Sommer 1952. Als Patrick Leigh Fermor 37-jährig über das Taygetos-Gebirge in das bitterschöne Land der Manioten bis an den südlichsten Zipfel der Peloponnes wandert, ist er in seiner Heimat bereits ein Kultautor. "Es gibt kaum einen Fels oder Bach, zu dem es keine Schlacht und keinen Mythos gibt, kein Wunder, keinen Aberglauben, keine Geschichte... Meine Streifzüge durch Griechenland gelten den entlegensten Landstrichen, denn dort findet man, wonach ich suche." Gerade in der rauen, vom übrigen Griechenland durch den Taygetos abgeschnittenen Mani wittert Fermor Lebensformen und Bräuche, die direkt aus dem untergegangenen Byzanz oder dem mythischen Altertum zu kommen scheinen. So findet sich in der aus dem Stegreif gesungenen Totenklage, wenn die Sängerin sich die Haare rauft, Andromaches Trauer um Hektor wieder.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2011Durch das unentdeckte Griechenland
Das Buch des jüngst verstorbenen Reiseschriftstellers Patrick Leigh Fermor über die Mani in neuer Übersetzung
Wie unwirtlich das Ziel der Wanderung sein würde, verriet schon der Blick in den Atlas: "Auf der Karte sieht der Südteil der Peloponnes wie ein unförmiger Zahn aus, der eben erst aus dem Gaumen gerissen wurde, und drei Halbinseln zeigen südwärts wie zerklüftete, karieszerfressene Wurzeln." Die berühmten Schauplätze der Antike, die legendären Erinnerungsorte der Menschheit erwarte man hier vergebens, warnt Patrick Leigh Fermor im Vorwort seines 1958 erstmals veröffentlichten, nun neu übertragenen Buches über die Halbinsel Mani.
Sein Bericht sei das Gegenteil eines Reiseführers, sein Streifzug ein Abenteuer in den entlegensten, kaum von Touristen heimgesuchten Landstrichen Griechenlands - "denn dort findet man, wonach ich suche". Jene Berg- und Inselbewohner nämlich, die noch im Einklang sind mit ihrem Lebensraum und ihrer Geschichte. In den zivilisierteren Gegenden wäre ein solches Unternehmen bereits sinnlos: "In den Städten und im zugänglicheren Flachland werden Bereiche des Lebens, die jahrhundertelang unberührt blieben, jetzt in Windeseile zerstört - ja, vieles ist verschwunden, seit ich zum ersten Mal nach Griechenland gekommen bin. Antike und berühmte Stätten werden sorgfältig bewahrt, doch zwischen Coca-Cola-Flasche und Eisernem Vorhang wird vieles, was alt und ehrwürdig ist, werden viele lebendige Zeugen der Geschichte dieses Landes in den Staub getreten."
Die Schatten der Vergangenheit können sich allerdings, wie Phönix aus der Asche, wieder aus dem Staub erheben, lebendig werden für den, der ihnen abseits ausgetretener Pfade nachspürt. Ähnlich wie Claude Lévi-Strauss sucht Fermor nach dem, was von der westlichen Kontamination noch eben verschont blieb, und er findet davon reichlich: die exzessiven Trauer- und Begräbnisriten der Frauen, das Miteinander christlicher und heidnischer Bräuche, die Heiligung der Gastfreundschaft wie der Blutrache und die Allgegenwart des Sterbens. Wie sehr sich der vor kurzem mit 96 Jahren verstorbene Autor (F.A.Z. vom 14. Juni) der schriftstellerischen Aufgabe des Bewahrens, der Rettung durch Vergegenwärtigung verpflichtet fühlte, wussten schon die Leser seiner sagenhaften Wanderung nach Konstantinopel, deren erste beide Bände wie das hier besprochene Buch zu der im Züricher Dörlemann Verlag erscheinenden Werkausgabe gehören. Am dritten, abschließenden Band schrieb Fermor bis zuletzt. 1933 war er, achtzehn Jahre alt, von London aus zum Bosporus aufgebrochen, hatte Holland und Deutschland, Österreich, Ungarn und Rumänien durchquert und war überall auf letzte Reste einer untergegangenen Epoche gestoßen. Die verarmten Adligen der zerbrochenen k.u.k Monarchie erzählten ihm ebenso wie die plötzlich auf rumänischem Boden sitzenden ungarischen Gutsbesitzer vom Glanz einer Welt, die im Ersten Weltkriegs versunken war. Für den heutigen Leser, der um die ungleich größeren Verheerungen des folgenden Völkerschlachtens weiß, ist auch diese Zwischenkriegszeit längst nostalgisch verklärt, eine Welt von gestern.
