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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Fürs Zitat ist nicht nur Bedarf beim Buchstaben Z: Ilma Rakusa entwickelt in "Mein Alphabet" ihren literarischen Wertekanon
Die Schweizer Schriftstellerin, Übersetzerin und Literaturkritikerin Ilma Rakusa hat mit "Mein Alphabet" nach "Mehr Meer - Erinnerungspassagen" (2009) ein zweites großes Resümee geschrieben. Wie der Titel sagt, nennt es seine Stichworte in alphabetischer Folge, eine bewährte Methode, sich komplexen Gegenständen zu nähern. In Frankreich hat Roland Barthes es mit seinen "Fragmenten einer Sprache der Liebe" (1977) vorgemacht oder auch Gwenaëlle Aubry mit "Niemand" (2009), einem Buch über ihren psychisch labilen Vater, dessen deutsche Übersetzung wie "Mein Alphabet" bei Droschl erschienen ist. Die Lyrikerin Rakusa freilich hat ihre eigenen Gründe und Verfahren, die sich folgerichtig aus ihrem dichterischen Ansatz ergeben.
Bevor diese betrachtet werden, muss jeder Rezensent gewarnt sein. Denn der Abschnitt "Kritik", in dem Rakusa zunächst ihre eigene literaturkritische Tätigkeit erwähnt, entwickelt klare Wertvorstellungen: "Was will dieses Buch, was will der Autor mit diesem Buch? Wird ein Werk seinen eigenen Voraussetzungen gerecht, ist das schon beachtlich, unabhängig davon, ob es meinen Geschmack trifft oder nicht." Das Argument, das in bester autonomieästhetischer Tradition steht, ist nur halb überzeugend, wie eine Fortführung ad absurdum zeigt: Eine Kathedrale aus Kuhdung kann ihrem Anspruch vollkommen gerecht werden, ist aber trotzdem - Mist. Interessanter ist, was Rakusa am Umgang mit ihrem eigenen Werk bemängelt: "Zum x-ten Mal beschreibt da jemand meine Biographie mit Migrationshintergrund, legt mich auf Themen wie Heimatlosigkeit und Reisen fest, nur um die Hauptsache, die Sprache, macht er einen Bogen. Für mich gehört Sprache in den Fokus der Kritik, denn an ihr lassen sich die Literarizität und stilistische Eigenheit eines Textes ablesen." Die Vorgaben der promovierten Literaturwissenschaftlerin leuchten ein und sollten berücksichtigt werden.
"Mein Alphabet" enthält 109 Einträge, von "Anders" bis "Zaun", die allerdings nur nach den Anfangsbuchstaben sortiert sind: "Plausch" darf auf "Prinzessin, Prinz" folgen. Die Länge variiert zwischen wenigen Zeilen und ein paar Seiten. Sie beginnen - mit seltenen Ausnahmen ("Ljubljana") - nicht mit Definitionen, aber viele Einträge stellen ihren Gegenstand eingangs vor, naturgemäß in seiner Bedeutung für die Autorin. Es finden sich feine Abwandlungen, etwa die Auffächerung möglicher Spielarten von "Ruhe". Besonders reizvoll sind sprachlich motivierte Übergänge wie zwischen "Weiß" und "Wort": "Weiß" ist das Titel- und zugleich das Schlusswort, allerdings in neuer Bedeutung; im Folgeeintrag "Wort" wird es zentral und schließt ihn abermals ab. Ähnlich poetisch ist der Wechsel von "Zitat" zu "Zikadensommer": Rakusa zitiert den russischen Dichter Ossip Mandelstam, der "Zitate liebevoll Zikaden" nannte, und schafft damit performatives Exempel, mühelose Verbindung und sprachliche Dichte zugleich.
Apropos Zitate: Rakusa ist gastfreundlich, sie lässt gern andere zu Wort kommen; ein Eintrag kann eine Viertel- bis halbe Seite Fremdtext enthalten. "Mein Alphabet" hat Züge einer Anthologie, die neben den Leib-und-Magen-Autoren Brodsky, Dostojewski, Kis, Mayröcker, Ponge, oder Tschechow noch viele andere versammelt. Und apropos sprachliche Dichte: Variation entsteht nicht zuletzt dadurch, dass einige Einträge Gedichte sind. Diese können programmatisch sein, wie "Kindheit": "Erinnerung faltet sich aus / als wär sie ein Blatt Papier / beschrieben unbeschrieben / dazwischen fließende Säume / Strandlinien etc. / Ich reib mir die Kopfknie wund / bis taktil luzid / die Szenen springen". Sie können ebenso auf ihr Motiv konzentriert sein wie auf den Frühlingsanfang in "März".
Ansonsten sind die Einträge geprägt von Erinnerungen, Leiden, Vorlieben der 1946 Geborenen - sowie von essentiellen literarischen Themen, Motiven, Verfahren. Manchmal gehen diese nahtlos ineinander über, besonders wenn Rakusa von Schriftstellern spricht, die sie persönlichen kennt beziehungsweise kannte oder die ihr literarisch nahestehen; die Einträge "Esterházy (Péterke, mein Engel)" und "Zwetajewa" illustrieren die beiden Fälle. Entwickelt wird der reiche Fundus teils im Gespräch mit "C. O.", ohne dass dieser Punkt näher erläutert würde.
