vorbereitung des Romans". Gemeinsam ist all diesen Büchern, dass sie enorm von der anti-elitistischen Atmosphäre am Collège profitieren, an dem jeder, der will, ohne irgendwelche Voraussetzungen und Zulassungsbeschränkungen hören kann.
In Bourdieus Vorlesung wurde zudem noch oft gelacht, das jedenfalls verzeichnet das Protokoll der Abschrift des mündlichen Vortrags immer wieder: "Lachen im Publikum." Ein Lachen, das aber nicht einseitig bleibt, weil man auch beim Lesen oft und gut lachen muss. So etwa, wenn Bourdieu bis ins Detail beschreibt, was die zeitgenössische Kritik an Manets "Frühstück im Grünen" auszusetzen hatte. Das Bild war nämlich einfach zu groß für das, was es zeigte: eine frivole Szene, in der eine nackte Frau mit zwei offensichtlich aus höherem Stand kommenden, angezogenen jungen Männern zusammensitzt, ohne miteinander zu reden. Allein durch die Größe verstieß das Bild gegen den damals sakral gehüteten Gegensatz zwischen großer Kunst und kleiner Kunst. Zur kleinen Kunst gehörten Stillleben, Landschaft, Genremalerei und noch weiter unten volkstümliche Bilderbogen.
Beim "Frühstück im Grünen" handelt es sich um eine Art ländlicher Lustbarkeit, ein definitionsgemäß niedriges Sujet. Das Bild ist mit seinen Maßen von 2,08 mal 2,64 Metern dafür aber schlicht zu groß. Außerdem begeht Manet noch ein weiteres Sakrileg, er gleicht das niedere, frivole Sujet nicht durch Eleganz und den Reiz der Gestalten aus. Die Zeitgenossen empfanden die Gestalten des "Frühstücks im Grünen" als hässlich, ganz abgesehen davon, dass sie nicht einmal miteinander redeten.
Da waren dann doch zu viele Grenzen auf einmal überschritten. Und Grenzüberschreitungen, sagt Bourdieu, sind immer ein Sakrileg. Grenzen seien deshalb sakrosankt, weil sie gleichzeitig in der Realität sind, wie die Grenzen zwischen männlich und weiblich, die Schwelle eines Hauses, die Innen und Außen voneinander trennt, und weil sie in unseren Köpfen stecken. Prinzipien der Wahrnehmung und Einteilung also, objektive Einteilungen, die in Form von Prinzipien der Wahrnehmung und Einteilung "inkorporiert worden sind". Einteilungen, die Fleisch geworden sind wie Gottes Wort. Und gerade in den Wirkungen auf die zeitgenössische Wahrnehmung findet Bourdieu eine Ähnlichkeit zur Wirkung religiöser Revolutionen. Manet habe gehandelt wie ein Priester, der zum Abendmahl in Jeans erscheint, die Hostie aus der Tasche zieht und sie auch noch in viel zu großer Form reicht, so dass man sie nicht ordentlich herunterschlucken kann. Ein Akt, der die Zuschauer sprachlos macht.
In der Sprachlosigkeit gegenüber dem Gesehenen oder auch Gelesenen sieht Bourdieu eines der generellen Merkmale einer symbolischen Revolution. Am Anfang einer symbolischen Revolution steht immer die Tatsache, dass man nicht weiß, wie man darüber sprechen soll. Weil man nicht weiß, wie man darüber sprechen soll, führt eine symbolische Revolution im nächsten Moment zur Freilegung der bisher unausgesprochenen Kriterien und Regeln, die die Kunst, den Markt, die Akademie und die Salons bis dahin beherrscht haben. Deshalb findet Bourdieu in den zeitgenössischen Kritiken zu Manets Bildern ein schier unerschöpfliches Reservoir an bisher nicht gehobenem Wissen. Dieses Wissen erscheint ihm in vielfacher Hinsicht bedeutungsvoll. Denn mit Manets symbolischer Revolution entsteht auch der Kunstkritiker heutigen Typs. Es entsteht das Feld der Kunstdeutungen, auf dem sich Kritiker in einem immer noch nicht gestoppten Wettkampf in Interpretationen zu überbieten versuchen; auf dem sie aber in einem Punkt bis heute übereinstimmen: in ihrer Verachtung gegenüber der Wissenschaft, vor allem gegenüber der Wissenschaft vom Bild. "Man muss", fordert Bourdieu in einem entscheidenden Satz, "eine Wissenschaft von den Kunstwerken machen."
