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Fallstudien aus der Rechtsgeschichte: Michael Stolleis erzählt von Predigern, verschwenderischen Frauen, Sozialreformern und Advokaten.
Von Patrick Bahners
In den ersten drei Monaten des Jahres 1694 lieferte der Schumacher Johann Paul Gabler neunzehn Paar Schuhe ins Haus von Dr. Johann Wolfgang Textor, dem Syndikus der Reichsstadt Frankfurt am Main. Dreizehn Paare, die meisten mit Stickerei oder Borten verziert, waren für die Dame des Hauses bestimmt, Maria Sibylla Textor, geborene Fleischbein, die übrigen für die Kinder des Hausherrn aus erster Ehe. Die Quartalsrechnung des Schumachers belief sich auf 35 Gulden und 36 Kreuzer. Dieser Betrag ist überliefert, weil Textor ihn nicht bezahlt hat.
Dem Rechtsberater des Frankfurter Stadtrats widerfuhr die Peinlichkeit, dass er als säumiger Schuldner verklagt wurde, nicht von Gabler allein, sondern von fünfzehn Frankfurter Kaufleuten und Handwerkern, bei denen Frau Textor auf Kredit eingekauft hatte, bevor sie nach nur acht Monaten Ehe ihren 37 Jahre älteren Gatten, die Stiefkinder und das Haus verließ. Die Forderungen der "Textorischen Creditoren" summierten sich auf 1971 Gulden, 26 Kreuzer und drei Pfennig.
Aufgeschlüsselt sind ihre Ansprüche in einer Akte des Reichskammergerichts, das die Gläubiger am 23. März 1695 anriefen. Eine Woche vorher war ihre Klage in erster Instanz abgewiesen worden. Das Schöffengericht, dem der Schwiegervater des Beklagten angehörte, hatte den Fall nach außen abgegeben und ein Gutachten der Juristischen Fakultät der Universität Leipzig angefordert, dem nach damaligem Brauch Urteilskraft zukam. Bis 1691 war Textor selbst Professor gewesen, an der kurpfälzischen Universität Heidelberg.
Für die Frankfurter Stelle hatte er sich durch Gutachtertätigkeit im Grenzgebiet von privatem und öffentlichem Recht empfohlen. Die Auslagerung der Entscheidung änderte also nichts daran, dass Kollegen sich mit Dr. Textors Sache zu befassen hatten. Der Besorgnis der Befangenheit kann man schwer aus dem Weg gehen, wo professionelle Reputation in Netzwerken erworben und bewirtschaftet wird.
Solche mehr oder weniger zeitlosen rechtssoziologischen Beobachtungen, manchmal ausbuchstabiert, öfter implizit, gehören zu den Erträgen, die bei der Lektüre der gesammelten Gelegenheitsarbeiten von Michael Stolleis nebenbei anfallen. Man schnappt auch allerhand Informationen auf, die so etwas wie die Borten des Schuhwerks der rechtshistorischen Thesenbildung sind, sozusagen pures historisches Wissen, diverse Fakten aus der frühen bis nicht allzu späten Neuzeit. Bürgermeistertochter (18) lässt städtischen Starjuristen (55) bei der Scheidung auf Schuhkartons und Schulden sitzen: Das wäre schönster Stoff fürs Vermischte, jenes Ressort der Zeitungen, in dem es früher auch Platz für Rubriken à la "Hätten Sie's gewusst?" gab.
Was heißt "Rechtsgeschichte in Geschichten"? Mit Ausnahme der Kommentare zu Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel, die ihrem Gegenstand die Ehre der Imitation durch Interpretation erweisen, laufen die Fallstudien des Bandes nicht auf Pointen hinaus. Das vom Untertitel der Sammlung versprochene anekdotische Prinzip regiert weniger die Themenwahl - es gibt auch Überblicksartikel - als die Machart der einzelnen Kapitel, die aus vielen kleinen Geschichten zusammengenäht sind.
Textors Gläubiger blitzten in Leipzig ab. Der Spruch der Gutachter beantwortete eine Rechtsfrage aus dem Umkreis eines Forschungsschwerpunkts des Frankfurter Max-Planck-Instituts, als dessen Direktor Stolleis von 1992 bis 2009 wirkte. Unter welcher Voraussetzung hätte Dr. Textor für die von seiner Frau angehäuften Verbindlichkeiten eintreten müssen? Unstrittig war, dass eine Ehefrau der Dispositionsmacht des Familienvaters zum Trotz ihren Mann verpflichten konnte, Anschaffungen der gewöhnlichen Haushaltsführung zu bezahlen. Textors Advokat musste deshalb geltend machen, die Rechnungen beträfen Luxusausgaben, die den Rahmen der für das Haus eines Stadtsyndikus schicklichen Ausstattung sprengten.
