Max Weber ist einer der einflussreichsten Denker des 20.Jahrhunderts, doch er war nicht unser Zeitgenosse. Wer ihn verstehen will, muss eintauchen in die bürgerlichen Lebenswelten einer vergangenen Zeit. Dirk Kaesler zeigt in seiner lang erwarteten, glänzend erzählten Biographie den Menschen Max Weber in seiner Epoche - den Jahren zwischen der Gründung des Deutschen Kaiserreichs und seinem Untergang. Nur wenige andere Denker werden so häufig als Interpret unserer Gegenwart in Anspruch genommen wie Max Weber. Etwa, wenn es um die Frage geht, ob Politiker "Charisma" haben oder nicht, wenn behauptet wird, dass Politik das "Bohren harter Bretter" sei oder wenn erörtert wird, ob der Protestantismus "Schuld" am Kapitalismus trage. Doch es war nicht unsere Welt, die Weber zu seinen Theorien inspirierte. Dirk Kaesler rekonstruiert die Entstehung von Webers Werk im Kontext der damaligen Ideen und Kontroversen, zeichnet seine wissenschaftlichen und politischen Aktivitäten nach und entschlüsselt eindrucksvoll den Menschen Max Weber. Dabei wird deutlich, wie sehr Leben und Werk dieses brillanten Theoretikers und düsteren Visionärs, dessen eigentliche Leidenschaft der Politik galt, geprägt waren durch seinen familiären Hintergrund, durch Vorfahren, Eltern und Verwandte, durch alte Kaufmannsdynastien, aufgeklärte Protestantinnen und einen pragmatischen Politiker.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.03.2014Ein-Mann-Wissenschaftsmaschine
War Max Weber ein Muttersöhnchen? Und wenn ja, was wäre damit erklärt?
Dirk Kaesler widmet Max Weber eine maßlose Biografie, redselig und ohne begriffliche Klarheit
VON FRIEDRICH WILHELM GRAF
Pünktlich zur Feier des 150. Geburtstages am 21. April legt Dirk Kaesler nun seine lang angekündigte Biografie Max Webers vor. Es ist ein maßloses, aus der Form geratenes Buch von 1000 Seiten, geschrieben in einem teils grausam unbeholfenen, teils peinlich pathetischen Deutsch, das die Lektüre zu einer Qual macht. Aber man erfährt mancherlei neue Details aus dem Leben Webers und seiner Familie und muss dem Autor für seinen Sammlerfleiß Respekt zollen. Einige Deutungen zentraler Texte Webers, die Kaesler in ebenso langen wie langweiligen Paraphrasen nachzeichnet, überraschen durch den Mut zur Eigenwilligkeit. Immer wieder grenzt Kaesler seine „vermeintlich allwissende Erzählerstimme“ vom polyphonen Chor anderer Weber-Forscher ab. Sehr ausführlich lässt er zudem viele Stimmen aus Webers Leben ertönen, „die über die Hauptfigur berichten, allen voran die Stimme seiner Ehefrau, Marianne Weber“. Deren erstmals 1926 erschienenes „Lebensbild“ ist neben Webers eigenen Veröffentlichungen und den im Rahmen der kritischen „Gesamtausgabe“ gedruckten Briefen Kaeslers wichtigste Quelle.
Mit großer Intensität stützt er sich zudem auf die reichlich vorhandene Sekundärliteratur. Allein das Verzeichnis der von ihm benutzten Forschungsliteratur umfasst über fünfzig Druckseiten. Allerdings hat sich der Autor im Umgang mit den Leistungen anderer für ein höchst problematisches Vorgehen entschieden. Bisweilen nennt er die Namen von Weber-Forschern, auf die er sich stützt, in seinem „Erzähltext“. Aber er verzichtet darauf, die aus der weltweit boomenden Deutungsindustrie übernommenen Behauptungen und Zitate nach den üblichen wissenschaftlichen Standards nachzuweisen. Auch für die ausführlichen Quellenzitate gibt es keinerlei Belege. Auf knapp 1000 Seiten Biografie findet sich keine einzige Anmerkung.
Man kann dies als Mangel an Transparenz beklagen. Aber es mag auch ein Zeichen dafür sein, dass Kaesler seine große „Erzählung“ gar nicht als Wissenschaft, sondern als Unterhaltungsliteratur fürs bildungsbürgerliche Publikum versteht.