Und genau das versucht er in seinen Vorlesungen zu Manet: die Voraussetzungen einer Wissenschaft von den Kunstwerken zu skizzieren. Mit den Kritikern und ihren Texten muss er dabei anfangen, weil es eine Wissenschaft von den Kunstwerken nicht ohne ihre Wirkungen auf das Publikum geben kann. Weil Kritiker aber eben nicht allein oder inspirierte Solipsisten im einsamen Kunstgenuss sind, die mönchisch beseelt zu ihren Urteilen kommen, sondern immer Teile von etwas, bilden ihre Texte das erste Material. Der Künstler und das Kunstwerk kommen in Bourdieus Arbeit später. Und dies einfach deshalb, weil er dem Schöpfungsakt der Kunst genauso wenig traut wie dem Einzigen und seinem Eigentum im Kunstgenuss.
Bourdieu steht nur vor dem großen Problem, dass sich die symbolische Revolution, die er beschreiben will, durchgesetzt hat. Manet hat mit seinen Grenzüberschreitungen auf ganzer Linie gesiegt. Deshalb können seine Bilder heute auf Kaffeetassen und Keksdosen erscheinen, ohne das geringste Aufsehen zu erregen. Deshalb ist das "Frühstück im Grünen" heute nach der "Mona Lisa" das am häufigsten besprochene und gedeutete Bild überhaupt. Und deshalb kann sein Publikum auch so oft lachen. Die Kämpfe von damals scheinen hinter der Kunstkritik von gestern zu liegen. Bourdieu versucht dem am Anfang der Vorlesungen immer entgegenzuwirken, indem er darauf hinweist, dass sich keine seiner Diagnosen zu den Kritikern Manets erledigt habe. Noch immer machen sich konservative Kunstkritiker zu Sprachrohren des sprachlosen "gemeinen Volksempfindens" gegenüber der Kunst. Ebenso werden nach wie vor Formalismus und Realismus in der Kunst gegeneinander ausgespielt, als hätte es Manet nie gegeben.
Bourdieu hält den Gegensatz von Realismus und Formalismus generell für falsch. In Manets Werken verbindet sich beides. Formale Aspekte wie die Vernachlässigung der Perspektive, welche die Figuren im Hintergrund nicht kleiner werden lässt oder aber gerade im Vordergrund klein macht, oder die realistische Frauendarstellung der Olympia, die das Bild in der damaligen Zeit hässlich erscheinen ließ. Es geht nach Bourdieu immer um etwas anderes im Bild als um bloße Realien und Formalismen. Wenn Manet die Hierarchien durcheinanderbringt, indem er zu groß malt oder "echte" Frauen in historisierende Sujets aus der Malereigeschichte legt, melden sich in der Kritik wie in der Publikumswahrnehmung immer auch die "Affinitäten der Hierarchien", wie Bourdieus Begriff für diesen Wahrnehmungsaffekt lautet. Ein Affekt, der sich heute eben überhaupt nicht erledigt hat.
Man kann postum Bourdieu, der 2002 gestorben ist, beruhigen. Seine Analyse hat überhaupt nichts an Gegenwärtigkeit verloren. Im Gegenteil, je länger man in seinen Vorlesungen liest, desto gegenwärtiger wird das Panoptikum der Kritiker, seien es nun Literatur- oder Kunstkritiker. Wenn er etwa die Kritiker Manets als Platzanweiser beschreibt, als Leute, welche die Bilder an ihren Platz außerhalb des Kanons verweisen, dann ist er nach wie vor in der Zeit. Gerade in den diversen Revivals von Subkulturen der siebziger und achtziger Jahre ist der Platzanweiser eine dominierende Figur und dann besonders nervig, wenn es sich um einen Künstler handelt, der dabei war, und der Kritiker von heute aus den Dingen ihren Platz zuweist, um die Distanzen wieder herzustellen, die ihn von den anderen trennen.