Dass der Erkunder der Mani schon halb Europa durchwandert und in Kreta als britischer Offizier gegen die deutschen Invasoren gekämpft hat, merkt man dem Buch nur selten an. Es ist ein Zeugnis jugendlicher Welteroberung, das sich um streng chronologische Reiseschilderungen ebenso wenig schert wie um Fragen erzählerischer Ökonomie. Das angelesene Wissen, die gehörten Anekdoten, die eigenen Erlebnisse werden in enzyklopädischer Fülle ausgebreitet, ohne Rücksicht auf die Aufnahmefähigkeit des Lesers, sein vielleicht nicht ganz so ausgeprägtes Interesse an genealogischen Verästelungen, den manchmal erst nach Seiten endenden Aufzählungen von Herrschergeschlechtern und Schlachterfolgen - "wurde aber auch Zeit, höre ich den Leser murmeln".
Dass die Faszination für den mäandernden Gang des Berichts nie nachlässt, liegt an der literarischen Meisterschaft, dem erzählerischen Charme dieser "Reise ins unentdeckte Griechenland" (so der Untertitel einer früheren Ausgabe), den die Neuübersetzung von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié wunderbar bewahrt. Fermor begegnet der Ödnis dieser Beinhaus- und Totenschädellandschaft und der Verschlossenheit ihrer Bewohner mit ungebrochener Empathie. Warnungen vor Räubern, Mördern, Diebsgesindel gelten ihm wenig. So werden selbst Darstellungen gefahrvoller Situationen zu zauberhaft atmosphärischen Schilderungen, die alle Qualen und Mühen gleichsam in sich aufheben: "Die Sonne stand hoch am Himmel, kein einziger Schatten, die Felsen warfen das Licht mit einem metallischen Gleißen zurück; die ganze Landschaft flirrte, sie wogte und waberte in der gnadenlosen Mittagsglut. Das einzige Zeichen, dass es doch Hoffnung auf Rettung gab, lag südostwärts in weiter Ferne. Dort schimmerte durch eine tiefe Kerbe im Ring der Gebirge bleich und dunstig das Ionische Meer ... Alles bis auf diesen fernen Schimmer war ein Abgrund der Verzweiflung."
Ein Abgrund der Verzweiflung war die Mani immer wieder auch für jene, die sie beherrschen wollten. Nicht nur die türkischen Eroberer wurden vertrieben, auch die griechische Regierung musste bald erkennen, dass keine Region weniger zu einem modernen europäischen Staat passen wollte. Schulen waren hier lange Zeit unbekannt, die Alphabetisierung entsprechend gering, in kultureller Hinsicht schien der rückständige, bildungsferne Landstrich gänzlich unfruchtbar. Die Flüche der Mani aber, und das sollte zu denken geben, gelten noch immer "als die schlimmsten und wirksamsten in ganz Griechenland".
MATTHIAS WEICHELT
Patrick Leigh Fermor: "Mani". Reisen auf der südlichen Peloponnes.
Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Dörlemann Verlag, Zürich 2010. 475 S., geb. 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Buch des jüngst verstorbenen Reiseschriftstellers Patrick Leigh Fermor über die Mani in neuer Übersetzung
Wie unwirtlich das Ziel der Wanderung sein würde, verriet schon der Blick in den Atlas: "Auf der Karte sieht der Südteil der Peloponnes wie ein unförmiger Zahn aus, der eben erst aus dem Gaumen gerissen wurde, und drei Halbinseln zeigen südwärts wie zerklüftete, karieszerfressene Wurzeln." Die berühmten Schauplätze der Antike, die legendären Erinnerungsorte der Menschheit erwarte man hier vergebens, warnt Patrick Leigh Fermor im Vorwort seines 1958 erstmals veröffentlichten, nun neu übertragenen Buches über die Halbinsel Mani.
Sein Bericht sei das Gegenteil eines Reiseführers, sein Streifzug ein Abenteuer in den entlegensten, kaum von Touristen heimgesuchten Landstrichen Griechenlands - "denn dort findet man, wonach ich suche". Jene Berg- und Inselbewohner nämlich, die noch im Einklang sind mit ihrem Lebensraum und ihrer Geschichte. In den zivilisierteren Gegenden wäre ein solches Unternehmen bereits sinnlos: "In den Städten und im zugänglicheren Flachland werden Bereiche des Lebens, die jahrhundertelang unberührt blieben, jetzt in Windeseile zerstört - ja, vieles ist verschwunden, seit ich zum ersten Mal nach Griechenland gekommen bin. Antike und berühmte Stätten werden sorgfältig bewahrt, doch zwischen Coca-Cola-Flasche und Eisernem Vorhang wird vieles, was alt und ehrwürdig ist, werden viele lebendige Zeugen der Geschichte dieses Landes in den Staub getreten."