Gern benutzt der Autor die Sprache des Theaters. Die „vielfältigen Bühnen für das Leben, das hier erzählt werden soll, müssen vorbereitet, eingerichtet und beschrieben werden“. Auf ihnen will der Biograf ein „Spiel“ inszenieren, und so beginnt er ganz klassisch „Vor dem Vorhang“. „Max Weber ist nicht unser Zeitgenosse“, lautet die zentrale These dieses Prologs. Weber habe nie ein Auto gesteuert, sei wohl nur einmal im Leben Fahrrad gefahren und niemals mit einem Flugzeug geflogen. Dann wird der Vorhang geöffnet. „In diesem Spiel geht es um Leben, Schicksal und Werk eines preußischen Bürgers in Deutschland im Zeitraum von 1864 bis 1920.“ Mit allzu großer Ausführlichkeit entwirft Kaesler deshalb Bühnenräume, die die relevanten lebensweltlichen Kontexte Webers darstellen sollen. Doch oft wirken die Bühnen eher brüchig. „Die spezifisch preußische Amalgamierung von Thron und Altar in Form des staatskirchlichen Protestantismus mit dem Fürsten als landesherrlichem Oberhaupt einer Kirche, die durch ihre Heilsfunktionäre die gottgegebene Obrigkeit überhöhen, steckte den Rahmen für die religiöse Erziehung Max Webers, ungeachtet aller Versuche seiner Mutter, diese in eine reformierte Richtung zu lenken. Die wissenschaftliche Erforschung ebensolcher Rahmungen des Lebens von Menschen durch als religiös definierte Ordnungsvorstellungen sollte eines der ganz großen Lebensthemen Max Webers werden. Sowohl sein Leben als auch sein wissenschaftliches und politisches Werk entwickelten sich vor dem Hintergrund des erbitterten Todeskampfes der feudalen Epoche angesichts des heraufziehenden bürgerlichen Zeitalters, das jedoch in deutschen Landen, und in Preußen allemal, nicht wirklich zum Sieg gelangen sollte. Die Doppelgesichtigkeiten Preußens spiegeln sich auch wider in den politischen Positionen des ewigen Preußen Max Weber.“
Seitenlang berichtet Kaesler über die Geschichte der kleindeutschen Reichsgründung und die wirtschaftliche Lage Erfurts, wo Max Weber senior seit dem Herbst 1862 dritter bezahlter Stadtrat war. Gewiss ist es interessant zu erfahren, was der Vater in diesem Amte alles zu tun hatte und welchen Vereinen er angehörte. Aber braucht es zu Max Webers Vater über 50 Seiten, auf denen vom Sohn niemals die Rede ist? Auch der Gewinn, den die sehr breite Darstellung der europäischen und speziell deutschen Welt um 1864 für die Erfassung des intellektuellen wie politischen Profils des jungen Max Weber erbringen soll, bleibt gering. Kaesler zeichnet seinen „Fanatiker des Willens“, seine „Ein-Mann-Wissenschaftsmaschine“ als einen „Menschen zwischen den Zeiten“, in einer Epoche dramatischen sozialen wie kulturellen Wandels. „Stellt man die inneren Bilder jener Welt, in die Max Weber hineingeboren wurde, neben die inneren Bilder jener Welt, die er verlassen musste, so spürt man, dass sich einmal mehr in der Geschichte der Menschheit die Figurationen ihrer vielfältigen Verflechtungen radikal verändert hatten. Fast nichts mehr war 1920 so geblieben, wie es 1864 gewesen war.“ Dies stimmt und ist doch nur eine Trivialität. Moderne Gesellschaften zeichnen sich nun einmal durch eine fortwährend sich beschleunigende Veränderungsdynamik aus. Es war eine der Leistungen Max Webers, die das Leben der Individuen durchdringende harte Wirkungsmacht kapitalistisch zweckrationaler Modernisierung zu erfassen.
Auch nach dem Tod wird noch Theater gespielt. Seinem Prolog lässt Käsler einige Seiten über die Trauerfeier und Einäscherung folgen. Marianne Weber hatte zunächst den langjährigen Heidelberger Fachmenschenfreund Ernst Troeltsch gebeten, bei der Trauerfeier im Krematorium auf dem Münchner Ostfriedhof zu sprechen. Doch Troeltsch musste am Tag der Trauerfeier, dem 17. Juni 1920, wichtige parlamentarische Beratungen über die „Neuregelung der Verfassung der evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen Preußens“ leiten. Statt seiner hielten der mit den Webers befreundete Staatsrechtslehrer Karl Rothenbücher für die Universität und der Nationalökonom Lujo Brentano, Webers Vorgänger auf dem Lehrstuhl, für die Bayerische Akademie der Wissenschaften Gedenkreden. Der in Kiel Praktische Theologie lehrende Otto Baumgarten, Webers Lieblingscousin, der Max und Marianne am 20. September 1893 getraut hatte, durfte weder eine Predigt halten noch ein Gebet sprechen. Statt dessen ergriff, gegen alle bürgerliche Konvention, die Witwe selbst das Wort, um von des Gatten höchster und köstlichster Gabe zu zeugen, „seiner Liebeskraft“.
Nach dem Bericht Eduard Baumgartens, eines Vetters zweiten Grades, erklärte Marianne, dass nicht allein sie, sondern auch „hier, neben mir, meine Freundin“ diese „Liebeskraft“ bezeugen könne. Gemeint war damit Else Jaffé, zu der Weber seit Ende 1917 eine heftige Liebesbeziehung unterhielt. Das komplexe Thema der Ehe von Max und Marianne Weber sowie seiner Liebesbeziehungen zu der Pianistin Mina Tobler und eben zu Else Jaffé-Richthofen will Kaesler mit Zurückhaltung und Taktgefühl behandeln. „Wir verzichten darauf, Einzelheiten der großen Leidenschaft Max Webers für Else Jaffé zu schildern.“ Aber allzu geschwätzig wird dann doch darüber berichtet, dass Else „die große Liebe seines Lebens“ war.
Max Weber hatte den ersten Band seiner „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“ am 7. Juni 1920, also wenige Tage vor seinem Tod, „MARIANNE WEBER 1893‚ bis ins Pianissimo des höchsten Alters‘“ gewidmet. Dies ist, wie Kaesler überzeugend zeigt, eine Anspielung auf die berühmte „Zwischenbetrachtung“ in „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“, in der Weber die elementaren Spannungen zwischen der „religiösen Brüderlichkeitsethik der Erlösungsreligionen“ und der „geschlechtlichen Liebe“, der „größten irrationalen Lebensmacht“ analysiert. Die erotische Beziehung deutet Weber hier als „den unüberbietbaren Gipfel der Erfüllung der Liebesforderung“, die „den direkten Durchbruch der Seelen von Mensch zu Mensch“ zu gewähren scheint, die als „volle Einswerdung, als ein Schwinden des ‚Du‘ gefühlt wird und so überwältigend ist, dass sie ‚symbolisch‘ – sakramental – gedeutet wird“.
Seiner Feier der außeralltäglichen „geschlechtlichen Liebe“ stellte Weber ein nüchternes Konzept der Ehe als „einer ökonomischen Angelegenheit zur Sicherung der Frau und des Erbrechtes des Kindes“ gegenüber. Kaesler deutet die Widmung für Marianne als Bekenntnis zu einer „Gefährtenehe“, in der es gerade nicht um erotische Erfüllung gegangen sei, die Widmung des zweiten Bandes „MINA TOBLER zugeeignet“ hingegen als ein Zeichen dafür, dass hier Sex im Zentrum der regelmäßigen Besuche Max Webers bei seinem „geliebten Tobelchen“ gestanden habe.