Der Konsum, von dem die Wirtschaft einer Stadt wie Frankfurt lebte, wurde reguliert durch Vorschriften der standesgemäßen Lebensführung. Dieser ständisch abgestufte moralische Verbraucherschutz war ein Teil der umfassenden Verrechtlichung der Sitten unter dem Leitbegriff der "guten Polizey". Als Satire auf den Traum vom wohlwollenden Polizeistaat entschlüsselt Stolleis in dem Aufsatz über "Die Wunderinsel Barataria" eine Episode des "Don Quijote": Sancho Panzas zehntägiges Regiment als Gouverneur der vermeintlichen Insel, die in Wirklichkeit ein Dorf ist, aber durch die kartographische Fiktion als Gemeinwesen von der Art der Insel Utopia gekennzeichnet wird. Don Quijote erteilt seinem Knappen Unterricht in der Regierungslehre, deren Leitfigur der gute Richter ist: Er müsse seine Befangenheiten erkennen und dürfe sich nie von Gefühlen bestimmen lassen.
Die Würde des Amtes zeige sich in der Amtstracht; vor "Flitter und Prunk" müsse der Richter sich hüten. Beim Einzug in seinem Amtsbezirk erscheint der Gouverneur "in Gelehrtentracht gekleidet". Nach der Einsetzung auf dem Richterstuhl verkündet er sein Regierungsprogramm: "das Eiland von allem Unrat zu säubern, von Herumtreibern, Faulenzern und Stromern". Sogleich gibt er ein Beispiel segensreicher Tätigkeit, indem er im Vorübergehen, bei der Besichtigung der Märkte, "ein paar Erlasse" verkündet. Er untersagt das Aufkaufen von Lebensmitteln, erlässt eine Verordnung über die Etikettierung von Weinflaschen und setzt im Interesse der Armen die Preise der Schuhe herab. Damit inspirierte er Silvio Gesell, den Erfinder des "Freigeldes", der 1922 seine Lehre in der klassischen Form des utopischen Länderporträts erläuterte - anhand der Wirtschaftsverhältnisse der "Wunderinsel" mit dem Namen Barataria und der Hauptstadt Villapanza.
Ein Zwischenglied dieser Rezeptionsgeschichte erwähnt Stolleis nicht, die Komische Oper "The Gondoliers" von W. S. Gilbert und Arthur Sullivan aus dem Jahr 1889, in der zwei venezianische Gondelschiffer die Herrschaft in Barataria antreten. Die Doppelkönige reformieren die Reichsverfassung mit Schwung, indem sie Hofämter an alle ihre mitgereisten Kollegen verteilen. Dass das keine gute Idee ist, erklärt ihnen der Großinquisitor: "When every one is somebody, then no-one's anybody!" Darum haben sich im Staat der Rechtsgleichheit nicht nur in juristischen und akademischen Sonderwelten die Standesunterschiede erhalten. Der weise Gouverneur Sancho Panza hatte gelobt, den Hidalgos ihre Vorrechte zu lassen.
Ein standesgemäßes Leben bedeutete auch, dass ein gewisses Ausgabenniveau nicht unterschritten werden durfte. Der Mönch der Titelgeschichte des Bandes, der Franziskaner Johann von Hilten, eine Art Savonarola von Reval, gewann den Kaufmann Hermann Greve als Anhänger, der sein Haus verkaufen und seinen Sitz im Rat aufgeben musste, weil er mit dem Mönch predigend durch die Lande zog.
Stolleis neigt der von Dr. Johann Ulrich von Gülchen, dem Rechtsbeistand der Frankfurter Tuchhändler und Austernlieferanten, vor dem Reichskammergericht vertretenen Ansicht zu, man werde in der Liste der von Frau Textor bestellten Waren "nichts finden, dass contra pudorem et contra modum sey". Die Richter in Wetzlar judizierten nicht in diesem Sinne, sondern gar nicht. Am 10. Mai 1701 wurden die Akten geschlossen, ein halbes Jahr später starb der Beklagte. Der Befund der Frankfurter rechtshistorischen Schule, dass die Reichsgerichtsbarkeit besser war als ihr Ruf, hat sich in diesem Fall also nicht bestätigt. Eine wichtige Information versteckt Stolleis in einer Fußnote: Der Syndikus bezog ein jährliches Gehalt von vierhundert Gulden, wurde also für das Viereinhalbfache seines Jahreseinkommens in Haftung genommen. Für die richtige Kundschaft in den richtigen Geschäften galt in Frankfurt schon 1693: Bezahlen Sie einfach mit Ihrem guten Namen!
Die genealogische Fortuna hat es gefügt, dass die Namen in der Akte uns noch heute interessieren. Ein einziger der Textorischen Creditoren zog auch gegen die Erben von Johann Wolfgang Textor vor Gericht: der Schneider Friedrich Georg Goethe. Aber auch die Erinnerung an diesen Anhang der Geschichte der reichgekleidet entlaufenen Frau Doktorin muss sich bald verloren haben, denn der jüngste Sohn des Schneidermeisters Goethe heiratete 1748 eine Urenkelin des Syndikus Textor, und der Sohn aus dieser Ehe wurde der berühmteste Referendar des Reichskammergerichts.
Michael Stolleis: "Margarethe und der Mönch". Rechtsgeschichte in Geschichten.
Verlag C. H. Beck, München 2015. 352 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
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