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Das Volk aushungern: Frank Dikötter bilanziert die Folgen von Maos Politik des "Großen Sprungs nach vorn", Zhou Xun sammelt Berichte Überlebender.
Von Jürgen Osterhammel
Wie vormoderne Gesellschaften überall auf der Welt, so hat auch China in der dokumentierten Geschichte unzählige regionale Nahrungsmittelengpässe und mehrfach großflächige Hungersnöte erlebt. Zugleich war der Staat der Kaiserzeit ungewöhnlich erfolgreich in der Prävention von Hunger und der Milderung seiner Folgen; bis ins 18. Jahrhundert hinein funktionierte das System der staatlichen Getreidespeicher einigermaßen gut und war weltweit ohne Beispiel. Wetterbedingte Trockenheit, der Verlust von Ackerland durch Überschwemmungen sowie innerer Krieg waren die typischen Ursachen für Ernteausfälle. Noch 1928 bis 1930 forderte eine Dürre in Nordchina um die zehn Millionen Menschenleben; der chinesische Historiker Xia Mingfang hat geschätzt, dass zwischen 1911 und 1948 über 18 Millionen Menschen Opfer von Naturkatastrophen wurden.
Ende der fünfziger Jahre war die chinesische Landwirtschaft noch nicht wesentlich über ihr bescheidenes Niveau zur Zeit der Gründung der Volksrepublik 1949 hinausgelangt; ein beschleunigtes Bevölkerungswachstum drückte auf die produktiven Kapazitäten. Chinas Ernährungslage blieb auch noch ein Jahrzehnt nach der kommunistischen Machtübernahme prekär. Der "Höllensturz", den Frank Dikötter für das Jahr 1958 feststellt, brach nicht aus heiterem Himmel in Verhältnisse ein, in denen Reis für alle als selbstverständlich galt.
Dennoch war die Hungersnot, die in den Jahren 1959, 1960 und 1961 direkt mehrere Provinzen verheerte und mit ihren indirekten Auswirkungen das ganze Land erfasste, nach Art und Umfang beispiellos. Sie war die Folge eines politisch und ideologisch motivierten Herumpfuschens an einer extrem empfindlichen Agrarökonomie: keines "Menschenexperiments", wie die Übersetzung von Dikötters zuerst 2010 auf Englisch erschienenem Buch missverständlich suggeriert, sondern einer verhängnisvoll fehlschlagenden Sozialtechnologie, eines utopischen Mobilisierungswahns.
Diesem Wahn gaben seine Urheber den Namen "Großer Sprung nach vorn". Die Hungersnot war weniger "Massenmord" im Sinne des zielstrebigen Versuchs einer Regierung, Teile ihrer eigenen Bevölkerung umzubringen, als die unintendierte Nebenwirkung einer illusionären Politik usurpatorischer Machthaber. Sie waren bereit, rücksichtslos Menschenleben für höhere Systemziele zu opfern, und hatten den korrigierenden Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Deshalb bedeutete es eine Revolution innerhalb der Revolution, als Deng Xiaoping, einst einer der rabiatesten Antreiber des Großen Sprungs, 1978 mit der scheinbar harmlosen Aufforderung "Die Wahrheit in den Tatsachen suchen!" die Abkehr von seinem früheren Herrn und Meister Mao Tse-tung einleitete.
In der ersten Hälfte seines Buches führt Frank Dikötter langsam zur Hungersnot hin. Er beschreibt, selten über Bekanntes hinausgehend, ihre Voraussetzungen im Großen Sprung, den er treffend als gigantische Militarisierung der ländlichen Zivilbevölkerung charakterisiert. Der Große Sprung entstand aus der Erwartung der kommunistischen Parteiführung, innerhalb weniger Jahre sowohl Großbritannien als auch die UdSSR des verachteten Entstalinisierers Chruschtschow wirtschaftlich zu überflügeln und mit einer letzten Anstrengung vom Sozialismus ins Paradies des Kommunismus zu springen. Dazu gehörten der Kampf gegen Privateigentum und gegen Familienhaushalt und Dorf als den Grundelementen der Gesellschaft durch die Einführung von "Volkskommunen"; das Abkommandieren von Zigmillionen von Arbeitskräften aus der Erntearbeit in wahnwitzige Infrastrukturprojekte; dilettantische Experimente mit Wundertechniken des Landbaus; die Vernichtung unentbehrlichen Inventars - bis hin zu Kochtöpfen und Nähnadeln - durch Einschmelzen in zahllosen improvisierten "Hochöfen". Dass der Staat auch in Zeiten einer akuten Versorgungskrise ungerührt einen hohen Anteil der landwirtschaftlichen Produktion abschöpfte, um die Städte zu versorgen, Exporterlöse zu erwirtschaften und Schulden bei der Sowjetunion zu begleichen, verschärfte die Lage.