Eigene Beachtung verdient der Untertitel, den Kaesler seinem Opus magnum gegeben hat: „Preuße, Denker, Muttersohn“. Gewiss, die emotionale Beziehung Webers zur überaus frommen, gottesfürchtigen Mutter Helene war eng. Aber soll man ihn wirklich ein „Muttersöhnchen“ nennen? Kaesler geht sehr genau und umständlich die Wege nach, auf denen aus dem hoch aufgeschossenen Gymnasiasten ein aufgedunsener, Unmengen an Bier und Schnaps in sich hineinschüttender schlagender Verbindungsstudent wurde. Auch beschreibt er die dadurch entstehenden Spannungen zwischen der sozialprotestantisch engagierten Mutter und ihrem ältesten Sohn. Dennoch bleibt die von Volker Elis Pilgrim entlehnte Rede vom „entschiedenen Muttersohn“ dunkel.
Max Weber verehrte seine Mutter gerade wegen ihrer tiefen Religiosität. Er litt darunter, selbst „religiös unmusikalisch“ zu sein, zwar nicht „irreligiös“ oder gar „antireligiös“, aber unfähig, ähnlich wie die Mutter Gefühle fürs Heilige, Numinose zu entwickeln. Auch war er eine „zerrissene“, vielfältig widersprüchliche Persönlichkeit.
Kaesler behauptet nun: „Die überaus starke Bindung zu seiner Mutter ließ ihn machtanfällig werden und legte seine Neigung zu Gewaltsamkeit fest. Helene Weber überfrachtete ihren Erstgeborenen mit Erwartungen, mit überreichlich ‚Soll‘ und ‚Muss‘, aber nicht mit sonderlich viel uneigennütziger Liebe.“ Mehr noch: „Seine eigene Mutter ließ die ‚weiblichen‘ Seiten ihres Erstgeborenen nicht zur Entfaltung kommen.“ Was immer mit diesen „weiblichen Seiten“ gemeint sein mag – Kaesler meint wissen zu können, dass die dominante Mutter die „männliche Geschlechtsidentität“ des Sohnes „vereitelt“ habe. „Seine nächtlichen ‚Störungen‘ und die damit verbundenen Pollutionen waren vermutlich nichts anderes als die Ergebnisse von – möglicherweise besonders häufiger – Selbstbefriedigung. Ein Muttersohn entwickelt leicht Identitätsprobleme, ein sexuelles Vakuum und eine virulente Gefühlskälte, die alle Menschen bedrohen, die ihm zu nahe kommen.“ Das „möglicherweise“ ist vielsagend. Wo es keine Quellen gibt, rettet sich der Biograf in Psychojargon. Zu den vielen Widersprüchen in Kaeslers Deutung gehört es, dass er sich heftig von Joachim Radkaus psychohistorischer Biografie aus dem Jahr 2005 abgrenzt, selbst aber immer wieder zu wilden psychologistischen Spekulationen neigt.
Es mag absurd erscheinen, bei einer Biografie von knapp 1000 Seiten auf Fehlendes hinzuweisen. Aber selbst manch Wichtiges berichtet Kaesler nicht. Die Brüche und Widersprüche seines Textes erwecken den Eindruck, als seien im Prozess des Kürzens, von dem der Autor spricht, auch einige elementare Informationen gestrichen worden. So nennt Kaesler Weber einen „notorischen Streithammel“, der in „seiner tiefsitzenden Gekränktheit“ oft eine „enorme Energie“ in Auseinandersetzungen mit Kollegen investierte. In der Tat war Weber, wie seine Ehefrau schrieb, ein „Mann von reizbarem Ehrgefühl und übersteigerten ethischen Ansprüchen an sich und Andre und . . . zur Maßlosigkeit disponirt“.
Mehrfach weist Kaesler darauf hin, dass Weber mit Freunden wie Troeltsch, Robert Michels und Georg Simmel gebrochen habe. Nur berichtet er nirgends davon, was jeweils der Anlass für Streit und wechselseitiges Enttäuschtsein war. Auch unterschlägt er, dass Weber und Troeltsch sich durch Vermittlung ihrer Ehefrauen nach einigen Jahren wieder versöhnten.
Leider liegt ein Hauch von Tragik über diesem dicken, hervorragend bebilderten Buch. Der Autor sieht in ihm sein eigentliches Lebenswerk. Aber er spricht selbst von „unserer bewusst verengten Sicht auf Max Weber“. Gewiss, jeder Biograf schreibt nur von einem partikularen, eben seinem individuellen Sehepunkt aus. Aber man kann sich durch prägnante Begriffe und klare Problemdefinitionen die Grenzen allen biografischen Erzählens reflexiv transparent machen. An genau jener begrifflichen Prägnanz, um die Max Weber immer wieder gerungen hat, mangelt es seinem allzu redseligen Biografen.
„Fast nichts mehr war 1920 so
geblieben, wie es 1864 gewesen
war.“ – Wer hätte das gedacht!
Wo es keine Quellen gibt,
rettet sich der Biograf
in Psychojargon
Dirk Kaesler: Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie. Verlag C.H. Beck, München 2014. 1007 Seiten, 38 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
War Max Weber ein Muttersöhnchen? Und wenn ja, was wäre damit erklärt?
Dirk Kaesler widmet Max Weber eine maßlose Biografie, redselig und ohne begriffliche Klarheit
VON FRIEDRICH WILHELM GRAF
Pünktlich zur Feier des 150. Geburtstages am 21. April legt Dirk Kaesler nun seine lang angekündigte Biografie Max Webers vor. Es ist ein maßloses, aus der Form geratenes Buch von 1000 Seiten, geschrieben in einem teils grausam unbeholfenen, teils peinlich pathetischen Deutsch, das die Lektüre zu einer Qual macht. Aber man erfährt mancherlei neue Details aus dem Leben Webers und seiner Familie und muss dem Autor für seinen Sammlerfleiß Respekt zollen. Einige Deutungen zentraler Texte Webers, die Kaesler in ebenso langen wie langweiligen Paraphrasen nachzeichnet, überraschen durch den Mut zur Eigenwilligkeit. Immer wieder grenzt Kaesler seine „vermeintlich allwissende Erzählerstimme“ vom polyphonen Chor anderer Weber-Forscher ab. Sehr ausführlich lässt er zudem viele Stimmen aus Webers Leben ertönen, „die über die Hauptfigur berichten, allen voran die Stimme seiner Ehefrau, Marianne Weber“. Deren erstmals 1926 erschienenes „Lebensbild“ ist neben Webers eigenen Veröffentlichungen und den im Rahmen der kritischen „Gesamtausgabe“ gedruckten Briefen Kaeslers wichtigste Quelle.