Die Schatten der Vergangenheit können sich allerdings, wie Phönix aus der Asche, wieder aus dem Staub erheben, lebendig werden für den, der ihnen abseits ausgetretener Pfade nachspürt. Ähnlich wie Claude Lévi-Strauss sucht Fermor nach dem, was von der westlichen Kontamination noch eben verschont blieb, und er findet davon reichlich: die exzessiven Trauer- und Begräbnisriten der Frauen, das Miteinander christlicher und heidnischer Bräuche, die Heiligung der Gastfreundschaft wie der Blutrache und die Allgegenwart des Sterbens. Wie sehr sich der vor kurzem mit 96 Jahren verstorbene Autor (F.A.Z. vom 14. Juni) der schriftstellerischen Aufgabe des Bewahrens, der Rettung durch Vergegenwärtigung verpflichtet fühlte, wussten schon die Leser seiner sagenhaften Wanderung nach Konstantinopel, deren erste beide Bände wie das hier besprochene Buch zu der im Züricher Dörlemann Verlag erscheinenden Werkausgabe gehören. Am dritten, abschließenden Band schrieb Fermor bis zuletzt. 1933 war er, achtzehn Jahre alt, von London aus zum Bosporus aufgebrochen, hatte Holland und Deutschland, Österreich, Ungarn und Rumänien durchquert und war überall auf letzte Reste einer untergegangenen Epoche gestoßen. Die verarmten Adligen der zerbrochenen k.u.k Monarchie erzählten ihm ebenso wie die plötzlich auf rumänischem Boden sitzenden ungarischen Gutsbesitzer vom Glanz einer Welt, die im Ersten Weltkriegs versunken war. Für den heutigen Leser, der um die ungleich größeren Verheerungen des folgenden Völkerschlachtens weiß, ist auch diese Zwischenkriegszeit längst nostalgisch verklärt, eine Welt von gestern.
Dass der Erkunder der Mani schon halb Europa durchwandert und in Kreta als britischer Offizier gegen die deutschen Invasoren gekämpft hat, merkt man dem Buch nur selten an. Es ist ein Zeugnis jugendlicher Welteroberung, das sich um streng chronologische Reiseschilderungen ebenso wenig schert wie um Fragen erzählerischer Ökonomie. Das angelesene Wissen, die gehörten Anekdoten, die eigenen Erlebnisse werden in enzyklopädischer Fülle ausgebreitet, ohne Rücksicht auf die Aufnahmefähigkeit des Lesers, sein vielleicht nicht ganz so ausgeprägtes Interesse an genealogischen Verästelungen, den manchmal erst nach Seiten endenden Aufzählungen von Herrschergeschlechtern und Schlachterfolgen - "wurde aber auch Zeit, höre ich den Leser murmeln".
Dass die Faszination für den mäandernden Gang des Berichts nie nachlässt, liegt an der literarischen Meisterschaft, dem erzählerischen Charme dieser "Reise ins unentdeckte Griechenland" (so der Untertitel einer früheren Ausgabe), den die Neuübersetzung von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié wunderbar bewahrt. Fermor begegnet der Ödnis dieser Beinhaus- und Totenschädellandschaft und der Verschlossenheit ihrer Bewohner mit ungebrochener Empathie. Warnungen vor Räubern, Mördern, Diebsgesindel gelten ihm wenig. So werden selbst Darstellungen gefahrvoller Situationen zu zauberhaft atmosphärischen Schilderungen, die alle Qualen und Mühen gleichsam in sich aufheben: "Die Sonne stand hoch am Himmel, kein einziger Schatten, die Felsen warfen das Licht mit einem metallischen Gleißen zurück; die ganze Landschaft flirrte, sie wogte und waberte in der gnadenlosen Mittagsglut. Das einzige Zeichen, dass es doch Hoffnung auf Rettung gab, lag südostwärts in weiter Ferne. Dort schimmerte durch eine tiefe Kerbe im Ring der Gebirge bleich und dunstig das Ionische Meer ... Alles bis auf diesen fernen Schimmer war ein Abgrund der Verzweiflung."
Ein Abgrund der Verzweiflung war die Mani immer wieder auch für jene, die sie beherrschen wollten. Nicht nur die türkischen Eroberer wurden vertrieben, auch die griechische Regierung musste bald erkennen, dass keine Region weniger zu einem modernen europäischen Staat passen wollte. Schulen waren hier lange Zeit unbekannt, die Alphabetisierung entsprechend gering, in kultureller Hinsicht schien der rückständige, bildungsferne Landstrich gänzlich unfruchtbar. Die Flüche der Mani aber, und das sollte zu denken geben, gelten noch immer "als die schlimmsten und wirksamsten in ganz Griechenland".
