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Warum bauen immer mehr Staaten eine Mauer, wo doch zugleich im Zeichen von Globalisierung und digitaler Vernetzung seit Jahren eine Welt ohne Grenzen beschworen wird? Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown geht in ihrem preisgekrönten Buch dieser paradoxen Entwicklung auf den Grund.
Ein US-Präsident, der verspricht, eine Mauer zwischen den USA und Mexiko zu bauen; rechtspopulistische Parteien, die die »Festung Europa« gegen Flüchtlinge absichern wollen; gewaltige Mauerbauprojekte zwischen Israel und Palästina, Südafrika und Zimbabwe, Indien und Pakistan oder Irak und
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Produktbeschreibung
Warum bauen immer mehr Staaten eine Mauer, wo doch zugleich im Zeichen von Globalisierung und digitaler Vernetzung seit Jahren eine Welt ohne Grenzen beschworen wird? Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown geht in ihrem preisgekrönten Buch dieser paradoxen Entwicklung auf den Grund.

Ein US-Präsident, der verspricht, eine Mauer zwischen den USA und Mexiko zu bauen; rechtspopulistische Parteien, die die »Festung Europa« gegen Flüchtlinge absichern wollen; gewaltige Mauerbauprojekte zwischen Israel und Palästina, Südafrika und Zimbabwe, Indien und Pakistan oder Irak und Saudi-Arabien: Eine neue Abschottung hat weltweit Konjunktur, obwohl das Ausmaß globaler Vernetzung es illusorisch erscheinen lässt, durch den simplen Bau einer Mauer die Probleme der Gegenwart lösen zu können. Diese neuen Mauern gleichen für Brown daher eher theatralischen Inszenierungen und sind Ausdruck eines Bedürfnisses nach Übersichtlichkeit und einfachen Lösungen in einer immer komplexer werdenden Welt. Sie markieren einen schmerzhaften Niedergang nationaler Souveränität.


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Autorenporträt
Wendy Brown, geboren 1955, ist Professor of Political Science an der University of California in Berkeley und eine der streitbarsten öffentlichen Intellektuellen der USA. Ihre Werke sind in mehr als 20 Sprachen übersetzt.

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.07.2018

Raumhaft muss das Recht halt sein

Ganz aktuell und mit absolut kritischem Sound: Wendy Brown turnt mit Carl Schmitt über Grenzen.

Kann man aus gebauten Grenzziehungen etwas über die innere Struktur staatlicher Ordnungen lernen? Staatsgrenzen können auf unterschiedliche Weise gesichert sein; Mauern sind das äußerste Mittel der Migrationspolitik. Manche funktionieren besser, manche schlechter, manche werden zum Symbol der Unterdrückung, andere nicht. Die Räume, die durch sie geteilt werden, sind eben sehr unterschiedlich beschaffen: Der amerikanische Bundesstaat Texas hat den Grenzzaun zu Mexiko mit Kameras ausgestattet, deren Bilder als Live-Stream online zugänglich sind, damit Bürger sich an der Grenzüberwachung beteiligen oder, als Bürgerwehr organisiert und landestypisch gut bewaffnet, gleich selbst einschreiten können. An der marokkanischen Mittelmeerküste werden die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla durch immer gespenstischer anmutende Zaunanlagen gesichert, weil sie Zugang zum europäischen Asylrecht versprechen. Auch Saudi-Arabien sichert zurzeit seine Grenze zum Irak mit einer horrend teuren Hightech-Sperranlage. Die Mauer zwischen Israel und dem Westjordanland ist zum Menetekel des Friedensprozesses geworden.

