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Philippe Carrèse ist stolz auf seine Stadt, "die schönste der Welt", wie der Schriftsteller aus Marseille nicht müde wird zu betonen. Dabei ging es mit Marseille in den vergangenen Jahren immer mehr bergab. Die einstige Weltmetropole am Mittelmeer hatte, im Würgegriff von Armut, Korruption und Bandenkriegen, den Anschluss an Europa schon fast verloren. Da begann, angestoßen nicht zuletzt durch die Ernennung zur Kulturhauptstadt 2013, ein Prozess der Veränderung, der inzwischen ganz Marseille erfasst. Nachzulesen ist davon in Günter Liehrs erhellendem Marseille-Buch. Das komplexe "Porträt einer widerspenstigen Stadt", das der Autor entwirft, ist mehr als nur ein weiterer Reiseführer auf dem Markt. Es ist vielmehr eine sachkundige und dabei anschaulich geschriebene Darstellung zur Geschichte, Architektur und Soziologie der ältesten Stadt Frankreichs. Liehr, in Deutschland geboren und heute in Marseille und Paris lebend, schreibt seit Jahren über französische Themen. Dass die "Cité phocéenne" nichts mit den Phöniziern, dafür mit den aus Kleinasien stammenden Phokäern zu tun hat, die Massalia im siebten Jahrhundert vor Christus gründeten, erfahren wir bei ihm ebenso wie die Tatsache, warum die geographischen Verhältnisse des Naturhafens "für die weitere Karriere der Stadt entscheidend sein sollten". Nicht zuletzt dass die Hafenstadt Frankreich stets den Rücken zukehrte und lieber nach draußen blickte, "in die Fremde, die ihr aber nie besonders fremd war", erklärt Marseilles angespanntes Verhältnis zur Pariser Zentralgewalt. Die legendären Seifenbarone von Marseille kommen bei Liehr ebenso vor wie die größte Baustelle Europas, die sich seit Jahren am Hafen entlangzieht, der Aufstieg der Rechten oder Olympique Marseille. Heraus ragt das Kapitel zur Situation der Exilanten im Zweiten Weltkrieg. Wie die aus Deutschland geflohene Intelligenz sich hier, um ihr Leben fürchtend, tagtäglich in den Kaffeehäusern versammelt, beschreibt der Autor mit großer Einfühlung. Wer nach Marseille führt, sollte das Buch im Gepäck haben. Jedoch kann diese Lektüre auf dem Balkon eine Fahrt nach Marseille sogar ersetzen.
S.K.
"Marseille. Porträt einer widerspenstigen Stadt" von Günter Liehr. Rotpunktverlag, Zürich 2013. 304 Seiten, zahlreiche Fotos. Broschiert, 29,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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