Die zweite Hälfte des Buches ist mit einer Litanei des Grauens gefüllt. In den Provinzarchiven, die Dikötter und sein Forschungsteam auswerten durften, fanden sie Hunderte von Einzelschicksalen dokumentiert; lokale Statistiken berichten von der Auslöschung ganzer Dörfer. Da fanatisierte Parteikader nicht selten die Direktiven von oben mit schonungsloser Gewalt durchsetzten, sind neben dem stillen Verhungern die anderen typischen Todesarten aus dem Arsenal des Totalitarismus zu verzeichnen: Folter, Hinrichtung, Erschöpfung durch Zwangsarbeit. Nichts war für den Großen Sprung charakteristischer als die obrigkeitliche Verweigerung von Nahrung. Wer von der Kantinenschlange ausgeschlossen wurde, war dem Tode geweiht: "deliberate starvation", wie jüngst in einem UN-Bericht für das Nordkorea der Gegenwart festgestellt.
All dies kann man bereits bei Yang Jisheng nachlesen. Das Buch "Grabstein" des großen chinesischen Journalisten und Historikers erschien 2012 in deutscher Übersetzung (F.A.Z. vom 3. Oktober 2012). Es bleibt das unübertroffene Grundwerk zu den Irrtümern und Verbrechen des Großen Sprungs. Yang wie Dikötter sehen die Ursprünge der Tragödie in der unkontrollierten Willkür einer Kommunistischen Partei, die nach der Machtübernahme an der Idee vom permanenten "Kampf" festhielt: gegen Klassenfeinde, das Ausland, die Natur, das private Leben. Aber Dikötter hat keine genauere Analyse anzubieten als das wuchtige Urteil des Zeitzeugen und Insiders Yang.
Das liegt daran, dass er in die modisch gewordene Stilisierung Mao Tse-tungs zum größten Monster der Geschichte neben Stalin und Hitler einstimmt. Wie kam es aber nach 1958 zur Vorherrschaft Maos, der seine Rivalen damals noch keineswegs in stalinistischer Manier liquidierte? Wie konnte es geschehen, dass Mao nach dem Großen Sprung in den Hintergrund gedrängt wurde - unvorstellbar für Stalin? Wie erklärt sich, dass in einem angeblich lückenlosen Kommandosystem die Weisungen der Zentrale mit stark variierender Konsequenz ausgeführt wurden?
In benachbarten Landkreisen mit gleichen Wetterverhältnissen und ökonomischen Voraussetzungen konnte die Hungersnot einen ganz unterschiedlichen Verlauf nehmen. Kader auf Provinz-, Kreis- und Lokalebene hatten durchaus Spielräume für übereifrige oder schleppende Befehlserfüllung. Dem verständlichen Wunsch nach plakativen Opferzahlen sollten Historiker widerstehen. Eine halbwegs verlässliche Datenerhebung gab es damals in China nicht. Angesichts der von Region zu Region sehr unterschiedlichen Lage sind Extrapolationen auf der Grundlage einzelner Statistikfunde in den Archiven höchst problematisch. Und die Ergebnisse schwanken je nachdem, was gezählt oder geschätzt wird: Hungertote im engen Sinne, Opfer aller Arten von direkter und "struktureller" Gewalt oder Mortalitätsüberschüsse und Geburtendefizite nach dem Maßstab einer schwer zu bestimmenden Normalität. Die bisher am häufigsten genannten Zahlen für ganz China liegen bei 32 bis 36 Millionen. Dikötter kommt auf 45 Millionen, doch man sieht seine Gründe nicht so recht. Und was bedeutet ein solcher body count für historisches Urteil und moralische Bewertung?
Die Schrecken, wie sie bei Dikötter in monotonem Stakkato bilanziert werden, verdichten sich in den Berichten von Überlebenden, die seine Mitarbeiterin Zhou Xun aufgezeichnet und kommentiert hat, zu Bildern von bleibender Eindringlichkeit: Menschen, die auf Feldern "grasen", Bäume, vor denen der Besucher einer Hungerlandschaft erst nach einer Schockminute begreift, warum sie "weiß" aussehen: ihre Rinde wurde verzehrt. Zhou Xun, die ihre Interviews in den letzten Jahren führte, stellt auch die Beziehung zum heutigen China her: einem Land, wo es nicht weit von den Glitzerstädten archaische Armut gibt, wo ein Kitsch-Mao als Talisman millionenfach Übel abwenden soll. Yang Jishengs Buch ist selbstverständlich verboten.
Frank Dikötter: "Maos Großer Hunger". Massenmord und Menschenexperiment in China.
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2014. 526 S., geb., 29,95 [Euro].
Zhou Xun: "Forgotten Voices of Mao's Great Famine, 1958-1962". An Oral History.
Yale University Press, New Haven und London 2013. 315 S., geb., 27,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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