Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Einen Schleier von Fernweh und Wehmut, sowie dem Gefühl, aus dem eigenen Leben emigrieren zu müssen, nimmt Martina Meister über diesem Buch wahr, aus Kritikerinnensicht ein "sensibles Selbstporträt der Dichterin", mit dem Ilma Rakus endgültig in der deutschsprachigen Literatur angekommen ist. Es sei ein seltenes Buch, schreibt Meister auch, eines, das sie kaum in ein Genre fassen mag, aber am ehesten noch als "poetische Autobiografie" bezeichnen will. Es gehe um Vergangenheit und Geschichte, um historische Bruchstellen in einem Leben, das für die Kritikerin als "Lektion über das 20. Jahrhundert" in eine Art Allgemeingültigkeit gehoben wird. Rakusa arbeite mit den Bauprinzipien von Auslassung und Verdichtung, und fange so das, was sich gegen die Alltagssprache sperre, in Bilden und Worten ein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2009Epochenverschleppung
Ilma Rakusa segelt durchs atonale Erinnerungsmeer
Das Bild des Koffers auf dem Schrank in den anderthalb Zimmern lässt sie nicht los. Das halbe Zimmer bewohnte Joseph Brodsky, in dem ganzen lebten seine Eltern. In anderen Zimmern lebten andere Familien, eine Leningrader Kommunalwohnung eben, vollgestopft mit dem Glanz und dem Elend des zwanzigsten Jahrhunderts. Auf dem Koffer, einem schwarzen Überseekoffer, wehte trotzig eine winzige amerikanische Flagge. Wenige Monate später war der Dichter im Exil. 1987 erhielt er den Nobelpreis, mit 56 Jahren starb er 1996.
Wenn Ilma Rakusa diese Episode aus dem Jahr 1972 in einer ihrer autobiographischen Vignetten erzählt, dann klingt das wie Paläontologie, Urzeitforschung. Die 1946 in der Slowakei geborene Tochter einer Ungarin und eines Slowenen, die in Budapest, Ljubljana, Triest und Zürich polyglott und kosmopolitisch aufwuchs, erweist sich als fulminante Epochenverschlepperin, als Zeitzeugin einer mitteleuropäischen Nachkriegszeit, in der es dieses Mitteleuropa zwischen Ost und West gar nicht geben durfte.
Die Übersetzerin, Literaturkritikerin, Dichterin und passionierte Klavierspielerin segelt durch ein Kopfmeer der Erinnerungen, durch Episoden und Geschichten, die überall auch das Vorgestern und Vorvorgestern durchscheinen lassen. Immer wieder wird die Chronologie verändert, hängen andere Bilder im Raum, ein Innehalten im gedanklichen, sprachlichen und kulturellen Nomadisieren, um sich meditativ selbst auf der Spur zu sein.
Die Märchen der Kindheit auf dem Budapester Rosenhügel, erzählt in der ungarischen Sprache mit ihrer eigenwilligen Melodie. Slowenien bleibt ein Garten mit drei Jahreszeiten. Hinter dem Karstgebirge öffnete sich das Meer der Kindheit, die Bucht von Triest. In die heiteren Töne dieser Stadt mischen sich mit den Jahren Dissonanzen aus einer nicht allzu fernen Vergangenheit. In der Reisfabrik hatte man recht gründlich die Trockenanlage zum Krematorium umgebaut. Von hier wurden Juden verschleppt und etwa fünftausend slowenische, kroatische und italienische Partisanen verbrannt. Die Stadt bleibt "verschattet, in einer Ambivalenz, aus der sich keine Identität konstruieren lässt".
Zürich bleibt gesichtslos, eine Stadt, die der Familie endlich mehr als eine flüchtige Zuflucht bietet, die, wie Rakusa schreibt, immer gut zu ihr war, die ihr das Klavierspiel und die deutsche Sprache schenkte. Von hier aus ging es dann in die Welt. Zum Studium nach Paris und auf Reisen. Als die Staatenlose endlich mit einem Schweizer Pass geadelt wird, taucht sie ein in die Melancholie der Kindheit, die sich überall im Osten des Kontinents, in der Tristesse des kommunistischen Grau, finden lässt.
Zur Heimat wird die Sprache, die seit der Kindheit im Plural existierte, zur Liebe die Musik und die Literatur, vor allem die russische, die sie seit ihrer Kindheit liest. Die große Weltpolitik jener Jahre bleibt draußen vor der Tür. Während die Studenten im Westen Europas rebellieren und der Aufstand in Prag von den Sowjets niedergewalzt wurde, verbringt Rakusa in Leningrad ihre Tage in der ebenso muffigen wie ehrwürdig-großartigen Saltykow-Schtschedrin-Bibliothek mit Exzerpieren. Während Zeitgenossen Marx für sich entdecken, liest sie die Oden und Elegien des russischen Romantikers Baratynskij. Der Ort, von dem aus einst die Welt verändert wurde, Petersburg/Leningrad, wirkt wie eine Insel intellektueller Seligkeit. Später folgen fernere Orte. Tblissi, Alma-Ata, Taschkent.
Die Neugier treibt weiter, die Bilder werden ephemerer. Am Ende steht die Erinnerung an eine Reise nach Iran, irgendwann, vor nicht allzu langer Zeit. Kriegsszenarien liegen in der Luft, doch jeder Iraner könne seinen Hafis auswendig, den Dichter der Lieder der Liebe. Das mag so sein, doch wirkt dies hier ein wenig wie ein Appendix, eine Seite aus einem Touristen-Blog. Man liest die kurzen Texte gern, eine Poesie in Prosa, lakonisch, flüchtig, atonal, eine Reise durch ein halbes Jahrhundert in Siebenmeilenworten, Patina auf Schwarzweißbildern, ein Kaddisch für ein Europa, das es so nicht mehr gibt.