Die in Berkeley lehrende Politikwissenschaftlerin Wendy Brown interessiert sich in ihrem zuerst 2010 auf Englisch erschienenen Buch allerdings weniger für die Funktionsweise von Mauern als für die Staaten, die sie bauen. Ihr zufolge sind es nur scheinbar wohlgeordnete, reiche und souveräne Staaten, die sich mit ihrer Hilfe von der Unordnung abzuschirmen, die in Gestalt von Flüchtlingen und Terroristen an ihre Grenzen dringt. Die Auflösung der Souveränität habe sich im Inneren der Staaten des Westens schon vollzogen. Die politische Integrität, die die Mauern behaupten, hätten die Staaten längst an ein global operierendes Kapital verloren. Die boomenden Grenzsicherungsanlagen seien nichts als psychotische Abwehrreflexe, die "Xenophobie und Engstirnigkeit in ein postnationales Zeitalter" hineintragen und "die reicheren von den ärmeren Teilen der Welt separieren".

Die Pointe dieser These ist, die befestigte Grenze als Manifestation des Zusammenbruchs staatlicher Souveränität anzusehen, die sich in den failed states, aus denen die Flüchtlinge kommen, ebenso vollzieht wie in den Staaten, die sich gegen sie abschotten.

Hier wünschte man sich nun freilich zunächst etwas Differenzierung: Wie stark der Zusammenhang zwischen Territorium, politischer Ökonomie, Migration und Souveränitätsidee in unterschiedlichen Staaten tatsächlich variiert, hat zuletzt Philip Manow in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 29. Januar) dargelegt. Das gilt schon innerhalb Europas, erst recht aber für die grundverschiedene politische Imagination von Grenze und Territorium in den Vereinigten Staaten, ganz zu schweigen von der wiederum völlig andersartigen Beziehung von Herrschaft und Gebietshoheit in einer rohstoffbasierten Wüstenmonarchie wie Saudi-Arabien.

Mit solchen Einzelheiten hält Brown sich aber nicht lange auf. Staat ist Staat, Souveränität ist überall dasselbe, nämlich eine im Kern immer schon theologisch abgeleitete höchste Gebietshoheit. In ihrer politischen Theorie der Souveränität hängt darum ebenfalls alles mit allem zusammen: Locke und Machiavelli, Hobbes, Hegel und Freud. Alle bestätigen ja irgendwie die "Beziehung der politischen Souveränität zur Ökonomie". Und um Bestätigung geht es Brown weit mehr als um Begründung.

Das gilt erst recht für ihren Meisterdenker Carl Schmitt. Der bewährte bad boy der politischen Theorie dient ihr als Beleg für so gut wie jede These: für den angeblich theologischen Kern der Souveränität des globalen Finanzkapitals, für die Stiftung politischer Einheit durch äußere Abgrenzung und die raumhafte Struktur des Rechts. Dass Schmitt im Spätwerk, auf das sie sich hier beruft, seine Souveränitätstheorie, um die es dort geht, weitgehend revidiert hatte? Nicht so wichtig. Die Mischung aus Gewalt, Kapital, Souveränität, Theologie, Psychoanalyse und Gender funktioniert durch einen erregenden Sound, in dem alles Unterscheiden nur stören würde. Das Patent darauf hält ein anderer Linksschmittianer, Giorgio Agamben.

Wie eilig der Verlag den bald zehn Jahre alten Text aus aktuellem Anlass auf den Markt geworfen hat, zeigt die schlecht zu lesende, oft schiefe Übersetzung von Frank Lachmann. Da ist von "Theoretikerinnen der Gegenwart der Souveränität" die Rede, wo bloß die Auffassungen von Männern referiert werden, und da werden schon im Englischen nicht gerade elegante Sätze durch gedankenlose Übertragung vollends entstellt. Eine Kostprobe: "Allgemeiner ausgedrückt, besteht das Problem mit der Konzeptualisierung von Souveränität als einer geteilten, untergliederten oder zerstreuten in der Inkompatibilität dieses theoretischen Schrittes mit einer ihrer irreduziblen Eigenschaften - und zwar nicht mit ihren voraussetzungslosen, apriorischen oder zentralistischen Aspekten, sondern mit ihrer Finalität und Dezisivität."