Mit großer Intensität stützt er sich zudem auf die reichlich vorhandene Sekundärliteratur. Allein das Verzeichnis der von ihm benutzten Forschungsliteratur umfasst über fünfzig Druckseiten. Allerdings hat sich der Autor im Umgang mit den Leistungen anderer für ein höchst problematisches Vorgehen entschieden. Bisweilen nennt er die Namen von Weber-Forschern, auf die er sich stützt, in seinem „Erzähltext“. Aber er verzichtet darauf, die aus der weltweit boomenden Deutungsindustrie übernommenen Behauptungen und Zitate nach den üblichen wissenschaftlichen Standards nachzuweisen. Auch für die ausführlichen Quellenzitate gibt es keinerlei Belege. Auf knapp 1000 Seiten Biografie findet sich keine einzige Anmerkung.
Man kann dies als Mangel an Transparenz beklagen. Aber es mag auch ein Zeichen dafür sein, dass Kaesler seine große „Erzählung“ gar nicht als Wissenschaft, sondern als Unterhaltungsliteratur fürs bildungsbürgerliche Publikum versteht.
Gern benutzt der Autor die Sprache des Theaters. Die „vielfältigen Bühnen für das Leben, das hier erzählt werden soll, müssen vorbereitet, eingerichtet und beschrieben werden“. Auf ihnen will der Biograf ein „Spiel“ inszenieren, und so beginnt er ganz klassisch „Vor dem Vorhang“. „Max Weber ist nicht unser Zeitgenosse“, lautet die zentrale These dieses Prologs. Weber habe nie ein Auto gesteuert, sei wohl nur einmal im Leben Fahrrad gefahren und niemals mit einem Flugzeug geflogen. Dann wird der Vorhang geöffnet. „In diesem Spiel geht es um Leben, Schicksal und Werk eines preußischen Bürgers in Deutschland im Zeitraum von 1864 bis 1920.“ Mit allzu großer Ausführlichkeit entwirft Kaesler deshalb Bühnenräume, die die relevanten lebensweltlichen Kontexte Webers darstellen sollen. Doch oft wirken die Bühnen eher brüchig. „Die spezifisch preußische Amalgamierung von Thron und Altar in Form des staatskirchlichen Protestantismus mit dem Fürsten als landesherrlichem Oberhaupt einer Kirche, die durch ihre Heilsfunktionäre die gottgegebene Obrigkeit überhöhen, steckte den Rahmen für die religiöse Erziehung Max Webers, ungeachtet aller Versuche seiner Mutter, diese in eine reformierte Richtung zu lenken. Die wissenschaftliche Erforschung ebensolcher Rahmungen des Lebens von Menschen durch als religiös definierte Ordnungsvorstellungen sollte eines der ganz großen Lebensthemen Max Webers werden. Sowohl sein Leben als auch sein wissenschaftliches und politisches Werk entwickelten sich vor dem Hintergrund des erbitterten Todeskampfes der feudalen Epoche angesichts des heraufziehenden bürgerlichen Zeitalters, das jedoch in deutschen Landen, und in Preußen allemal, nicht wirklich zum Sieg gelangen sollte. Die Doppelgesichtigkeiten Preußens spiegeln sich auch wider in den politischen Positionen des ewigen Preußen Max Weber.“
Seitenlang berichtet Kaesler über die Geschichte der kleindeutschen Reichsgründung und die wirtschaftliche Lage Erfurts, wo Max Weber senior seit dem Herbst 1862 dritter bezahlter Stadtrat war. Gewiss ist es interessant zu erfahren, was der Vater in diesem Amte alles zu tun hatte und welchen Vereinen er angehörte. Aber braucht es zu Max Webers Vater über 50 Seiten, auf denen vom Sohn niemals die Rede ist? Auch der Gewinn, den die sehr breite Darstellung der europäischen und speziell deutschen Welt um 1864 für die Erfassung des intellektuellen wie politischen Profils des jungen Max Weber erbringen soll, bleibt gering. Kaesler zeichnet seinen „Fanatiker des Willens“, seine „Ein-Mann-Wissenschaftsmaschine“ als einen „Menschen zwischen den Zeiten“, in einer Epoche dramatischen sozialen wie kulturellen Wandels. „Stellt man die inneren Bilder jener Welt, in die Max Weber hineingeboren wurde, neben die inneren Bilder jener Welt, die er verlassen musste, so spürt man, dass sich einmal mehr in der Geschichte der Menschheit die Figurationen ihrer vielfältigen Verflechtungen radikal verändert hatten. Fast nichts mehr war 1920 so geblieben, wie es 1864 gewesen war.“ Dies stimmt und ist doch nur eine Trivialität. Moderne Gesellschaften zeichnen sich nun einmal durch eine fortwährend sich beschleunigende Veränderungsdynamik aus. Es war eine der Leistungen Max Webers, die das Leben der Individuen durchdringende harte Wirkungsmacht kapitalistisch zweckrationaler Modernisierung zu erfassen.
