Friederike Mayröcker hat für diesen Band neue Gedichte aus den letzten Jahren zusammengestellt. So entsteht eine Art lyrisches Tagebuch, ein Bilder-Buch der Dichterin mit dem »euphorischen Auge«. Oft sind es kleinste Anlässe, Anemonen auf einer Wiese, Schnee vor dem Fenster, das Gedicht (oder Bild) eines Kollegen, die in Friederike Mayröcker ein Sprechen provozieren, in dem sie ins Grenzenlose ausschreitet, sich die Welt verwandelt in die eigenen Worte und die eigenen Findungen in die Welt, »beim Gedichteschreiben ganz eingesponnen in das Heilige in das Wohlwollende, Sprengfreude in mir«.
die Küsse auf dem Campingtisch
im Buchgeschäft sie drückt sich leicht an ihn
ihr weiches Drehen Wenden
Nesteln rückenwärts an seine
Brust als suche sie die Nähe eines Trosts während
er zärtlich ihren Scheitel küßt,
indes der Buchhändler im Clothanzug
mit kalten Händen weist auf Platten Tische und Tableaux
die hohen Stapel cellophanverpackter Bücher
auf Campingtischen und Regalen : beklagt den schlechten
Absatz und die tristen Zeiten
indes ich hocke in der Phantasie
und küsse seine linke Wange
die Küsse auf dem Campingtisch
im Buchgeschäft sie drückt sich leicht an ihn
ihr weiches Drehen Wenden
Nesteln rückenwärts an seine
Brust als suche sie die Nähe eines Trosts während
er zärtlich ihren Scheitel küßt,
indes der Buchhändler im Clothanzug
mit kalten Händen weist auf Platten Tische und Tableaux
die hohen Stapel cellophanverpackter Bücher
auf Campingtischen und Regalen : beklagt den schlechten
Absatz und die tristen Zeiten
indes ich hocke in der Phantasie
und küsse seine linke Wange
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.06.2003Die kleinen Intervalle zwischen unseren Zungen
„Mein Arbeitstirol”: Neue Gedichte von Friederike Mayröcker
Vielleicht hatte sie sich auch nur verhört, als sie dort im Café saß und plötzlich dieses Wort an ihr Ohr wehte: „BLANCHE”. Zufällig hatte es seinen Weg gefunden in den „eigenen Kreislauf” und bestimmte nun jeden Atemzug, die „Zungen Luft” der Dichterin, färbte den Himmel und den Nachmittag, rief sogar eine ganze Kindheitslandschaft wach, das „Innere eines Waldes”, Tümpel und den fernen „Geschmack eines Apfels”. Am Ende hat die metamorphotische Kraft jenes Wortes alles in ein eigenes Licht getaucht, und die Schreibende ist ganz und gar zu Sprache geworden: „alles ist BLANCHE / ich bestehe nur noch aus BLANCHE ich habe mich verwandelt in BLANCHE.”
Schreiben und Atmen scheinen in den Textwelten Friederike Mayröckers bisweilen eins zu sein. Auf den ersten Blick wirken die Gedichte oft wie spontane Protokolle einer bestimmten Wahrnehmungssituation, wie Bewusstseinsskizzen, in deren Schraffuren sich Erinnerungsreste, „Erfahrungen mit der Haut” und kleine Beobachtungen zu einem „Stimmen- / Gedränge” verdichten. Doch je länger das lesende Auge durch diese „Selbstlandschaften” schweift, desto klarer wird ihm, wie genau hier „die Sätze die Ansätze und Wortgefüge sich überschneiden”. Jeder noch so direkt wirkende Beobachtungsvorgang ist zugleich „1 solch nachgestelltes Bild”, eine kunstvoll rhythmisierte Szenerie, in der die „pulsierende Zunge” all die schimmernden Elemente in eine poetische Gleichzeitigkeit übersetzt.