Bourdieu ist in solchen Momenten seiner Analyse so gegenwärtig, wie er sich selbst das wahrscheinlich nicht erträumt hat. Denn der Platzanweiser als Subkulturfigur war zu Manets Zeiten noch unbekannt. Die Subkultur spielte noch nicht im Institut français oder im Goethe-Institut. Sie formierte sich erst als Boheme, und ihre Formierung gehört zu einer der Bedingungen für Manets Schaffen und Erfolg. Bourdieu beschreibt Manet als einen Zwitter, der weder Bourgeois noch Boheme war. Manet entstammte dem Verwaltungsadel, sein Vater war Richter und Landbesitzer, der 1862 starb. Die Brüder Manet verkauften darauf einen Teil der Ländereien, was ihnen erhebliche Einkünfte einbrachte und dem Maler eine weitgehende Unabhängigkeit vom Kunstmarkt verschaffte. Der Witz an dieser Sache ist, das Bourdieu sie mit einem Zusatz erwähnt, in dem es heißt: "zweifellos eine wesentliche Voraussetzung - was ich in meiner Darstellung vergessen hatte -, ohne die er nicht hätte überleben können".
Man hatte sich bis dahin immer gefragt, woher dieser von der Kritik und vom Markt zu Lebzeiten nie angenommene Maler dieses Selbstbewusstsein und diese Selbstsicherheit nimmt, im Misserfolg das Richtige zu tun. Es ist aber kein Fehler oder Versäumnis Bourdieus, erst so spät in seinen Vorlesungen die materielle Unabhängigkeit ins Spiel zu bringen. Denn im Grunde geht es ihm darum zu zeigen, wie Manet auf der Basis der inkorporierten Bilder der Kunstgeschichte, seiner Beweglichkeit zwischen den Klassen und seiner Akzeptiertheit unter den Bohemiens sein eigenes Bilddenken eben in Kontakt mit einem größtmöglichen Ausschnitt der Gesellschaft formt und sehr genau bedacht in den Lücken der Institutionen und Kritik plaziert. Das war kein einsamer Schöpfungsakt, sondern ein Denken im Kampf mit der Welt der Menschen und Bilder, in der Manet sich bewegte.
CORD RIECHELMANN.
Pierre Bourdieu: "Manet - Eine symbolische Revolution. Vorlesungen am Collège de France 1998-2000". Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs. Suhrkamp, 921 Seiten, 58 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Edouard Manet erntete von der Kritik nur Spott und Häme für seine Malerei. Warum seine Bilder trotzdem eine Revolution auslösten, hat der Soziologe Pierre Bourdieu mit feinem Humor seinen Studenten am Collège de France erklärt. Jetzt sind die Vorlesungen auf Deutsch erschienen
Kann ein Werk für Keksdosen eine symbolische Revolution auslösen? Oder: Wie kann es ein Werk für Keksdosen schaffen, eine Welle unvorstellbarer Gewalt zu entfesseln? Eine Welle der Gewalt, welche die revolutionären Schriften von Karl Marx oder Emile Durkheim nicht mal annähernd in der Form ausgelöst haben, wie sie Edouard Manets Bilder "Frühstück im Grünen" und "Olympia" im Jahr 1863 auslösten.