Auch nach dem Tod wird noch Theater gespielt. Seinem Prolog lässt Käsler einige Seiten über die Trauerfeier und Einäscherung folgen. Marianne Weber hatte zunächst den langjährigen Heidelberger Fachmenschenfreund Ernst Troeltsch gebeten, bei der Trauerfeier im Krematorium auf dem Münchner Ostfriedhof zu sprechen. Doch Troeltsch musste am Tag der Trauerfeier, dem 17. Juni 1920, wichtige parlamentarische Beratungen über die „Neuregelung der Verfassung der evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen Preußens“ leiten. Statt seiner hielten der mit den Webers befreundete Staatsrechtslehrer Karl Rothenbücher für die Universität und der Nationalökonom Lujo Brentano, Webers Vorgänger auf dem Lehrstuhl, für die Bayerische Akademie der Wissenschaften Gedenkreden. Der in Kiel Praktische Theologie lehrende Otto Baumgarten, Webers Lieblingscousin, der Max und Marianne am 20. September 1893 getraut hatte, durfte weder eine Predigt halten noch ein Gebet sprechen. Statt dessen ergriff, gegen alle bürgerliche Konvention, die Witwe selbst das Wort, um von des Gatten höchster und köstlichster Gabe zu zeugen, „seiner Liebeskraft“.
Nach dem Bericht Eduard Baumgartens, eines Vetters zweiten Grades, erklärte Marianne, dass nicht allein sie, sondern auch „hier, neben mir, meine Freundin“ diese „Liebeskraft“ bezeugen könne. Gemeint war damit Else Jaffé, zu der Weber seit Ende 1917 eine heftige Liebesbeziehung unterhielt. Das komplexe Thema der Ehe von Max und Marianne Weber sowie seiner Liebesbeziehungen zu der Pianistin Mina Tobler und eben zu Else Jaffé-Richthofen will Kaesler mit Zurückhaltung und Taktgefühl behandeln. „Wir verzichten darauf, Einzelheiten der großen Leidenschaft Max Webers für Else Jaffé zu schildern.“ Aber allzu geschwätzig wird dann doch darüber berichtet, dass Else „die große Liebe seines Lebens“ war.
Max Weber hatte den ersten Band seiner „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“ am 7. Juni 1920, also wenige Tage vor seinem Tod, „MARIANNE WEBER 1893‚ bis ins Pianissimo des höchsten Alters‘“ gewidmet. Dies ist, wie Kaesler überzeugend zeigt, eine Anspielung auf die berühmte „Zwischenbetrachtung“ in „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“, in der Weber die elementaren Spannungen zwischen der „religiösen Brüderlichkeitsethik der Erlösungsreligionen“ und der „geschlechtlichen Liebe“, der „größten irrationalen Lebensmacht“ analysiert. Die erotische Beziehung deutet Weber hier als „den unüberbietbaren Gipfel der Erfüllung der Liebesforderung“, die „den direkten Durchbruch der Seelen von Mensch zu Mensch“ zu gewähren scheint, die als „volle Einswerdung, als ein Schwinden des ‚Du‘ gefühlt wird und so überwältigend ist, dass sie ‚symbolisch‘ – sakramental – gedeutet wird“.
Seiner Feier der außeralltäglichen „geschlechtlichen Liebe“ stellte Weber ein nüchternes Konzept der Ehe als „einer ökonomischen Angelegenheit zur Sicherung der Frau und des Erbrechtes des Kindes“ gegenüber. Kaesler deutet die Widmung für Marianne als Bekenntnis zu einer „Gefährtenehe“, in der es gerade nicht um erotische Erfüllung gegangen sei, die Widmung des zweiten Bandes „MINA TOBLER zugeeignet“ hingegen als ein Zeichen dafür, dass hier Sex im Zentrum der regelmäßigen Besuche Max Webers bei seinem „geliebten Tobelchen“ gestanden habe.
Eigene Beachtung verdient der Untertitel, den Kaesler seinem Opus magnum gegeben hat: „Preuße, Denker, Muttersohn“. Gewiss, die emotionale Beziehung Webers zur überaus frommen, gottesfürchtigen Mutter Helene war eng. Aber soll man ihn wirklich ein „Muttersöhnchen“ nennen? Kaesler geht sehr genau und umständlich die Wege nach, auf denen aus dem hoch aufgeschossenen Gymnasiasten ein aufgedunsener, Unmengen an Bier und Schnaps in sich hineinschüttender schlagender Verbindungsstudent wurde. Auch beschreibt er die dadurch entstehenden Spannungen zwischen der sozialprotestantisch engagierten Mutter und ihrem ältesten Sohn. Dennoch bleibt die von Volker Elis Pilgrim entlehnte Rede vom „entschiedenen Muttersohn“ dunkel.
Max Weber verehrte seine Mutter gerade wegen ihrer tiefen Religiosität. Er litt darunter, selbst „religiös unmusikalisch“ zu sein, zwar nicht „irreligiös“ oder gar „antireligiös“, aber unfähig, ähnlich wie die Mutter Gefühle fürs Heilige, Numinose zu entwickeln. Auch war er eine „zerrissene“, vielfältig widersprüchliche Persönlichkeit.
Kaesler behauptet nun: „Die überaus starke Bindung zu seiner Mutter ließ ihn machtanfällig werden und legte seine Neigung zu Gewaltsamkeit fest. Helene Weber überfrachtete ihren Erstgeborenen mit Erwartungen, mit überreichlich ‚Soll‘ und ‚Muss‘, aber nicht mit sonderlich viel uneigennütziger Liebe.“ Mehr noch: „Seine eigene Mutter ließ die ‚weiblichen‘ Seiten ihres Erstgeborenen nicht zur Entfaltung kommen.“ Was immer mit diesen „weiblichen Seiten“ gemeint sein mag – Kaesler meint wissen zu können, dass die dominante Mutter die „männliche Geschlechtsidentität“ des Sohnes „vereitelt“ habe. „Seine nächtlichen ‚Störungen‘ und die damit verbundenen Pollutionen waren vermutlich nichts anderes als die Ergebnisse von – möglicherweise besonders häufiger – Selbstbefriedigung. Ein Muttersohn entwickelt leicht Identitätsprobleme, ein sexuelles Vakuum und eine virulente Gefühlskälte, die alle Menschen bedrohen, die ihm zu nahe kommen.“ Das „möglicherweise“ ist vielsagend. Wo es keine Quellen gibt, rettet sich der Biograf in Psychojargon. Zu den vielen Widersprüchen in Kaeslers Deutung gehört es, dass er sich heftig von Joachim Radkaus psychohistorischer Biografie aus dem Jahr 2005 abgrenzt, selbst aber immer wieder zu wilden psychologistischen Spekulationen neigt.
