Eine Autobombe in einer Seitenstraße von Tel Aviv. Ein Diamantenraub in Haifa. Bürgerkrieg im Libanon. Rebellenkämpfer im kolumbianischen Dschungel. Ein Doppelmord in Los Angeles.
Wie hängt das alles zusammen? Das weiß nur Cohen, ein Mann, der sein Land liebt.
Ein vernünftiger Mann für unvernünftige Zeiten.
Maror ist die Geschichte eines Krieges um die Seele eines Landes ‒ es ist eine wahre Geschichte. All diese Dinge sind passiert.
Wie hängt das alles zusammen? Das weiß nur Cohen, ein Mann, der sein Land liebt.
Ein vernünftiger Mann für unvernünftige Zeiten.
Maror ist die Geschichte eines Krieges um die Seele eines Landes ‒ es ist eine wahre Geschichte. All diese Dinge sind passiert.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Was die Leserschaft in diesem gewaltigen Politthriller erwartet, kündigt der Titel schon an: "Maror" ist hebräisch und bedeutet so viel wie "bittere Kräuter", es wird zum Anfang des Pessach-Festes verspeist, um an das ägyptische Exil zu erinnern. Bitteres Kraut ist es auch, das dem Rezensenten Tobias Gohlis in Lavie Tidhars Roman verabreicht wird. Und es gemahnt ebenso an eine Vergangenheit voller Schrecken, voller Krieg, Gewalt und Hass, so Gohlis. Wie Israel "stärker, moderner, aber auch archaischer" wurde "durch Verbrechen" werde hier erzählt. Tidhar beschreibe diese Verbrechen in mehreren Episoden eindringlich, präzise, reportagenhaft und, wie er selbst meint: wahrheitsgemäß. Im dunklen Zentrum des Geschehens, als verbindendes Glied zwischen den Episoden steht ein Mann namens Cohen, der vieles sein kann und zu sein bereit ist - Waffenschmuggler, Räuber, Mörder, Landbesetzer - was immer er für sein Land für notwendig hält. Gemeinsam ergeben diese Episoden ein brachiales historisches Krimi-Epos, so der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2024Gelobtes verfluchtes Land
Manches lässt sich unmöglich verhindern. Krieg. Drogen. Aber man kann sie verwalten. Und das machen wir. Wir halten die Stellung. Wir wahren den Frieden", so erklärt Cohen seine Lebenseinstellung einem jungen Soldaten. Es ist das Jahr 1986 und Cohen hat sich vom israelischen Streifenpolizisten zu einem wichtigen Mann in Ermittler- und Geheimdienstkreisen hochgearbeitet. So abgeklärt, wie er sich hier vor dem jüngeren Helfer gibt, war er nicht immer.
Als er zehn Jahre zuvor mit seinem Kollegen Eddie auf den brutalen Mord an einer jungen Frau am Strand von Haifa angesetzt wird, verbeißen sich die beiden Anfänger in den Fall. Eddie ist sanfter als Cohen. Als Hauptverdächtiger drängt sich ein Verehrer des Mädchens auf, der vom Militärdienst mit psychischen Schäden zurückgekehrt ist. Eddie hat Mitleid mit ihm. Cohen hingegen trägt sich mit der Erinnerung an eine Cousine herum, die unter ähnlichen Umständen wie das Opfer ums Leben gekommen ist. Kann es der gleiche Täter sein?
Die Vorgesetzten verlangen schnelle Ergebnisse, das Verhör zieht sich in die Länge, dem Geständnis hilft man mit Schlägen nach. Als sie den Fall zu den Akten legen, konstatiert Cohen gegenüber Eddie, Mörder seien nicht clever. "Die sind wie Polizisten. Wenn sie schlau wären, hätten sie was anderes aus ihrem Leben gemacht." Beiden Ermittlern ist klar, dass sie nicht den Richtigen hinter Gitter gebracht haben. Sie machen das Beste daraus, klettern die Karriereleiter nach oben. Aber Cohen behält den Fall als offene Rechnung im Gedächtnis.