Wiederholungsfiguren, Wortreihen, kalkulierte Sprachverschiebungen – diesen feinen Ordnungsspuren verdankt der „Atem / aus der eigenen Kehle” seine lyrische Fügung . „Mein Arbeitstirol” versammelt Gedichte aus den Jahren 1996 bis 2001, und so nimmt es nicht Wunder, dass in zahllosen Versen der vor drei Jahren verstorbene Lebens- und Schreibpartner Ernst Jandl Gestalt gewinnt. Mancher dieser Texte ist dem Leser bereits aus jenem anrührenden „Requiem für Ernst Jandl” bekannt, das Friederike Mayröcker kurz nach dem Tod des „Hand- und Herzgefährten” geschrieben hat. Nun jedoch zeigen die Verse erst recht eigentlich, wie sehr der „Lippenzauber” der Mayröckerschen Wortkunst aufgehoben war in den Ritualen eines gemeinsamen Lebens: im täglichen Stelldichein der Gespräche und Lesestunden ebenso wie „in den kleinen / Intervallen zwischen unseren Zungen”.
NICO BLEUTGE
FRIEDERIKE MAYRÖCKER: Mein Arbeitstirol. Gedichte 1996-2001. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 215 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
„Mein Arbeitstirol”: Neue Gedichte von Friederike Mayröcker
Vielleicht hatte sie sich auch nur verhört, als sie dort im Café saß und plötzlich dieses Wort an ihr Ohr wehte: „BLANCHE”. Zufällig hatte es seinen Weg gefunden in den „eigenen Kreislauf” und bestimmte nun jeden Atemzug, die „Zungen Luft” der Dichterin, färbte den Himmel und den Nachmittag, rief sogar eine ganze Kindheitslandschaft wach, das „Innere eines Waldes”, Tümpel und den fernen „Geschmack eines Apfels”. Am Ende hat die metamorphotische Kraft jenes Wortes alles in ein eigenes Licht getaucht, und die Schreibende ist ganz und gar zu Sprache geworden: „alles ist BLANCHE / ich bestehe nur noch aus BLANCHE ich habe mich verwandelt in BLANCHE.”
Schreiben und Atmen scheinen in den Textwelten Friederike Mayröckers bisweilen eins zu sein. Auf den ersten Blick wirken die Gedichte oft wie spontane Protokolle einer bestimmten Wahrnehmungssituation, wie Bewusstseinsskizzen, in deren Schraffuren sich Erinnerungsreste, „Erfahrungen mit der Haut” und kleine Beobachtungen zu einem „Stimmen- / Gedränge” verdichten. Doch je länger das lesende Auge durch diese „Selbstlandschaften” schweift, desto klarer wird ihm, wie genau hier „die Sätze die Ansätze und Wortgefüge sich überschneiden”. Jeder noch so direkt wirkende Beobachtungsvorgang ist zugleich „1 solch nachgestelltes Bild”, eine kunstvoll rhythmisierte Szenerie, in der die „pulsierende Zunge” all die schimmernden Elemente in eine poetische Gleichzeitigkeit übersetzt.
Wiederholungsfiguren, Wortreihen, kalkulierte Sprachverschiebungen – diesen feinen Ordnungsspuren verdankt der „Atem / aus der eigenen Kehle” seine lyrische Fügung . „Mein Arbeitstirol” versammelt Gedichte aus den Jahren 1996 bis 2001, und so nimmt es nicht Wunder, dass in zahllosen Versen der vor drei Jahren verstorbene Lebens- und Schreibpartner Ernst Jandl Gestalt gewinnt. Mancher dieser Texte ist dem Leser bereits aus jenem anrührenden „Requiem für Ernst Jandl” bekannt, das Friederike Mayröcker kurz nach dem Tod des „Hand- und Herzgefährten” geschrieben hat. Nun jedoch zeigen die Verse erst recht eigentlich, wie sehr der „Lippenzauber” der Mayröckerschen Wortkunst aufgehoben war in den Ritualen eines gemeinsamen Lebens: im täglichen Stelldichein der Gespräche und Lesestunden ebenso wie „in den kleinen / Intervallen zwischen unseren Zungen”.