Es mag absurd erscheinen, bei einer Biografie von knapp 1000 Seiten auf Fehlendes hinzuweisen. Aber selbst manch Wichtiges berichtet Kaesler nicht. Die Brüche und Widersprüche seines Textes erwecken den Eindruck, als seien im Prozess des Kürzens, von dem der Autor spricht, auch einige elementare Informationen gestrichen worden. So nennt Kaesler Weber einen „notorischen Streithammel“, der in „seiner tiefsitzenden Gekränktheit“ oft eine „enorme Energie“ in Auseinandersetzungen mit Kollegen investierte. In der Tat war Weber, wie seine Ehefrau schrieb, ein „Mann von reizbarem Ehrgefühl und übersteigerten ethischen Ansprüchen an sich und Andre und . . . zur Maßlosigkeit disponirt“.
Mehrfach weist Kaesler darauf hin, dass Weber mit Freunden wie Troeltsch, Robert Michels und Georg Simmel gebrochen habe. Nur berichtet er nirgends davon, was jeweils der Anlass für Streit und wechselseitiges Enttäuschtsein war. Auch unterschlägt er, dass Weber und Troeltsch sich durch Vermittlung ihrer Ehefrauen nach einigen Jahren wieder versöhnten.
Leider liegt ein Hauch von Tragik über diesem dicken, hervorragend bebilderten Buch. Der Autor sieht in ihm sein eigentliches Lebenswerk. Aber er spricht selbst von „unserer bewusst verengten Sicht auf Max Weber“. Gewiss, jeder Biograf schreibt nur von einem partikularen, eben seinem individuellen Sehepunkt aus. Aber man kann sich durch prägnante Begriffe und klare Problemdefinitionen die Grenzen allen biografischen Erzählens reflexiv transparent machen. An genau jener begrifflichen Prägnanz, um die Max Weber immer wieder gerungen hat, mangelt es seinem allzu redseligen Biografen.
„Fast nichts mehr war 1920 so
geblieben, wie es 1864 gewesen
war.“ – Wer hätte das gedacht!
Wo es keine Quellen gibt,
rettet sich der Biograf
in Psychojargon
Dirk Kaesler: Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie. Verlag C.H. Beck, München 2014. 1007 Seiten, 38 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Dirk Kaeslers Biografie über Max Weber hat bei Gangolf Hübinger keinen ganz runden Eindruck hinterlassen. Das Leben des Begründers der Soziologie ist seines Wissens noch nie derart umfassend dargestellt worden wie in diesem Tausendseiten-Wälzer, in dem Kaesler, emeritierter Soziologieprofessor, die Summe seiner lebenslangen Beschäftigung mit Weber gezogen hat. Er findet in dem Buch bei der eingehenden Darstellung von Webers Schriften viele "anregende Akzente", vermisst aber eine konkrete Fragestellung, die über den thematischen Fokus des Untertitels "Preuße, Denker, Muttersohn" hinausgeht. "Preuße" scheint ihm Weber eher in dem Sinn, dass er negativ auf Preußen fixiert gewesen sei. Als "Denker" kann ihn Hübinger dagegen nicht genug rühmen und stimmt hier mit Kaesler sehr überein, während er dessen Charakterisierung Webers als "Muttersohn" insofern differenziert, als er die Mutter vor allem als finanziellen Rückhalt sieht. Der wissenschaftlichen Wert dieser Biografie wird für Hübinger dadurch deutlich beeinträchtigt, dass der Autor aus "stilistischen Gründen" darauf verzichtet hat, seine Zitate zu belegen. Als "roman vrai" erachtet der Rezensent diese Weber-Biografie dennoch für "lesenswert".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2014Der letzte Universalgelehrte - ein Preuße?
Die Faszination schreibt immer mit: Dirk Kaesler will mit seiner monumentalen Biographie Max Weber entzaubern.
Groß war stets das Lamento. Da wird die Max-Weber-Gesamtausgabe bald fertiggestellt sein, und noch immer fehlt es an einer Biographie, die über Werk und Person des "Mythos aus Heidelberg" aufzuklären vermag. So blieb Marianne Webers "Lebensbild" aus dem Jahre 1926, an Authentizität und Verehrungswillen ohnehin nicht zu übertreffen, die Richtschnur für alle biographisch orientierten Weber-Interpretationen. Das änderte sich vor einiger Zeit mit Joachim Radkaus großem Versuch, "Die Leidenschaft des Denkens" bei Weber nachzuzeichnen. Es folgte Dirk Kaeslers "kleiner Weber" aus dem Jahre 2011.
Zu Webers bevorstehendem Geburtstag am 21. April erschien Anfang des Jahres Jürgen Kaubes anregende wie informative Biographie, die auch bei einem breiteren Publikum die Neugier auf den letzten Universalgelehrten der Moderne wecken könnte. Und nun folgt Kaeslers "großer Weber". Was erwartet uns? Eine erschöpfende Lektüre: Auf mehr als tausend Seiten hat der Weber-Forscher alles ausgebreitet, was er in fast zwanzigjähriger Arbeit aufgespürt hat. Wer so lange und tief schürft, wird am Ende auch Kleinigkeiten als aufregende Neuigkeiten wertzuschätzen lernen. Das ist die bekannte "déformation professionelle" aller Historiker und Philologen.
Die Stoßrichtung seiner Interpretation ist die Korrektur des "Lebensbildes", und Marianne Weber ist in Kaeslers Buch in der Tat allgegenwärtig. Zuweilen werden ganze Textpassagen von ihr zitiert, um sie dann berichtigen zu können. Eine richtige und wichtige Korrektur betrifft zweifellos das Vaterbild, denn Max Weber senior war mehr als ein Bonvivant und Honoratiorenpolitiker. So wird seine erfolgreiche politische Karriere minutiös nachgezeichnet, sein Wirken ausführlich beschrieben. Da ist der Junior noch gar nicht geboren.