So fragt der Soziologe Pierre Bourdieu zu Anfang seiner in den Jahren 1998 bis 2000 am Collège de France in Paris gehaltenen Vorlesungen. "Manet. Eine symbolische Revolution" sind die Vorlesungen in der jetzt bei Suhrkamp erschienenen Buchform überschrieben. Und das Mindeste, was man dazu sagen kann, ist, dass sie eine Klasse für sich sind, ohne sich damit den Status der Einzigartigkeit zu verdienen. Bourdieus Vorlesungen schreiben sich in eine Reihe herausragender Bücher ein, die aus Vorlesungen am Collège de France hervorgegangen sind: Michel Foucaults "Die Geburt der Biopolitik", Guy G. Stroumsas "Das Ende des Opferkults. Die religiösen Mutationen der Spätantike" oder Roland Barthes' "Die Vorbereitung des Romans". Gemeinsam ist all diesen Büchern, dass sie enorm von der anti-elitistischen Atmosphäre am Collège profitieren, an dem jeder, der will, ohne irgendwelche Voraussetzungen und Zulassungsbeschränkungen hören kann.
In Bourdieus Vorlesung wurde zudem noch oft gelacht, das jedenfalls verzeichnet das Protokoll der Abschrift des mündlichen Vortrags immer wieder: "Lachen im Publikum." Ein Lachen, das aber nicht einseitig bleibt, weil man auch beim Lesen oft und gut lachen muss. So etwa, wenn Bourdieu bis ins Detail beschreibt, was die zeitgenössische Kritik an Manets "Frühstück im Grünen" auszusetzen hatte. Das Bild war nämlich einfach zu groß für das, was es zeigte: eine frivole Szene, in der eine nackte Frau mit zwei offensichtlich aus höherem Stand kommenden, angezogenen jungen Männern zusammensitzt, ohne miteinander zu reden. Allein durch die Größe verstieß das Bild gegen den damals sakral gehüteten Gegensatz zwischen großer Kunst und kleiner Kunst. Zur kleinen Kunst gehörten Stillleben, Landschaft, Genremalerei und noch weiter unten volkstümliche Bilderbogen.
Beim "Frühstück im Grünen" handelt es sich um eine Art ländlicher Lustbarkeit, ein definitionsgemäß niedriges Sujet. Das Bild ist mit seinen Maßen von 2,08 mal 2,64 Metern dafür aber schlicht zu groß. Außerdem begeht Manet noch ein weiteres Sakrileg, er gleicht das niedere, frivole Sujet nicht durch Eleganz und den Reiz der Gestalten aus. Die Zeitgenossen empfanden die Gestalten des "Frühstücks im Grünen" als hässlich, ganz abgesehen davon, dass sie nicht einmal miteinander redeten.
Da waren dann doch zu viele Grenzen auf einmal überschritten. Und Grenzüberschreitungen, sagt Bourdieu, sind immer ein Sakrileg. Grenzen seien deshalb sakrosankt, weil sie gleichzeitig in der Realität sind, wie die Grenzen zwischen männlich und weiblich, die Schwelle eines Hauses, die Innen und Außen voneinander trennt, und weil sie in unseren Köpfen stecken. Prinzipien der Wahrnehmung und Einteilung also, objektive Einteilungen, die in Form von Prinzipien der Wahrnehmung und Einteilung "inkorporiert worden sind". Einteilungen, die Fleisch geworden sind wie Gottes Wort. Und gerade in den Wirkungen auf die zeitgenössische Wahrnehmung findet Bourdieu eine Ähnlichkeit zur Wirkung religiöser Revolutionen. Manet habe gehandelt wie ein Priester, der zum Abendmahl in Jeans erscheint, die Hostie aus der Tasche zieht und sie auch noch in viel zu großer Form reicht, so dass man sie nicht ordentlich herunterschlucken kann. Ein Akt, der die Zuschauer sprachlos macht.