Was erfährt der Leser? Es gibt Anklänge an "Mehr Meer" bis in Formulierungen hinein, aber die Akzente verschieben sich. Im Vorgänger war die Herkunft essentiell, das familiäre Abenteuer zwischen Slowakei und Ungarn, Triest und Schweiz. Nun sind es persönliche Neigungen und Befindlichkeiten ("Migräne"), der Rahmen des Schaffens also, vor allem aber wesentliche Positionen im literarischen Selbstentwurf. Rakusas Japan-Affinität, in Modefragen, in der Liebe zu Haiku, No-Theater oder "Fadheit", wird entwickelt. Ihre Kindheitsliebe zum Märchen erklärt sie immer wieder neu. Ebenso wendet sie sich modernen Malern wie Giorgio Morandi und Kasimir Malewitsch zu oder Theater und Architektur, die gern sakral sein kann. Überhaupt Gott: Im entsprechenden Eintrag setzt sie apodiktisch: "Gott ist." So willensstark entscheidet die "halb-häretische Katholikin" die Frage nach der Transzendenz, erwähnt auch ihr Erweckungserlebnis Ostern 1959. In dieser Perspektive wundert ihr metaphysischer Wagemut nicht: "meine Suche gilt dem Guten, Wahren und Schönen".
Dass die Suche nach überzeitlichen Gewissheiten in antiker und christlicher Tradition mit modernen Mitteln angegangen wird, zeigen die literaturzentrierten Einträge. Dort erfährt man viel über literarische Motive ("Licht") sowie über poetische Stimmungen und Gewohnheiten, welche Rakusa kultiviert, etwa traumintensiven Schlaf und Flanieren ("Umweg"). Vor allem jedoch finden sich poetologische Erläuterungen, mal an erwarteter Stelle ("Poetik"), mal überraschend. In "Interpunktion" wird die Prägung durch Lateinunterricht und Musik - Rakusa hat intensiv Klavier gespielt - geschildert. Der Doppelgenealogie entspricht eine Doppelfunktion: Einerseits dient Zeichensetzung zur semantischen Klärung, andererseits erzeugt sie "eine rhythmisch-musikalische Gliederung". Die Dichterin spricht vom "Partiturcharakter meiner Texte", der zum mündlichen Vortrag auffordert.
Ähnlich aufschlussreich sind die Einträge "Listen", "Neun" oder "Schreiben (Scribo, ergo sum)". "Neun" erläutert den Neunzeiler, eine für Rakusa zentrale Gedichtform, und den Wert formaler Einschränkung allgemein: "Im Rahmen einer Form, einer bestimmten Vorgabe, kommt meine Phantasie erst recht in Gang." Womit auch die Gestalt von "Mein Alphabet" erklärt wäre; die Spätavantgardisten von Oulipo hätten applaudiert. "Reim" verteidigt Formales auf ähnlich eindringliche Weise. Auf den ersten Blick kontraintuitiv, auf den zweiten umso überzeugender beschwört Rakusa die "Sprengkraft des Reims", die in der unverhofften Verbindung besteht. Und wendet das Verfahren konsequent auf das Wort selbst an: "Was reimt sich auf Reim? Keim, Leim, Heim."
Wenn Rakusa die literaturkritischen Klischees zu ihrem Werk mit "Themen wie Heimatlosigkeit und Reisen" resümiert, so ist das doppelt zu bedauern. Zum einen eben wegen ihrer hellsichtigen Sprachbeobachtungen, zum anderen, weil die Passagen zu mehr oder weniger fernen Ländern mitunter Schwächen zeigen. "Mein Alphabet" malt das Porträt einer von Neugier und Fernweh Getriebenen. Reisen - ob erlebte oder erträumte - nehmen Raum ein, liefern Gegenstände. Rakusa hat viele Fahrten unternommen und bedauert desto intensiver, mit der Transsibirischen Eisenbahn nicht weit gekommen zu sein; die mongolische Wüste ist ihr ein Sehnsuchtsort. Sie, die als Kind "Weltforscherin" werden wollte, kompensiert Verpasstes durch das Lesen von Reiseberichten, ist sich dabei des Wildwuchses der Einbildungskraft bewusst: "Träume, nie realisierte Träume", befindet sie luzide zu Seidenstraßen-Phantasien.
Leider belegt der real gesammelte Reisefundus nicht immer dieselbe Klarsicht. Die geliebte Provence duftet etwas sehr nach Lavendel, und in "Plausch" bekommt die Unterhaltung älterer Italienerinnen ordentlich Lokalkolorit aufgetragen; das überrascht angesichts von Rakusas Triester Kindheit. Schließlich finden sich im Eintrag "Osten" Überlegungen zum GULag, die in einer völkerpsychologischen Analyse Russlands enden: "Richtet es sich nach Westen aus, hat es Phantomschmerzen, richtet es sich nach Osten aus, erst recht. Vielleicht ist es schlicht zu groß, um sich zu finden. Und lässt sich darum nur von harter Hand regieren." Der Rezensent hofft, ein Ironiesignal überlesen zu haben.
Das aber sind verhältnismäßig wenige weiche Stellen in einem sprachlich und gedanklich streng gefestigten Text - auffallen können sie nur, weil Rakusa ansonsten äußerst stilsicher und abgeklärt formuliert. Wenige Zeilen später findet sie zur gewohnt nüchternen, wohldosierten Spannung im Verbalbogen zurück. Und hinterlässt Bedauern, dass sie dem Alphabet nicht ein paar Einträge mehr abgetrotzt hat.
NIKLAS BENDER
Ilma Rakusa: "Mein Alphabet".
Literaturverlag Droschl, Graz 2019. 312 S., geb., 23,- [Euro].
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