Aber muss der Leser im Detail wirklich erfahren, was Weber senior im Erfurter Stadtrat im Einzelnen gemacht hat, nur weil es der Biograph (wohlgemerkt: von Weber junior) herausgefunden hat? Es ist diese Unwucht zwischen "petits faits" und den großen Linien eines neuen Lebensbildes, die irritiert. Viele zutreffende Einschätzungen werden so regelrecht zugedeckt oder geraten zu Randbemerkungen. Zudem stört der Stil, denn Kaesler kann sich nicht entscheiden zwischen einer ruhigen Erzählweise, wie sie gute Historiker für ihre Heroen wählen, und dem Zeigefinger des Professors, der wie ein Theaterregisseur den Leser mit Hinweisen und Wegemarken traktiert.
Manche seiner Charakterisierungen lösen Verwunderung aus. So diskutiert Kaesler, dass Weber zwar wohl intelligent, aber doch vor allem fleißig, weil enorm belesen war. Das wäre ungefähr so, als habe Einstein seine Relativitätstheorie nur durch Lernen, aber nicht durch Intelligenz entdeckt. Weber gilt dem Biographen als Preuße. Der Jurist, Ökonom, Historiker und Soziologe wurde in der Tat in Preußen geboren, weil Erfurt 1864 zu Preußen gehörte, wie uns in einem langen Exkurs zur Stadt Erfurt mitgeteilt wird. Aber ist er deshalb Preuße? Wenn ja, dann mit großer Ambivalenz, wie seine Hassliebe zu Bismarck und seine Verachtung für Wilhelm II. zeigen. Und warum hat er es wohl vorgezogen, sein Leben im freien und liberalen Baden, erst in Freiburg und dann in Heidelberg, zu verbringen, am Ende dann in Wien und München, und eben nicht in Preußen?
Wenn damit das Männlichkeitsideal gemeint ist, Selbstbeherrschung und Gefühlsunterdrückung, dann ist das vor allem großbürgerlich und gilt bis auf den heutigen Tag. Wenn es sein Burschenschaftlertum, seine Duell- und Prozessierungsneigung unterstreichen soll, so verweist das zwar auf einen bei ihm in der Tat stark ausgeprägten Begriff von Ehre und Anstand. Dennoch ist Weber, wie Kaesler konzediert, kein Diederich Heßling, so dass sich Heinrich Manns "Untertan", der wilhelminische Mensch par excellence, von ihm denkbar stark unterscheidet. Weber selbst hat Heidelberg als seine Heimat begriffen, nicht Berlin oder Erfurt.
Weber wird als Muttersohn charakterisiert. Das stimmt, wenn es die unverbrüchlich enge Beziehung zwischen ihm und seiner Mutter Helene zum Ausdruck bringen soll. Aber er, der sich selbst als "religiös unmusikalisch" bezeichnet hat, konnte mit der pietistisch gefärbten Ethik seiner Mutter nicht viel anfangen. Dass die Religion eine der wichtigsten Mächte der Lebensführung vor allem traditionaler Gesellschaften war, musste ihm auch nicht erst seine Mutter beibringen, sondern das war eine Tatsache noch im protestantisch gefärbten Kaiserreich. Kaeslers eigene Korrektur des Vaterbildes betont dessen Vorbildrolle: Also - Muttersohn oder Vatersohn?
Dirk Kaesler hat uns einen barocken Weber beschert, etwas pompös, mit viel Zierrat und Girlanden ausgeschmückt, eher katholisch im Sinne von "catholicus" oder umfassend als protestantisch, also prägnant und bescheiden. Es ist eine feine Ironie, dass er, angetreten, die Person Max Webers zu entzaubern und damit den Bann zu durchbrechen, in den Marianne Weber ihren Gatten mit ihrem "Lebensbild" geschlagen hatte, am Ende in der gleichen Ecke hagiographischer Verehrung landet wie Webers Ehefrau. Ein Genie fesselt eben.
Dennoch gilt: Wer sich umfassend über Weber ins Bild setzen möchte, wird am Ende doch zu seinem Werk greifen und es mit Gewinn lesen. Der historische Informationsgehalt dieser Studie ist hoch, und das allein schon verdienstvoll. Hätte Max Weber wirklich den gleichen Stellenwert wie Goethe oder Shakespeare, dann wären in der Tat auch noch die Petitessen Gold wert. Es hieße seine Bedeutung grotesk überzeichnen, würden wir dieser Illusion erliegen. Weber gilt nicht mehr als der "Makroanthropos" (Jaspers) unserer Welt. Ein Resultat hat sein hundertfünfzigster Geburtstag schon einmal erbracht: So schnell wird kein weiterer Bedarf nach einer Weber-Biographie angemeldet werden.
HANS-PETER MÜLLER.
Dirk Kaesler: "Max Weber". Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie.
Verlag C. H. Beck, München 2014. 1007 S., Abb., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Faszination schreibt immer mit: Dirk Kaesler will mit seiner monumentalen Biographie Max Weber entzaubern.
Groß war stets das Lamento. Da wird die Max-Weber-Gesamtausgabe bald fertiggestellt sein, und noch immer fehlt es an einer Biographie, die über Werk und Person des "Mythos aus Heidelberg" aufzuklären vermag. So blieb Marianne Webers "Lebensbild" aus dem Jahre 1926, an Authentizität und Verehrungswillen ohnehin nicht zu übertreffen, die Richtschnur für alle biographisch orientierten Weber-Interpretationen. Das änderte sich vor einiger Zeit mit Joachim Radkaus großem Versuch, "Die Leidenschaft des Denkens" bei Weber nachzuzeichnen. Es folgte Dirk Kaeslers "kleiner Weber" aus dem Jahre 2011.
Zu Webers bevorstehendem Geburtstag am 21. April erschien Anfang des Jahres Jürgen Kaubes anregende wie informative Biographie, die auch bei einem breiteren Publikum die Neugier auf den letzten Universalgelehrten der Moderne wecken könnte. Und nun folgt Kaeslers "großer Weber". Was erwartet uns? Eine erschöpfende Lektüre: Auf mehr als tausend Seiten hat der Weber-Forscher alles ausgebreitet, was er in fast zwanzigjähriger Arbeit aufgespürt hat. Wer so lange und tief schürft, wird am Ende auch Kleinigkeiten als aufregende Neuigkeiten wertzuschätzen lernen. Das ist die bekannte "déformation professionelle" aller Historiker und Philologen.