Das ist nur eines der achtzehn Kapitel, in die der israelische Schriftsteller Lavie Tidhar seinen Roman "Maror" unterteilt. Über drei Jahrzehnte, von 1974 bis 2008, erstreckt sich die Handlung, folgt Drogenbossen beim Aufbau ihrer Imperien, Diamantendieben auf Raubzügen und Auftragsmördern bis nach Südamerika. Cohen taucht in allen Geschichten früher oder später auf, sitzt mal als drohender Schatten auf einer Couch neben den gefährlichsten Dealern Tel Avivs, hilft dem Sohn eines früheren Polizeichefs aus der Patsche, als der mit seinen Freunden aus Versehen die Pokerrunde eines mächtigen Unterweltbosses ausraubt, oder setzt eine Reporterin auf die Fährte von Immobilienspekulanten im Westjordanland an. Oft sind seine Motive unklar, meist fragt man sich, ob er nun endgültig die Seiten gewechselt hat, ob er jemals an so etwas wie Gerechtigkeit glaubte.
Und gerade, wenn man ihn, der selbst nach dem größten Blutbad ein religiöses Schrift-Zitat parat hat, als Racheengel abtut, seufzt er: "Das ist der Fluch unseres Landes, denke ich manchmal, wenn ich sentimental werde. Wir sind eine Nation, die ihre Kinder frisst."
Tidhar erzählt die Geschichte des Landes, in dem er geboren wurde, als blutiges Kriminalstück. Korruption und Vergeltung sind an der Tagesordnung, Politik und Verbrechen miteinander wie ein orientalisches Teppichmuster verwoben, Drogenhandel und Waffenschieberei gehen Hand in Hand. Niemand führt das ruhige Leben eines Zivilisten, denn selbst der Alltag ist immer politisch. Auf mehr als sechshundert Seiten entsteht so ein großes Gesellschaftspanorama, für das man sich auch deshalb Zeit nehmen muss, weil Tidhar nicht nur jedes der achtzehn Kapitel einer anderen Figur widmet. Er nutzt die Zäsuren auch, um Erzählperspektive und -stil zu wechseln.
In "Hava" gleitet man in den Gedankenstrom einer Bankangestellten und dreifachen Mutter, die beim Geschirrspülen an ein Treffen mit einer alten Freundin zurückdenkt. Mit jedem neuen Teller blättert eine weitere Schicht in Havas Erinnerungen ab, aus der harmlosen Frage, wer eigentlich das Nudelholz mitgenommen habe, entwickelt sich ein Mordgeständnis. Das nächste Kapitel folgt im Protokollstil dem Soldaten Nir bei einem Drogentransport über die Grenze. Und der Abschnitt, der sich der Reporterin Sylvie widmet, macht sich einen detailreichen Reportagestil zu eigen. Wenn die Journalistin hier eine große Geschichte wittert, mit der sie aus dem Klatschblatt herauskommen könnte, für das sie arbeitet und 1977 im Westjordanland recherchiert, wie israelische Immobilienspekulanten illegal Land erwerben, dann liefern die knappen, geraden Sätze immer auch Beschreibungen der Szenerie: "Das grelle Sonnenlicht blendete sie. Staubiges Gras wuchs zwischen den Mauerritzen. Das Haus hatte einen kleinen Garten, eine Ziege war dort festgebunden und fraß Gras hinter dem kaputten Zaun. Die Ziege starrte Sylvie böse an. Sylvie umschloss die Waffe in ihrer Tasche mit den Fingern."
Maror heißen die bitteren Kräuter, die man zu Beginn des jüdischen Pessachfests verspeist, zur Erinnerung an die Härte der Sklaverei vor dem Auszug aus Ägypten. Der Titel trägt Hoffnung in sich, weißt er doch auf das Zurückblicken aus einer Zukunft hin, in der sich die Situation endlich geändert hat, in der die Gesellschaft nicht mehr unter dem Joch von Zwang und Gewalt steht. Tidhar schaut mit der unsentimentalen Härte der Diaspora auf seine Heimat. Auf Hebräisch wird der Autor kaum verlegt. Mit fünfzehn Jahren verließ er den Kibbuz, in dem er aufgewachsen war, und ging ins Ausland. Nach langen Reisen in Asien und Südafrika ließ er sich in Großbritannien nieder. Von London aus publiziert er seine Romane auf Englisch, bediente dabei bislang zahlreiche Genres von Science-Fiction bis zu Fantasy und Noir-Erzählungen, selbst ein Kinderbuch findet sich auf seiner langen Publikationsliste.