NICO BLEUTGE
FRIEDERIKE MAYRÖCKER: Mein Arbeitstirol. Gedichte 1996-2001. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 215 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2003Wie süß sind verständliche Worte
Emotionsgesättigt: Neue Gedichte von Friederike Mayröcker
Seit fast sechzig Jahren führt Friederike Mayröcker ihr Schreibleben: Aus dem Hieronymusgehäus ihrer von Papieren zugewachsenen Wiener Wohnung sind über siebzig Bücher hervorgegangen, eine ununterbrochene Poesie, die kein Nachlassen der Kräfte erkennen läßt. Altern als Problem für Künstler - so Gottfried Benns berühmte Formulierung - scheint für die Mayröcker nicht zu existieren.
Im Gegenteil. Ihr Lyrikband von 1992 besingt "Das besessene Alter". Rüstigkeit der Phantasie bezeugen die "Notizen auf einem Kamel" (1996), und das neue Lyrikbuch - nicht minder umfänglich als seine Vorgänger - bietet uns geradezu augenzwinkernd "Mein Arbeitstirol". Wer das alles liest oder gelesen hat, ahnt den Preis, den diese strömende Poesie kostet. Wo Schreiben Leben ist und Leben Schreiben, herrscht "Biographielosigkeit". Die Dichterin hat das selbst mit mehr Verwunderung als Bedauern konstatiert. In ihrem neuen Gedichtbuch findet sich die wohl radikalste Formulierung für das Lebensprogramm der inzwischen Neunundsiebzigjährigen: "mich interessiert das nicht was in meinem / Körper vorgeht was mit meinem / Körper geschieht, solange er noch / sitzen kann und Wörter schreiben auf der Maschine".
Biographielosigkeit heißt freilich nicht Abwesenheit von Schmerz. Davon spricht auf anrührende Weise Mayröckers Requiem auf den Tod ihres Lebensgefährten. Aber dieses "Requiem für Ernst Jandl" (2001) enthält auch die tröstende Überlegung, "daß man weiter mit diesem HERZ- und LIEBESGEFÄHRTEN sprechen kann nämlich weiter Gespräche führen kann". Jandl - der lebende und der tote Gefährte - ist auch in den zwischen 1996 und 2001 geschriebenen Gedichten von "Mein Arbeitstirol" die Zentralgestalt. Er figuriert direkt oder indirekt in vielen Gedichten; gegen zwanzig sind ihm ausdrücklich gewidmet. Wir lesen ein Gedicht zu seinem 71. Geburtstag oder eine Phantasie, wie Jandl als Knabe gewesen sein mag. Selbst ein Überraschungsbesuch erscheint buchenswert: "die Überrumpelung / was für 1 Wort! / oder Ernst Jandl überrascht von meinem Besuch am Morgen des 26.4.99".
"Mein Arbeitstirol" ist ein lyrisches Tagebuch, die Mitschrift seelischer Prozesse als Sprachbewegungen. Einmal heißt eine Überschrift "Melancholie, oder das dritte Gedicht dieses Tages" - nämlich des 20. 3. 99. Ein anderes Gedicht verzeichnet noch genauer den Zeitpunkt seiner Entstehung, nämlich: "5. Juni 98, zwischen 4 - 5 Uhr früh". Nach Jandls Tod im Sommer 2000 wandelt sich der oft spielerisch-zärtliche Tonfall der Gedichte zum Ausdruck von Schmerz und Verlust. Ein volksliedhafter Ton klingt auf: "bin jetzt hier bist du noch dort / dort war Blume Schmerz und Wort / kann dir nicht sagen wie es hier ist - oh daß du mir verloren bist." Oder noch schlichter und lapidarer im Schlußgedicht des Bandes: "ich habe niemand wo ich liegen kann".
Friederike Mayröcker galt lange als experimentelle, also als schwierige Autorin. In diesen späten Gedichten öffnet sie ihre hermetische Schreibweise. Sie wird deutlicher, realitätsbezogener und gewinnt Züge von Heiterkeit und Selbstironie. Vor allem zeigen die neuen Texte, daß die einst behauptete Biographielosigkeit einen Fond an erlebtem Leben verbarg, der nun im Alter stark und emotionsgesättigt zutage tritt.