SABINE BERKING
Ilma Rakusa: "Mehr Meer". Erinnerungspassagen. Literaturverlag Droschl, Graz 2009. 320 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ilma Rakusa segelt durchs atonale Erinnerungsmeer
Das Bild des Koffers auf dem Schrank in den anderthalb Zimmern lässt sie nicht los. Das halbe Zimmer bewohnte Joseph Brodsky, in dem ganzen lebten seine Eltern. In anderen Zimmern lebten andere Familien, eine Leningrader Kommunalwohnung eben, vollgestopft mit dem Glanz und dem Elend des zwanzigsten Jahrhunderts. Auf dem Koffer, einem schwarzen Überseekoffer, wehte trotzig eine winzige amerikanische Flagge. Wenige Monate später war der Dichter im Exil. 1987 erhielt er den Nobelpreis, mit 56 Jahren starb er 1996.
Wenn Ilma Rakusa diese Episode aus dem Jahr 1972 in einer ihrer autobiographischen Vignetten erzählt, dann klingt das wie Paläontologie, Urzeitforschung. Die 1946 in der Slowakei geborene Tochter einer Ungarin und eines Slowenen, die in Budapest, Ljubljana, Triest und Zürich polyglott und kosmopolitisch aufwuchs, erweist sich als fulminante Epochenverschlepperin, als Zeitzeugin einer mitteleuropäischen Nachkriegszeit, in der es dieses Mitteleuropa zwischen Ost und West gar nicht geben durfte.
Die Übersetzerin, Literaturkritikerin, Dichterin und passionierte Klavierspielerin segelt durch ein Kopfmeer der Erinnerungen, durch Episoden und Geschichten, die überall auch das Vorgestern und Vorvorgestern durchscheinen lassen. Immer wieder wird die Chronologie verändert, hängen andere Bilder im Raum, ein Innehalten im gedanklichen, sprachlichen und kulturellen Nomadisieren, um sich meditativ selbst auf der Spur zu sein.
Die Märchen der Kindheit auf dem Budapester Rosenhügel, erzählt in der ungarischen Sprache mit ihrer eigenwilligen Melodie. Slowenien bleibt ein Garten mit drei Jahreszeiten. Hinter dem Karstgebirge öffnete sich das Meer der Kindheit, die Bucht von Triest. In die heiteren Töne dieser Stadt mischen sich mit den Jahren Dissonanzen aus einer nicht allzu fernen Vergangenheit. In der Reisfabrik hatte man recht gründlich die Trockenanlage zum Krematorium umgebaut. Von hier wurden Juden verschleppt und etwa fünftausend slowenische, kroatische und italienische Partisanen verbrannt. Die Stadt bleibt "verschattet, in einer Ambivalenz, aus der sich keine Identität konstruieren lässt".
Zürich bleibt gesichtslos, eine Stadt, die der Familie endlich mehr als eine flüchtige Zuflucht bietet, die, wie Rakusa schreibt, immer gut zu ihr war, die ihr das Klavierspiel und die deutsche Sprache schenkte. Von hier aus ging es dann in die Welt. Zum Studium nach Paris und auf Reisen. Als die Staatenlose endlich mit einem Schweizer Pass geadelt wird, taucht sie ein in die Melancholie der Kindheit, die sich überall im Osten des Kontinents, in der Tristesse des kommunistischen Grau, finden lässt.
Zur Heimat wird die Sprache, die seit der Kindheit im Plural existierte, zur Liebe die Musik und die Literatur, vor allem die russische, die sie seit ihrer Kindheit liest. Die große Weltpolitik jener Jahre bleibt draußen vor der Tür. Während die Studenten im Westen Europas rebellieren und der Aufstand in Prag von den Sowjets niedergewalzt wurde, verbringt Rakusa in Leningrad ihre Tage in der ebenso muffigen wie ehrwürdig-großartigen Saltykow-Schtschedrin-Bibliothek mit Exzerpieren. Während Zeitgenossen Marx für sich entdecken, liest sie die Oden und Elegien des russischen Romantikers Baratynskij. Der Ort, von dem aus einst die Welt verändert wurde, Petersburg/Leningrad, wirkt wie eine Insel intellektueller Seligkeit. Später folgen fernere Orte. Tblissi, Alma-Ata, Taschkent.
Die Neugier treibt weiter, die Bilder werden ephemerer. Am Ende steht die Erinnerung an eine Reise nach Iran, irgendwann, vor nicht allzu langer Zeit. Kriegsszenarien liegen in der Luft, doch jeder Iraner könne seinen Hafis auswendig, den Dichter der Lieder der Liebe. Das mag so sein, doch wirkt dies hier ein wenig wie ein Appendix, eine Seite aus einem Touristen-Blog. Man liest die kurzen Texte gern, eine Poesie in Prosa, lakonisch, flüchtig, atonal, eine Reise durch ein halbes Jahrhundert in Siebenmeilenworten, Patina auf Schwarzweißbildern, ein Kaddisch für ein Europa, das es so nicht mehr gibt.
SABINE BERKING
Ilma Rakusa: "Mehr Meer". Erinnerungspassagen. Literaturverlag Droschl, Graz 2009. 320 S., geb., 23,- [Euro].
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