In "Maror" zeigt er einmal mehr, wie präzise er schreiben und Figuren entwerfen kann. Jeder seiner zahlreichen Protagonisten, die sich über die Kapitel abwechseln, bleibt präsent. Das müssen sie auch, tauchen sie doch an der einen oder anderen Stelle wieder auf. Kein Faden bleibt am Ende lose hängen, jedes Schicksal findet seinen Abschluss - und nicht selten trägt Cohen selbst dafür Sorge, dass sich wenigstens für den Moment so etwas wie Gerechtigkeit einstellen kann. Nur das mit dem Frieden klappt nicht, denn der lässt sich mit Waffengewalt nie erzwingen. MARIA WIESNER
Lavie Tidhar: "Maror". Thriller.
Aus dem Englischen von Conny Lösch.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
639 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Manches lässt sich unmöglich verhindern. Krieg. Drogen. Aber man kann sie verwalten. Und das machen wir. Wir halten die Stellung. Wir wahren den Frieden", so erklärt Cohen seine Lebenseinstellung einem jungen Soldaten. Es ist das Jahr 1986 und Cohen hat sich vom israelischen Streifenpolizisten zu einem wichtigen Mann in Ermittler- und Geheimdienstkreisen hochgearbeitet. So abgeklärt, wie er sich hier vor dem jüngeren Helfer gibt, war er nicht immer.
Als er zehn Jahre zuvor mit seinem Kollegen Eddie auf den brutalen Mord an einer jungen Frau am Strand von Haifa angesetzt wird, verbeißen sich die beiden Anfänger in den Fall. Eddie ist sanfter als Cohen. Als Hauptverdächtiger drängt sich ein Verehrer des Mädchens auf, der vom Militärdienst mit psychischen Schäden zurückgekehrt ist. Eddie hat Mitleid mit ihm. Cohen hingegen trägt sich mit der Erinnerung an eine Cousine herum, die unter ähnlichen Umständen wie das Opfer ums Leben gekommen ist. Kann es der gleiche Täter sein?
Die Vorgesetzten verlangen schnelle Ergebnisse, das Verhör zieht sich in die Länge, dem Geständnis hilft man mit Schlägen nach. Als sie den Fall zu den Akten legen, konstatiert Cohen gegenüber Eddie, Mörder seien nicht clever. "Die sind wie Polizisten. Wenn sie schlau wären, hätten sie was anderes aus ihrem Leben gemacht." Beiden Ermittlern ist klar, dass sie nicht den Richtigen hinter Gitter gebracht haben. Sie machen das Beste daraus, klettern die Karriereleiter nach oben. Aber Cohen behält den Fall als offene Rechnung im Gedächtnis.
Das ist nur eines der achtzehn Kapitel, in die der israelische Schriftsteller Lavie Tidhar seinen Roman "Maror" unterteilt. Über drei Jahrzehnte, von 1974 bis 2008, erstreckt sich die Handlung, folgt Drogenbossen beim Aufbau ihrer Imperien, Diamantendieben auf Raubzügen und Auftragsmördern bis nach Südamerika. Cohen taucht in allen Geschichten früher oder später auf, sitzt mal als drohender Schatten auf einer Couch neben den gefährlichsten Dealern Tel Avivs, hilft dem Sohn eines früheren Polizeichefs aus der Patsche, als der mit seinen Freunden aus Versehen die Pokerrunde eines mächtigen Unterweltbosses ausraubt, oder setzt eine Reporterin auf die Fährte von Immobilienspekulanten im Westjordanland an. Oft sind seine Motive unklar, meist fragt man sich, ob er nun endgültig die Seiten gewechselt hat, ob er jemals an so etwas wie Gerechtigkeit glaubte.
Und gerade, wenn man ihn, der selbst nach dem größten Blutbad ein religiöses Schrift-Zitat parat hat, als Racheengel abtut, seufzt er: "Das ist der Fluch unseres Landes, denke ich manchmal, wenn ich sentimental werde. Wir sind eine Nation, die ihre Kinder frisst."