Auch stammt das Buch erkennbar aus der Frühzeit der Obama-Ära. Das postnationale Zeitalter des Freihandels und der globalen Geld- und Migrationsströme war das fraglos Gegebene, die Nationalstaaten das fraglos Verschwindende. Die Autorin hat deswegen ein neues Vorwort geschrieben, in dem der Brexit, Trump, das Hotspot-Konzept in Italien und Griechenland sowie die AfD auf fünfzehn Seiten als Bestätigung ihrer Thesen behandelt werden. Es ist eben der unbestreitbare Vorzug derart allgemeiner Theorien, dass sie sich oft bestätigen. Aber wenn sie in diesem Zusammenhang die Koordinierung der Flüchtlingspolitiken durch die Kommission ohne nähere Begründung als "EU-Biopolitik" mit der Demokratie als Kollateralschaden verwirft, dann ist dies weniger eine Anwendung ihrer Theorie, als, jedenfalls nach den von ihr zitierten Belegen zu urteilen, das Resultat einer raschen Internetrecherche.

FLORIAN MEINEL

Wendy Brown: "Mauern". Die neue Abschottung

und der Niedergang der Souveränität.

Aus dem Englischen von Frank Lachmann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 259 S., Abb., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.08.2018

Gewalt
und
Gnade
Der Schriftsteller Francisco
Cantú erzählt aus seiner Zeit
bei der Border Patrol.
Vier Jahre lang half er, die
Grenze zwischen den USA
und Mexiko zu sichern
VON NICOLAS FREUND
Es beginnt mit einem Familienausflug nach Ciudad Juárez. Der junge Francisco Cantú studiert in Washington internationale Beziehungen und hat sich auf die Grenze zwischen Amerika und Mexiko spezialisiert. Mit seiner Mutter möchte er das Grenzland besuchen, sein Studienobjekt einmal mit eigenen Augen sehen und nicht nur darüber lesen. Schon der Hotelier in El Paso und die Rangerin im Besucherbüro des Nationalparks, den sie auf dem Weg durchqueren, warnen sie vor einem Besuch in Juárez. Aber Mutter und Sohn lassen sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Sie machen sich auf den Weg durch den „käfigartigen Fußweg über die betonierten Ufer des Rinnsals namens Rio Grande“. Aus den Vereinigten Staaten kommend, ist die Grenze kein Hindernis: „Wollen die unsere Pässe gar nicht sehen? fragte meine Mutter. Ich zuckte mit den Schultern. Offenbar nicht.“ Die Mutter hat Herzprobleme, mitten auf einer schwer befahrenen Straße stolpert sie über ein Schlagloch und verstaucht sich den Knöchel.
Ein kleiner Unfall, aber ein beängstigender Moment: Ein Student allein mit seiner kranken Mutter in einer der gefährlichsten Städte der Welt. Allein im Juli diesen Jahres wurden in Ciudad Juárez, das vom amerikanischen El Paso nur durch die amerikanisch-mexikanische Staatsgrenze getrennt ist, 177 Menschen ermordet. Das berichtet die lokale Zeitung El Diario.
Seit den neunziger Jahren war die Stadt Schauplatz einer beispiellosen Serie von Morden an hunderten Frauen, deren misshandelte Körper regelmäßig in der Wüste gefunden werden. Kaum einer dieser Mordfälle wird je aufgeklärt. Ciudad Juárez ist ein Schlachtfeld der Kartelle, die um die Vorherrschaft im Milliardengeschäft des Drogenschmuggels kämpfen.
Cantú und seine Mutter werden aber weder überfahren, noch ausgeraubt. Im Gegenteil: Ein Lastwagenfahrer steigt aus und beginnt den Verkehr zu regeln, ein Verkäufer vom nahen Markt stürzt herbei und hilft der verletzten Mutter von der Straße, bietet ihr Wasser und Quesadillas an: „In Juárez kümmern wir uns umeinander.“ Als gäbe es da keine Grenze zwischen Amerikanern und Mexikanern.