In der Sprachlosigkeit gegenüber dem Gesehenen oder auch Gelesenen sieht Bourdieu eines der generellen Merkmale einer symbolischen Revolution. Am Anfang einer symbolischen Revolution steht immer die Tatsache, dass man nicht weiß, wie man darüber sprechen soll. Weil man nicht weiß, wie man darüber sprechen soll, führt eine symbolische Revolution im nächsten Moment zur Freilegung der bisher unausgesprochenen Kriterien und Regeln, die die Kunst, den Markt, die Akademie und die Salons bis dahin beherrscht haben. Deshalb findet Bourdieu in den zeitgenössischen Kritiken zu Manets Bildern ein schier unerschöpfliches Reservoir an bisher nicht gehobenem Wissen. Dieses Wissen erscheint ihm in vielfacher Hinsicht bedeutungsvoll. Denn mit Manets symbolischer Revolution entsteht auch der Kunstkritiker heutigen Typs. Es entsteht das Feld der Kunstdeutungen, auf dem sich Kritiker in einem immer noch nicht gestoppten Wettkampf in Interpretationen zu überbieten versuchen; auf dem sie aber in einem Punkt bis heute übereinstimmen: in ihrer Verachtung gegenüber der Wissenschaft, vor allem gegenüber der Wissenschaft vom Bild. "Man muss", fordert Bourdieu in einem entscheidenden Satz, "eine Wissenschaft von den Kunstwerken machen."
Und genau das versucht er in seinen Vorlesungen zu Manet: die Voraussetzungen einer Wissenschaft von den Kunstwerken zu skizzieren. Mit den Kritikern und ihren Texten muss er dabei anfangen, weil es eine Wissenschaft von den Kunstwerken nicht ohne ihre Wirkungen auf das Publikum geben kann. Weil Kritiker aber eben nicht allein oder inspirierte Solipsisten im einsamen Kunstgenuss sind, die mönchisch beseelt zu ihren Urteilen kommen, sondern immer Teile von etwas, bilden ihre Texte das erste Material. Der Künstler und das Kunstwerk kommen in Bourdieus Arbeit später. Und dies einfach deshalb, weil er dem Schöpfungsakt der Kunst genauso wenig traut wie dem Einzigen und seinem Eigentum im Kunstgenuss.
Bourdieu steht nur vor dem großen Problem, dass sich die symbolische Revolution, die er beschreiben will, durchgesetzt hat. Manet hat mit seinen Grenzüberschreitungen auf ganzer Linie gesiegt. Deshalb können seine Bilder heute auf Kaffeetassen und Keksdosen erscheinen, ohne das geringste Aufsehen zu erregen. Deshalb ist das "Frühstück im Grünen" heute nach der "Mona Lisa" das am häufigsten besprochene und gedeutete Bild überhaupt. Und deshalb kann sein Publikum auch so oft lachen. Die Kämpfe von damals scheinen hinter der Kunstkritik von gestern zu liegen. Bourdieu versucht dem am Anfang der Vorlesungen immer entgegenzuwirken, indem er darauf hinweist, dass sich keine seiner Diagnosen zu den Kritikern Manets erledigt habe. Noch immer machen sich konservative Kunstkritiker zu Sprachrohren des sprachlosen "gemeinen Volksempfindens" gegenüber der Kunst. Ebenso werden nach wie vor Formalismus und Realismus in der Kunst gegeneinander ausgespielt, als hätte es Manet nie gegeben.
Bourdieu hält den Gegensatz von Realismus und Formalismus generell für falsch. In Manets Werken verbindet sich beides. Formale Aspekte wie die Vernachlässigung der Perspektive, welche die Figuren im Hintergrund nicht kleiner werden lässt oder aber gerade im Vordergrund klein macht, oder die realistische Frauendarstellung der Olympia, die das Bild in der damaligen Zeit hässlich erscheinen ließ. Es geht nach Bourdieu immer um etwas anderes im Bild als um bloße Realien und Formalismen. Wenn Manet die Hierarchien durcheinanderbringt, indem er zu groß malt oder "echte" Frauen in historisierende Sujets aus der Malereigeschichte legt, melden sich in der Kritik wie in der Publikumswahrnehmung immer auch die "Affinitäten der Hierarchien", wie Bourdieus Begriff für diesen Wahrnehmungsaffekt lautet. Ein Affekt, der sich heute eben überhaupt nicht erledigt hat.