Tidhar erzählt die Geschichte des Landes, in dem er geboren wurde, als blutiges Kriminalstück. Korruption und Vergeltung sind an der Tagesordnung, Politik und Verbrechen miteinander wie ein orientalisches Teppichmuster verwoben, Drogenhandel und Waffenschieberei gehen Hand in Hand. Niemand führt das ruhige Leben eines Zivilisten, denn selbst der Alltag ist immer politisch. Auf mehr als sechshundert Seiten entsteht so ein großes Gesellschaftspanorama, für das man sich auch deshalb Zeit nehmen muss, weil Tidhar nicht nur jedes der achtzehn Kapitel einer anderen Figur widmet. Er nutzt die Zäsuren auch, um Erzählperspektive und -stil zu wechseln.
In "Hava" gleitet man in den Gedankenstrom einer Bankangestellten und dreifachen Mutter, die beim Geschirrspülen an ein Treffen mit einer alten Freundin zurückdenkt. Mit jedem neuen Teller blättert eine weitere Schicht in Havas Erinnerungen ab, aus der harmlosen Frage, wer eigentlich das Nudelholz mitgenommen habe, entwickelt sich ein Mordgeständnis. Das nächste Kapitel folgt im Protokollstil dem Soldaten Nir bei einem Drogentransport über die Grenze. Und der Abschnitt, der sich der Reporterin Sylvie widmet, macht sich einen detailreichen Reportagestil zu eigen. Wenn die Journalistin hier eine große Geschichte wittert, mit der sie aus dem Klatschblatt herauskommen könnte, für das sie arbeitet und 1977 im Westjordanland recherchiert, wie israelische Immobilienspekulanten illegal Land erwerben, dann liefern die knappen, geraden Sätze immer auch Beschreibungen der Szenerie: "Das grelle Sonnenlicht blendete sie. Staubiges Gras wuchs zwischen den Mauerritzen. Das Haus hatte einen kleinen Garten, eine Ziege war dort festgebunden und fraß Gras hinter dem kaputten Zaun. Die Ziege starrte Sylvie böse an. Sylvie umschloss die Waffe in ihrer Tasche mit den Fingern."
Maror heißen die bitteren Kräuter, die man zu Beginn des jüdischen Pessachfests verspeist, zur Erinnerung an die Härte der Sklaverei vor dem Auszug aus Ägypten. Der Titel trägt Hoffnung in sich, weißt er doch auf das Zurückblicken aus einer Zukunft hin, in der sich die Situation endlich geändert hat, in der die Gesellschaft nicht mehr unter dem Joch von Zwang und Gewalt steht. Tidhar schaut mit der unsentimentalen Härte der Diaspora auf seine Heimat. Auf Hebräisch wird der Autor kaum verlegt. Mit fünfzehn Jahren verließ er den Kibbuz, in dem er aufgewachsen war, und ging ins Ausland. Nach langen Reisen in Asien und Südafrika ließ er sich in Großbritannien nieder. Von London aus publiziert er seine Romane auf Englisch, bediente dabei bislang zahlreiche Genres von Science-Fiction bis zu Fantasy und Noir-Erzählungen, selbst ein Kinderbuch findet sich auf seiner langen Publikationsliste.
In "Maror" zeigt er einmal mehr, wie präzise er schreiben und Figuren entwerfen kann. Jeder seiner zahlreichen Protagonisten, die sich über die Kapitel abwechseln, bleibt präsent. Das müssen sie auch, tauchen sie doch an der einen oder anderen Stelle wieder auf. Kein Faden bleibt am Ende lose hängen, jedes Schicksal findet seinen Abschluss - und nicht selten trägt Cohen selbst dafür Sorge, dass sich wenigstens für den Moment so etwas wie Gerechtigkeit einstellen kann. Nur das mit dem Frieden klappt nicht, denn der lässt sich mit Waffengewalt nie erzwingen. MARIA WIESNER
Lavie Tidhar: "Maror". Thriller.
Aus dem Englischen von Conny Lösch.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
639 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
»Der aus einem Kibbuz stammende Lavie Tidhar erzählt in seinem fulminanten Thriller Maror, wie Israel durch Krieg und Verbrechen mächtig geworden ist. Ein großer Roman in einer heiklen Zeit, der voller Gewalt und Zorn steckt.« Sonja Hartl SWR 20240731