Mit dieser Geschichte beginnt Cantú sein Buch „No Man’s Land“, eine Mischung aus literarischer Reportage, Memoire und historischem Abriss über eine der berühmtesten Grenzregionen der Welt. Vor allem berichtet er von seiner Arbeit als Beamter bei der Border Patrol, der Polizeieinheit, deren Aufgabe es ist, die USA vor Schmugglern und illegalen Einwanderern zu schützen. Cantús Vorstellungen vom Grenzland und seinen Bewohnern wandelt sich dabei maßgeblich durch die Erfahrungen, die er selbst mit dieser Grenze macht. Einen solchen literarisch offenen und zugleich essayistisch reflektierten Einblick in die Arbeit und das Leben der Menschen in den Grenzgebieten hat es noch nicht gegeben.
Die archaischen Landschaften der Nationalparks und die Szene des glimpflich ausgegangenen Familienausflug nach Juárez verblassen, als Cantú sich entscheidet, für die Border Patrol zu arbeiten. Plötzlich sieht es da aus, wie in den Drogenthrillern Hollywoods. Frisch von der Uni lernt Cantú schießen. Er lernt die Tricks der Schmuggler, muss entscheiden, was erlaubt und was verboten ist. Im Englischen trägt das Buch den Untertitel „Dispatches from the Border“ - Cantú berichtet praktisch von der Front des Drogenkriegs.
Seine eigenen Erlebnisse ergänzt er durch historische Erzählungen über die Entstehung der Grenze. Erst in den Neunzigern wurde der Grenzschutz in seiner heutigen, massiven Form eingeführt. Vorher kamen die Migranten bei El Paso oder zwischen Tijuana und San Diego in Kalifornien über die Grenze und waren gleich in einer amerikanischen Großstadt. Dann wurden dort die ersten Mauern und Zäune hochgezogen. Abhalten ließ sich davon kaum jemand. Die Migranten ziehen jetzt durch die Berge und die Wüste.
„Welcher Idiot spaziert denn bei sechsundvierzig Grad durch die Wüste?“ fragt ein Grenzer-Kollege Cantús. Es sind Tausende jedes Jahr und die Grenzbeamten finden oft nur noch ihre ausgetrockneten Leichen, manche meilenweit hinter der Grenze. Manchmal setzen die Schlepper, die Coyoten genannt werden, Migranten absichtlich in der Wildnis aus. Nachts träumt Cantú von Wölfen. Seine „dispatches“ von der Grenze tendieren etwas zum romantischen Pathos einer Wild-West-Sehnsucht. Aber dann weicht seine Faszination der Paranoia und der Angst.
Als Grenzbeamter traut sich Cantú nicht mehr nach Juárez. Einige der „Illegalen“, die er verhaften muss, tragen Tätowierungen, sind vielleicht Gangmitglieder. Einmal bittet ihn ein Mann um Hilfe. Fremde Männer in Flecktarn schleichen regelmäßig durch sein Dorf, klopfen an die Türen. Was soll er tun? „Am liebsten hätte ich ihm gesagt, er solle mit seiner jungen Frau wegziehen, sich ein neues Zuhause suchen, weit weg von der Grenze, fern von Drogenrouten und Schmugglerpfaden“, gesteht Cantú, traut sich aber nicht, diesen Rat zu geben. Er käme einer Bankrotterklärung des Grenzschutzes gleich.
In einem Nachtclub in El Paso zeigt ihm ein Kollege die Frauen, von denen er sich fernhalten muss, weil sie den Narcos gehören. „Wenn ich durch die Stadt lief, von der Arbeit nach Hause fuhr, wehte der Horror von Juárez durch die Luft wie die Erinnerung an einen geplatzten Traum. In den Nachrichten, in wissenschaftlichen Untersuchungen, in Literatur und Kunst erschien Juárez durchweg als Terrain von Maquiladores, Narcos, Sicarios, Kriminellen, Soldaten, Polizisten, Armut, Mord, Vergewaltigung, Entführung, Massakern, Schießereien, Bandenkriegen, Massengräbern, Korruption und Verfall – als soziales und ökonomisches Schreckenslabor. Dieses Narrativ einer Stadt im Schatten der Grenze, mit schwachen Institutionen und einer terrorisierten Bevölkerung, gehörte inzwischen zu ihrem Erbe und übertrug sich auf alle, die in den Umkreis dieser Stadt gerieten.“