Man kann postum Bourdieu, der 2002 gestorben ist, beruhigen. Seine Analyse hat überhaupt nichts an Gegenwärtigkeit verloren. Im Gegenteil, je länger man in seinen Vorlesungen liest, desto gegenwärtiger wird das Panoptikum der Kritiker, seien es nun Literatur- oder Kunstkritiker. Wenn er etwa die Kritiker Manets als Platzanweiser beschreibt, als Leute, welche die Bilder an ihren Platz außerhalb des Kanons verweisen, dann ist er nach wie vor in der Zeit. Gerade in den diversen Revivals von Subkulturen der siebziger und achtziger Jahre ist der Platzanweiser eine dominierende Figur und dann besonders nervig, wenn es sich um einen Künstler handelt, der dabei war, und der Kritiker von heute aus den Dingen ihren Platz zuweist, um die Distanzen wieder herzustellen, die ihn von den anderen trennen.
Bourdieu ist in solchen Momenten seiner Analyse so gegenwärtig, wie er sich selbst das wahrscheinlich nicht erträumt hat. Denn der Platzanweiser als Subkulturfigur war zu Manets Zeiten noch unbekannt. Die Subkultur spielte noch nicht im Institut français oder im Goethe-Institut. Sie formierte sich erst als Boheme, und ihre Formierung gehört zu einer der Bedingungen für Manets Schaffen und Erfolg. Bourdieu beschreibt Manet als einen Zwitter, der weder Bourgeois noch Boheme war. Manet entstammte dem Verwaltungsadel, sein Vater war Richter und Landbesitzer, der 1862 starb. Die Brüder Manet verkauften darauf einen Teil der Ländereien, was ihnen erhebliche Einkünfte einbrachte und dem Maler eine weitgehende Unabhängigkeit vom Kunstmarkt verschaffte. Der Witz an dieser Sache ist, das Bourdieu sie mit einem Zusatz erwähnt, in dem es heißt: "zweifellos eine wesentliche Voraussetzung - was ich in meiner Darstellung vergessen hatte -, ohne die er nicht hätte überleben können".
Man hatte sich bis dahin immer gefragt, woher dieser von der Kritik und vom Markt zu Lebzeiten nie angenommene Maler dieses Selbstbewusstsein und diese Selbstsicherheit nimmt, im Misserfolg das Richtige zu tun. Es ist aber kein Fehler oder Versäumnis Bourdieus, erst so spät in seinen Vorlesungen die materielle Unabhängigkeit ins Spiel zu bringen. Denn im Grunde geht es ihm darum zu zeigen, wie Manet auf der Basis der inkorporierten Bilder der Kunstgeschichte, seiner Beweglichkeit zwischen den Klassen und seiner Akzeptiertheit unter den Bohemiens sein eigenes Bilddenken eben in Kontakt mit einem größtmöglichen Ausschnitt der Gesellschaft formt und sehr genau bedacht in den Lücken der Institutionen und Kritik plaziert. Das war kein einsamer Schöpfungsakt, sondern ein Denken im Kampf mit der Welt der Menschen und Bilder, in der Manet sich bewegte.
CORD RIECHELMANN.
Pierre Bourdieu: "Manet - Eine symbolische Revolution. Vorlesungen am Collège de France 1998-2000". Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs. Suhrkamp, 921 Seiten, 58 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Thomas Steinfeld folgt Pierre Bourdieus beiden Vorlesungszyklen über Manets revolutionäre Bedeutung mit Skepsis. Dass Bourdieus Ausführungen über Kunstproduktion, Kritik, synthetische Farben und das Café als Ort ästhetischer Selektion der soziologischen Mühen wert sind, stellt er erst einmal in Frage. Beim Lesen dann scheinen ihm Dutzende ungeschriebene Monografien nach Unabhängigkeit zu verlangen, schon da Bourdieus Text weder gedanklich noch stilistisch zur Gänze durchgearbeitet ist, wie Steinfeld vermerkt. Die dauernden Abschweifungen des Autors scheinen ihm allenfalls für eine Soziologie Pierre Bourdieus zu taugen. Außerdem deuten sie für ihn auf ein theoretisches Problem hin: auf den Hiat zwischen der Erfahrung des Betrachters mit dem Werk einerseits und einer historisch argumentierenden Soziologie andererseits. Über Manet, den Impressionismus und die Avantgarde verraten sie wenig, meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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