Maud Martha Brown wächst in den 1940ern in der South Side von Chicago auf. Inmitten von verfallenen Kneipen und überwucherten Gärten träumt sie von New York, von der großen Liebe, von einer heiteren Zukunft. Sie schwärmt für Löwenzahn, verliebt sich das erste Mal, dekoriert ihre erste eigene Küchenzeile, bekommt ein Kind. Auch ihr hellhäutigerer Mann hat Träume: vom «Foxy Cats Club», von anderen Frauen, vom Krieg. Und dann ist da als allgegenwärtiger Begleiter noch der Rassismus dieser Zeit, angesichts dessen es nicht immer leicht fällt, Gleichmut und Würde zu bewahren.
In lakonischen Vignetten skizziert Gwendolyn Brooks den Alltag einer jungen Schwarzen Frau und erschafft dabei große Weltliteratur.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Fragen stellen sich auf der Erde: "Maud Martha", ein Klassiker amerikanischer Literatur aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, erscheint nun endlich auch auf Deutsch.
Von Verena Lueken
Maud Martha liebt Löwenzahn. Lebte sie anderswo, würde sie vielleicht auch japanische Iris lieben, aber da, wo sie ist, in Chicagos South Side, sieht sie, wenn sie sich umschaut, nur Löwenzahn. "Sie mochte diese nüchterne Schönheit, mehr noch aber ihre Alltäglichkeit, denn darin glaubte sie ein Abbild ihrer selbst zu erkennen, und es war tröstlich, dass etwas, was gewöhnlich war, gleichzeitig eine Blume sein konnte."
Das ist der Ton, in dem Gwendolyn Brooks von Maud Martha und deren Leben erzählt. Es ist ein materiell einfaches Leben, was nicht bedeutet, es wäre ohne Träume, ohne komplizierte Gefühle und Gedanken, ohne Enttäuschungen. Es ist das Leben einer schwarzen Frau in den Zwanziger-, Dreißiger- und Vierzigerjahren in Chicago, die in einer von der weißen Mehrheit noch unhinterfragten rassistischen Welt sich im Leben einrichtet, klaglos, aber nicht ohne Widerständigkeit. Wobei die Widerständigkeit eine innere ist. Eine, die es Maud Martha erlaubt, selbst zu entscheiden, wer sie unter den gegebenen Umständen sein will.
Zu den gegebenen Umständen gehören neben Diskriminierung und Ghettoisierung durch die weiße Gesellschaft die patriarchale Familienorganisation ebenfalls innerhalb der schwarzen Gemeinschaft wie auch die Fixierung auf den Braunton der Haut und die Struktur der Haare. Martha ist dunkel "wie Kakao". Heller, wie Milchkaffee, wäre besser.
34 kleine Geschichten, so nannte Gwendolyn Brooks selbst die je kaum dreiseitigen Vignetten, aus denen ihr Roman "Maud Martha" besteht, geschrieben in einer auf Äußerste verdichteten Weise, poetisch konzise, in aller Verknappung vollkommen klar. Es sind Geschichten aus dem Alltag - vom Tod der Großmutter oder eines Onkels, dem Besuch eines weißen Mitschülers, den ersten Verehrern, der Ehe, dem Kind, verbunden mit den Gedanken der heranwachsenden, schließlich erwachsenen Maud. Warum hieß es, Gott gebe die Antworten auf die entscheidenden Fragen des Lebens im Himmel, wenn es zu spät war? Gab es einen Ort, an dem "der Regen so herrlich langweilig" trommelte wie auf das Haus ihrer Kindheit? Und schließlich das umfassende Grau, das in ihrem Eheleben in der Kitchenette-Wohnung alles überzieht, "die Schluchzer, die Enttäuschungen, die kleinen Feindseligkeiten, die großen hässlichen Feindseligkeiten, die sich Bahn brechenden Funken Liebe, die Langeweile". Es gibt sehr viel Grau dort, wo Maud Martha gelandet ist.
Gwendolyn Brooks lebte von 1917 bis 2000, und tatsächlich schrieb sie vor allem Gedichte. Ihr Lyrikband "Annie Allen" war es auch, mit dem sie im Jahr 1950 die erste schwarze Pulitzer-Preisträgerin wurde - eine Überraschung, an der sie die nächsten fünfzig Jahre herumknabberte. Daniel Schreiber berichtet in seinem emphatischen Nachwort davon, wie Brooks in fast jedem Interview, bei fast jedem öffentlichen Auftritt der nächsten Jahrzehnte von dem Augenblick erzählte, in dem sie von dem Preis erfuhr. Der Strom war gerade abgestellt worden, weil sie für ihre Kitchenette-Wohnung die Rechnung nicht bezahlen konnte. Doch am Abend nach der Preisentscheidung ging das Licht plötzlich wieder an.