Neben dem Lebensmenschen Ernst Jandl wird immer wieder das Bild der Eltern heraufgerufen. Die Dichterin spricht mit der toten Mutter, "die mich hört vermutlich, ohne Antwort". Sie erinnert sich an einen der letzten Besuche im Krankenhaus und wie sie die Mutter getröstet hatte. Sie schließt das Gedicht mit einem kleinen Errettungswunder: "ich ging / vorgebeugt in meiner behausung umher, strauchelte / stürzte: da fing sie mich auf."
Das Leben, darf man sagen, ist neben das Rettende der Poesie getreten. Darum auch kann die kunsterfahrene Dichterin sich leise mokieren über "layout-Feinheiten", die sie freilich gern in orthographischen Manierismen kultiviert. Darum kann sie Sätze oder ganze Gedichte mit einem "etc." beenden; ohne Angst, zuwenig oder zuviel gesagt zu haben. Früher hat sie einmal dekretiert: "Ich schreibe für Nervenmenschen." Nun hat sie ihr eigenes Fin de siècle hinter sich gelassen. Immer noch ist ihr die Kunst enorm wichtig. Ein mißglücktes Gedicht, meint sie, genüge schon, den Schlaf zu stören. Immer noch hat sie "Sehnsucht nach meinen (noch) nicht geschriebenen Werken". Aber nun geht es ihr um Wichtigeres, um das Ineinander von Leben und Kunst.
Die prägnanteste Formulierung dafür findet sich in einem titellosen Gedicht. Man möchte es einen Hymnus an das Leben nennen. Der Text beginnt mit einem wahrhaft trunkenen Stammeln: "dies dies dies dieses Entzücken ich KLEBE an dieser Erde." Die Dichterin rühmt die Wollust der Augen und die "Flitzerei" eines plötzlichen Engels, um in einem seligen Ach zu enden: "ach ich KLEBE an diesem / Leben an diesem LEBENDGEDICHT."
Merkwürdig und bedenkenswert: Diese Summe von Leben und Poesie ist das letzte vor Jandls Tod geschriebene Gedicht. Und so notwendig danach auf die Hymne Texte der Trauer und Klage folgen - es gibt keinen ausdrücklichen Widerruf. "Wie süß sind verständliche Worte", schreibt die im Hermetischen so Erfahrene in einem Gedicht vom 1. November 2001. An diesem ohne Worte verbrachten Tag - es gab nur das "zahlen bitte" im Gasthaus - vernimmt die Schreiberin zuletzt "Stimme und Ruf: nächtlich Schnee meines Herrn und Meisters". Die das schreibt, selbst eine Meisterin, läßt in ihren neuen Gedichten die bloße Meisterschaft hinter sich.
HARALD HARTUNG
Friederike Mayröcker: "Mein Arbeitstirol". Gedichte 1996 - 2001. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 216 S. geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Emotionsgesättigt: Neue Gedichte von Friederike Mayröcker
Seit fast sechzig Jahren führt Friederike Mayröcker ihr Schreibleben: Aus dem Hieronymusgehäus ihrer von Papieren zugewachsenen Wiener Wohnung sind über siebzig Bücher hervorgegangen, eine ununterbrochene Poesie, die kein Nachlassen der Kräfte erkennen läßt. Altern als Problem für Künstler - so Gottfried Benns berühmte Formulierung - scheint für die Mayröcker nicht zu existieren.
Im Gegenteil. Ihr Lyrikband von 1992 besingt "Das besessene Alter". Rüstigkeit der Phantasie bezeugen die "Notizen auf einem Kamel" (1996), und das neue Lyrikbuch - nicht minder umfänglich als seine Vorgänger - bietet uns geradezu augenzwinkernd "Mein Arbeitstirol". Wer das alles liest oder gelesen hat, ahnt den Preis, den diese strömende Poesie kostet. Wo Schreiben Leben ist und Leben Schreiben, herrscht "Biographielosigkeit". Die Dichterin hat das selbst mit mehr Verwunderung als Bedauern konstatiert. In ihrem neuen Gedichtbuch findet sich die wohl radikalste Formulierung für das Lebensprogramm der inzwischen Neunundsiebzigjährigen: "mich interessiert das nicht was in meinem / Körper vorgeht was mit meinem / Körper geschieht, solange er noch / sitzen kann und Wörter schreiben auf der Maschine".