Cantús eigener Text setzt dieses Narrativ allerdings selbst fort und ist dazu von etwas unklarem Status: Er beruht nach eigener Aussage auf wahren Ereignissen, Cantú hat sie aber teilweise komprimiert, Charaktere zusammengelegt und Dialoge rekonstruiert. Manches wirkt, wie von Cormac McCarthy oder aus einem Drogenthriller. Einige Motive scheinen zum Klischee geronnen
– aber können sie nicht trotzdem eine Entsprechung in der Wirklichkeit haben? Im Zusammenspiel zeichnen die Episoden, die nie mehr als ein paar Seiten, manchmal auch nur einen Absatz umfassen, aber ein komplexes Bild der gewaltsamen Konflikte eines Grenzgebietes.
In vielem entspricht Cantús Erfahrung beispielhaft den Thesen der amerikanischen Politikwissenschaftlerin Wendy Brown. Schon 2010 erschien in den USA ihre Schrift „Mauern. Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität“. Nach dem Wahlsiegs Donald Trumps und seiner Ankündigung, eine Mauer an der Grenze zu Mexiko errichten zu wollen, ist das Buch im Frühjahr auch auf Deutsch erschienen, versehen mit einem aktualisierten Vorwort der Autorin. Brown vertritt darin die These, dass schwer befestigte Verteidigungsanlagen an Staatsgrenzen, wie sie zwischen den USA und Mexiko oder zwischen Israel und den Palästinensergebieten errichtet wurden, ein Anzeichen dafür sind, dass die Souveränität, die Macht von Nationalstaaten eigentlich schwindet. Sie markieren das Territorium, auf dessen Beherrschung der Staat seine Autorität gründet, gewaltsam. „Statt Ausdruck einer wiederauflebenden Souveränität des Nationalstaats sind die neuen Mauern Ikonen seines Untergangs.“ Im Grunde verschärfen Mauern die Konflikte noch, die den Staat sowieso schwächen: „Sie verschleiern die militärischen Funktionen des Staates, erzeugen neue Formen der Selbstjustiz an den Grenzen, stärken die transnationalen Verbindungen sowie die Macht des organisierten Verbrechens und intensivieren nationalistische Identifikationsmuster“.
Brown schlägt vor, Mauern in erster Linie als Spektakel wahrzunehmen, als eine geopolitische Theaterinszenierung. Eine Profilierungstrophäe für Politiker und in der Zurschaustellung vermeintlicher staatlicher Macht die extreme Ausformung einer Theatralik, nach der die Realpolitik manchmal verlangt. Mit dem akademischen Rüstzeug der Psychoanalyse und mit der Staatstheorie Carl Schmitts, seziert Brown den Mauerbau und die populistischen Forderungen nach befestigten Grenzen.
Die Grenze zwischen den USA und Mexiko hält sie für „gescheitert“, schon weil die Machtunterschiede so grell sind. Der Staat errichtet seine Mauern nicht zur Verteidigung gegen andere Staaten, sondern richtet sich gegen Individuen. Jeder Mexikaner wird ihm zur Bedrohung und die Bedrohung dadurch diffus. Angst überträgt sich auf die Menschen, die innerhalb der Grenzen wohnen, Angst, vor allem, was von außen kommt.
Das Narrativ vom souveränen Staat verblasst gegenüber dem Narrativ der Gewalt und Anarchie in den Grenzstädten, an dem auch Cantú mitschreibt. Für Brown ist die populistische Forderung nach Mauern, „ein Wunsch, der an die theologische Dimension der politischen Souveränität erinnert“. Sie erklärt, inwiefern die staatliche Souveränität, wie sie Carl Schmitt beschrieben hat, immer ein Replikat der Herrschaft Gottes sei. Wenn der moderne, westliche Staat keine Macht mehr hat, kann er seine quasi-religiöse Funktion nicht mehr ausfüllen. Die Schwäche des Staats schwächt damit immer auch den Säkularismus, was sich unter anderem am Aufkommen religiös motivierter Gewalt zeigt.