In dieser Anekdote sprach Gwendolyn Brooks weniger von ihrem Preis als davon, wie der alltägliche Rassismus "bis in die hintersten Winkel des Lebens reichte", so Schreiber, der im Folgenden erklärt, was es mit der "Kitchenette" auf sich hat, in der die Autorin lebte und auch ihre Protagonistin Maud Martha. Es handelt sich um die Antwort von Vermietern auf den gesteigerten Wohnungsbedarf für Schwarze nach der großen Wanderung in die Städte des Nordens. Sie teilten größere Wohnungen in mehrere kleine, die jeweils eine Küchenzeile hatten, aber Bad und Toilette auf der Etage mit den Bewohnern der Nachbarwohnungen teilen mussten. Entsprechend klein waren diese Wohnungen, entsprechend problematisch die hygienischen Bedingungen, und entsprechend schwierig war es, von dort wieder wegzukommen.
Maud Martha heiratet einen Mann, der von einer prächtigeren Wohnung träumte, einen Mann, der auch gern eine hellhäutigere Frau geheiratet und Mitglied des Foxy Cats Club geworden wäre, wo sie einmal zu einer Party eingeladen waren. Maud Martha weiß das, aber es verbittert sie nicht. Was blieb ihr übrig? Maud Martha bemerkt auch, dass sie einmal die einzigen Schwarzen in einem Kino sind, dass die Friseurin sich in ihrer Gegenwart ganz selbstverständlich rassistisch äußert und dass die Frau, der sie im Haushalt hilft, sie bittet, den Hintereingang zu nehmen. An den Rand der Bitterkeit aber bringt sie erst der Weihnachtsmann in einem Supermarkt, der den Kindern zuhört und sie beschenkt - außer Mauds Tochter, die er ignoriert. Da spürt sie einen stummen Hass in sich hochsteigen, den sie vorher nicht kannte.
Man spürt die Lyrikerin in diesem einzigen Roman, den Gwendolyn Brooks geschrieben hat, erschienen 1953 und nun erstmals ins Deutsche übersetzt, siebzig Jahre nach Erscheinen des Originals. Auch eine britische Ausgabe kam erstmals im vergangenen Jahr heraus. Der Manesse Verlag behandelt das Buch als Klassiker - gebunden, mit einem in der Anmutung der Fünfziger stilisierten Schutzumschlag, prominenten Preisungen auf der Rückseite und eben dem Nachwort von Daniel Schreiber. Nach Lektüre des schmalen Buchs besteht kein Zweifel an dem Rang, den "Maud Martha" im Kanon klassischer amerikanischer Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts einnimmt. Warum hatten wir hier früher nie von Gwendolyn Brooks gehört?
Möglicherweise waren es die Bücher zweier anderer Autoren, die etwa zur selben Zeit erschienen und übersetzt wurden - Ralph Ellisons "Invisible Man" (1952, deutsch 1954) und James Baldwins "Go Tell it on the Montain" (1953, deutsch 1966) -, die im Bewusstsein der lesenden Öffentlichkeit keinen Raum ließen für ein weiteres Buch mit vermeintlich "schwarzen" Themen. "Maud Martha" ist schließlich ein Buch, in dem es um Leben und Gedanken einer schwarzen Frau geht, die nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt, mit Weißen zusammenkommt und den erfahrenen Rassismus nicht zum Zentrum ihrer Überlegungen macht. Möglicherweise war das Buch zu leise, zu zart, zu bescheiden in der Anlage der Titelfigur, die von sich denkt, "sie wollte der Welt einfach eine gute Maud Martha schenken. Das war ihr Angebot, das Stückchen Kunst, das von niemand anderem kommen konnte."
Der Stimme, in der dieses Buch aus der intimen Perspektive einer dritten Person spricht, möchte man unbedingt weiter zuhören. In den Gedichten, die vieles mit diesem wunderbaren Roman gemein haben, wäre dazu Gelegenheit. Am besten zweisprachig, weil die vermeintlich einfachen Sätze der Gwendolyn Brooks ihren Zauber im Original noch einmal voller entfalten.
"In Wirklichkeit war es so: Wenn man aus seinem Leben eine gute Tragödie herausholte, eine einzige gute, fantastische Tragödie, echt, ernst, erschöpfend, nicht das Ergebnis menschlicher Dummheit, dann hatte man seine Sache gut gemacht, fand sie, sehr gut gemacht." Mehr Witz und Weisheit wäre für diese autonome Frau vermutlich auch in einer glamouröseren Umgebung nicht zu holen gewesen.
Gwendolyn Brooks: "Maud Martha". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Ott. Nachwort von Daniel Schreiber. Manesse Verlag München 2023. 153 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main