MATTHIAS WEICHELT
Patrick Leigh Fermor: "Mani". Reisen auf der südlichen Peloponnes.
Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Dörlemann Verlag, Zürich 2010. 475 S., geb. 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Dass die Faszination für den mäandernden Gang des Berichts nie nachlässt, liegt an der literarischen Meisterschaft, dem erzählerischen Charme dieser Reise ins unentdeckte Griechenland, den die Neuübersetzung von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié wunderbar bewahrt.«
Matthias Weichelt, Frankfurter Allgemeine Zeitung
»Die 'Reisen auf der südlichen Peloponnes' sind eine einzigartige Mischung aus Abenteuerroman und kulturhistorischer Untersuchung, aus lyrischer Erzählung und linguistischer Erörterung, aus persönlicher Anekdote, politischer Geschichte und Naturbetrachtung.«
Tobias Lehmkuhl, Süddeutsche Zeitung
»Es ist der Bericht eines Forschungsreisenden, aus einer Zeit, als das Reisen noch ein Abenteuer war. ... Belebt von belauschten Gesprächen der Manioten in ihren Kaffeehäusern, ist dieses Buch auch eine Reise in die Vergangenheit.«
Hans W. Korfmann, Die Zeit
»Das ist ein herzerwärmendes Buch voller schöner Bilder und großartiger Ereignisse - es ist ungeheuer elegant geschrieben.«
Tobias Lehmkuhl, WDR3
»Jetzt ist im Schweizer Dörlemann Verlag eine fulminante Neuausgabe in der hinreißenden Übersetzung von Manfred und Gabriele Allié erschienen. Zum rechten Zeitpunkt, denn Fermors Reisebeschreibung, so scheint es, ist gerade jetzt hochaktuell. ... Und natürlich schildert er die vermeintlich so öde Landschaft und ihre Bewohner mit einer poetischen Kraft, dass man sich wünscht, man dürfte danebensitzen bei den frugalen Vespern mit hartem Bauernbrot, einer Handvoll Oliven, Ziegenkäse und zwei in einer Viehtränke gekühlten Flaschen Retsina. ... Und wenn man die letzte Seite dieses Buches umgedreht hat, nachdem einem wieder einmal klar geworden ist, wo sich die Wiege Europas befindet, gönnt man den Griechen jeden Cent, den sie vom kalten Norden brauchen.«
Georg Schmidt, Deutschlandradio Kultur
Matthias Weichelt, Frankfurter Allgemeine Zeitung
»Die 'Reisen auf der südlichen Peloponnes' sind eine einzigartige Mischung aus Abenteuerroman und kulturhistorischer Untersuchung, aus lyrischer Erzählung und linguistischer Erörterung, aus persönlicher Anekdote, politischer Geschichte und Naturbetrachtung.«
Tobias Lehmkuhl, Süddeutsche Zeitung
»Es ist der Bericht eines Forschungsreisenden, aus einer Zeit, als das Reisen noch ein Abenteuer war. ... Belebt von belauschten Gesprächen der Manioten in ihren Kaffeehäusern, ist dieses Buch auch eine Reise in die Vergangenheit.«
Hans W. Korfmann, Die Zeit
»Das ist ein herzerwärmendes Buch voller schöner Bilder und großartiger Ereignisse - es ist ungeheuer elegant geschrieben.«
Tobias Lehmkuhl, WDR3
»Jetzt ist im Schweizer Dörlemann Verlag eine fulminante Neuausgabe in der hinreißenden Übersetzung von Manfred und Gabriele Allié erschienen. Zum rechten Zeitpunkt, denn Fermors Reisebeschreibung, so scheint es, ist gerade jetzt hochaktuell. ... Und natürlich schildert er die vermeintlich so öde Landschaft und ihre Bewohner mit einer poetischen Kraft, dass man sich wünscht, man dürfte danebensitzen bei den frugalen Vespern mit hartem Bauernbrot, einer Handvoll Oliven, Ziegenkäse und zwei in einer Viehtränke gekühlten Flaschen Retsina. ... Und wenn man die letzte Seite dieses Buches umgedreht hat, nachdem einem wieder einmal klar geworden ist, wo sich die Wiege Europas befindet, gönnt man den Griechen jeden Cent, den sie vom kalten Norden brauchen.«
Georg Schmidt, Deutschlandradio Kultur