Über der mexikanischen Grenzstadt Juárez prangt in großen weißen Buchstaben eine fromme Botschaft: „CD JUAREZ LA BIBLIA ES LA VERDAD LEELA“ – „Juárez, die Bibel ist die Wahrheit, lies sie“. Die Aufforderung zur Bibellektüre könnte als Beispiel einer solchen neuen, antisäkularen Religiosität gelesen werden. Der Staat und die Polizei können nicht mehr helfen, das muss wieder Gott übernehmen. Vielleicht erklärt das auch die religiösen Motive in Cantús Text. Mit einem illegal eingewanderten Mexikaner bricht er täglich das Brot, wie er es selbst nennt. Später hilft er ihm bei einem Gerichtstermin. Als Grenzbeamter wäscht er einer Migrantin die Füße: „Ich reinigte die Füße mit einem Desinfektionstuch, tupfte die Flüssigkeit von den Rändern der geplatzten Blasen ab und trug Salbe auf.“
Cantú bringt mit diesen Geste ein Element der Gnade in seine Erzählung, das dem Grenznarrativ ansonsten fremd ist. Die Gnade zu geben, zu verzeihen und selbstlos auf das Recht zu verzichten, liegt eigentlich nur in der Macht des Souveräns, des Königs oder im modernen Staat der Judikative, bei den Gerichten. Durch das Schwinden der staatlichen Macht entsteht bei Cantú nicht nur Gewalt und Anarchie, sondern auch eine Souveränität des Einzelnen, sogar des staatlich beauftragten Grenzbeamten: In seiner Fähigkeit, Gnade zu zeigen.
Francisco Cantú: No Man’s Land. Leben an der mexikanischen Grenze. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Hanser Verlag, München 2018. 239 Seiten, 22 Euro.
Wendy Brown: Mauern. Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität. Aus dem Englischen von Frank Lachmann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 260 Seiten, 28 Euro.
Autor und Grenzschützer
Francisco Cantú
Foto: K. Marroquin
Die Politologin Wendy Brown
Foto: Wikimedia
Die Luftaufnahme vom 26. Juli 2018 zeigt einen
Teil des Grenzzauns zwischen den USA und Mexiko,
der bald versetzt werden soll. Viele Häuser, die zu
nahe an der Grenzbefestigung stehen, müssen dann
weichen. In Ciudad Juárez (unten) sieht ein Mann mit seinem Kind durch den Grenzzaun
. Fotos: AFP/Getty
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Hochaktuell ist diese Studie der Politikwissenschaftlerin Wendy Brown, das gibt Rezensent Florian Meinel gern zu. Nur bleibt es in seinen Augen auch dabei. Denn zum einen merkt Meinel schon an der seiner Meinung nach ziemlich schludrigen Übersetzung, dass der Verlag das im Original bereits vor zehn Jahren erschienene Buch eilig auf den deutschsprachigen Markt bringen wollte. Und auch inhaltlich kann ihn das Werk nicht überzeugen: Wenn Brown behauptet, Staaten würde Mauern und Grenzen ziehen, um ihre politische Integrität zu schützen, dabei allerdings wenig zwischen Staaten in Europa, den USA und Wüstenstaaten unterscheidet, hätte sich der Kritiker zumindest eine Differenzierung nach politischer Ökonomie, Migration und Souveränitätsidee gewünscht, wie sie etwa Philip Manow vornimmt. Dass die Autorin zudem Locke, Machiavelli, Hobbes, Hegel, Freud und allen voran Carl Schmitt herunterbricht, darüber hinaus im Vorwort zwecks Aktualisierung auf fünfzehn Seiten Brexit, Trump, Griechenland und AfD behandelt, um all ihre Thesen zu stützen, macht es für Meinel nicht besser.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Mit dem akademischen Rüstzeug der Psychoanalyse Freuds und der Staatstheorie Carl Schmitts seziert Wendy Brown den Mauerbau und die populistischen Forderungen nach befestigten Grenzen.« Nicolas Freund Süddeutsche Zeitung 20180804