Die Stoßrichtung seiner Interpretation ist die Korrektur des "Lebensbildes", und Marianne Weber ist in Kaeslers Buch in der Tat allgegenwärtig. Zuweilen werden ganze Textpassagen von ihr zitiert, um sie dann berichtigen zu können. Eine richtige und wichtige Korrektur betrifft zweifellos das Vaterbild, denn Max Weber senior war mehr als ein Bonvivant und Honoratiorenpolitiker. So wird seine erfolgreiche politische Karriere minutiös nachgezeichnet, sein Wirken ausführlich beschrieben. Da ist der Junior noch gar nicht geboren.
Aber muss der Leser im Detail wirklich erfahren, was Weber senior im Erfurter Stadtrat im Einzelnen gemacht hat, nur weil es der Biograph (wohlgemerkt: von Weber junior) herausgefunden hat? Es ist diese Unwucht zwischen "petits faits" und den großen Linien eines neuen Lebensbildes, die irritiert. Viele zutreffende Einschätzungen werden so regelrecht zugedeckt oder geraten zu Randbemerkungen. Zudem stört der Stil, denn Kaesler kann sich nicht entscheiden zwischen einer ruhigen Erzählweise, wie sie gute Historiker für ihre Heroen wählen, und dem Zeigefinger des Professors, der wie ein Theaterregisseur den Leser mit Hinweisen und Wegemarken traktiert.
Manche seiner Charakterisierungen lösen Verwunderung aus. So diskutiert Kaesler, dass Weber zwar wohl intelligent, aber doch vor allem fleißig, weil enorm belesen war. Das wäre ungefähr so, als habe Einstein seine Relativitätstheorie nur durch Lernen, aber nicht durch Intelligenz entdeckt. Weber gilt dem Biographen als Preuße. Der Jurist, Ökonom, Historiker und Soziologe wurde in der Tat in Preußen geboren, weil Erfurt 1864 zu Preußen gehörte, wie uns in einem langen Exkurs zur Stadt Erfurt mitgeteilt wird. Aber ist er deshalb Preuße? Wenn ja, dann mit großer Ambivalenz, wie seine Hassliebe zu Bismarck und seine Verachtung für Wilhelm II. zeigen. Und warum hat er es wohl vorgezogen, sein Leben im freien und liberalen Baden, erst in Freiburg und dann in Heidelberg, zu verbringen, am Ende dann in Wien und München, und eben nicht in Preußen?
Wenn damit das Männlichkeitsideal gemeint ist, Selbstbeherrschung und Gefühlsunterdrückung, dann ist das vor allem großbürgerlich und gilt bis auf den heutigen Tag. Wenn es sein Burschenschaftlertum, seine Duell- und Prozessierungsneigung unterstreichen soll, so verweist das zwar auf einen bei ihm in der Tat stark ausgeprägten Begriff von Ehre und Anstand. Dennoch ist Weber, wie Kaesler konzediert, kein Diederich Heßling, so dass sich Heinrich Manns "Untertan", der wilhelminische Mensch par excellence, von ihm denkbar stark unterscheidet. Weber selbst hat Heidelberg als seine Heimat begriffen, nicht Berlin oder Erfurt.
Weber wird als Muttersohn charakterisiert. Das stimmt, wenn es die unverbrüchlich enge Beziehung zwischen ihm und seiner Mutter Helene zum Ausdruck bringen soll. Aber er, der sich selbst als "religiös unmusikalisch" bezeichnet hat, konnte mit der pietistisch gefärbten Ethik seiner Mutter nicht viel anfangen. Dass die Religion eine der wichtigsten Mächte der Lebensführung vor allem traditionaler Gesellschaften war, musste ihm auch nicht erst seine Mutter beibringen, sondern das war eine Tatsache noch im protestantisch gefärbten Kaiserreich. Kaeslers eigene Korrektur des Vaterbildes betont dessen Vorbildrolle: Also - Muttersohn oder Vatersohn?
Dirk Kaesler hat uns einen barocken Weber beschert, etwas pompös, mit viel Zierrat und Girlanden ausgeschmückt, eher katholisch im Sinne von "catholicus" oder umfassend als protestantisch, also prägnant und bescheiden. Es ist eine feine Ironie, dass er, angetreten, die Person Max Webers zu entzaubern und damit den Bann zu durchbrechen, in den Marianne Weber ihren Gatten mit ihrem "Lebensbild" geschlagen hatte, am Ende in der gleichen Ecke hagiographischer Verehrung landet wie Webers Ehefrau. Ein Genie fesselt eben.
Dennoch gilt: Wer sich umfassend über Weber ins Bild setzen möchte, wird am Ende doch zu seinem Werk greifen und es mit Gewinn lesen. Der historische Informationsgehalt dieser Studie ist hoch, und das allein schon verdienstvoll. Hätte Max Weber wirklich den gleichen Stellenwert wie Goethe oder Shakespeare, dann wären in der Tat auch noch die Petitessen Gold wert. Es hieße seine Bedeutung grotesk überzeichnen, würden wir dieser Illusion erliegen. Weber gilt nicht mehr als der "Makroanthropos" (Jaspers) unserer Welt. Ein Resultat hat sein hundertfünfzigster Geburtstag schon einmal erbracht: So schnell wird kein weiterer Bedarf nach einer Weber-Biographie angemeldet werden.
HANS-PETER MÜLLER.
Dirk Kaesler: "Max Weber". Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie.
Verlag C. H. Beck, München 2014. 1007 S., Abb., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"In short, Dirk Kaesler's biography is set to be the standard reference work on Weber for a long time to come."
Ronald Speirs, Times Literary Supplement, 24. Juli 2015
Ronald Speirs, Times Literary Supplement, 24. Juli 2015