Biographielosigkeit heißt freilich nicht Abwesenheit von Schmerz. Davon spricht auf anrührende Weise Mayröckers Requiem auf den Tod ihres Lebensgefährten. Aber dieses "Requiem für Ernst Jandl" (2001) enthält auch die tröstende Überlegung, "daß man weiter mit diesem HERZ- und LIEBESGEFÄHRTEN sprechen kann nämlich weiter Gespräche führen kann". Jandl - der lebende und der tote Gefährte - ist auch in den zwischen 1996 und 2001 geschriebenen Gedichten von "Mein Arbeitstirol" die Zentralgestalt. Er figuriert direkt oder indirekt in vielen Gedichten; gegen zwanzig sind ihm ausdrücklich gewidmet. Wir lesen ein Gedicht zu seinem 71. Geburtstag oder eine Phantasie, wie Jandl als Knabe gewesen sein mag. Selbst ein Überraschungsbesuch erscheint buchenswert: "die Überrumpelung / was für 1 Wort! / oder Ernst Jandl überrascht von meinem Besuch am Morgen des 26.4.99".
"Mein Arbeitstirol" ist ein lyrisches Tagebuch, die Mitschrift seelischer Prozesse als Sprachbewegungen. Einmal heißt eine Überschrift "Melancholie, oder das dritte Gedicht dieses Tages" - nämlich des 20. 3. 99. Ein anderes Gedicht verzeichnet noch genauer den Zeitpunkt seiner Entstehung, nämlich: "5. Juni 98, zwischen 4 - 5 Uhr früh". Nach Jandls Tod im Sommer 2000 wandelt sich der oft spielerisch-zärtliche Tonfall der Gedichte zum Ausdruck von Schmerz und Verlust. Ein volksliedhafter Ton klingt auf: "bin jetzt hier bist du noch dort / dort war Blume Schmerz und Wort / kann dir nicht sagen wie es hier ist - oh daß du mir verloren bist." Oder noch schlichter und lapidarer im Schlußgedicht des Bandes: "ich habe niemand wo ich liegen kann".
Friederike Mayröcker galt lange als experimentelle, also als schwierige Autorin. In diesen späten Gedichten öffnet sie ihre hermetische Schreibweise. Sie wird deutlicher, realitätsbezogener und gewinnt Züge von Heiterkeit und Selbstironie. Vor allem zeigen die neuen Texte, daß die einst behauptete Biographielosigkeit einen Fond an erlebtem Leben verbarg, der nun im Alter stark und emotionsgesättigt zutage tritt.
Neben dem Lebensmenschen Ernst Jandl wird immer wieder das Bild der Eltern heraufgerufen. Die Dichterin spricht mit der toten Mutter, "die mich hört vermutlich, ohne Antwort". Sie erinnert sich an einen der letzten Besuche im Krankenhaus und wie sie die Mutter getröstet hatte. Sie schließt das Gedicht mit einem kleinen Errettungswunder: "ich ging / vorgebeugt in meiner behausung umher, strauchelte / stürzte: da fing sie mich auf."
Das Leben, darf man sagen, ist neben das Rettende der Poesie getreten. Darum auch kann die kunsterfahrene Dichterin sich leise mokieren über "layout-Feinheiten", die sie freilich gern in orthographischen Manierismen kultiviert. Darum kann sie Sätze oder ganze Gedichte mit einem "etc." beenden; ohne Angst, zuwenig oder zuviel gesagt zu haben. Früher hat sie einmal dekretiert: "Ich schreibe für Nervenmenschen." Nun hat sie ihr eigenes Fin de siècle hinter sich gelassen. Immer noch ist ihr die Kunst enorm wichtig. Ein mißglücktes Gedicht, meint sie, genüge schon, den Schlaf zu stören. Immer noch hat sie "Sehnsucht nach meinen (noch) nicht geschriebenen Werken". Aber nun geht es ihr um Wichtigeres, um das Ineinander von Leben und Kunst.
Die prägnanteste Formulierung dafür findet sich in einem titellosen Gedicht. Man möchte es einen Hymnus an das Leben nennen. Der Text beginnt mit einem wahrhaft trunkenen Stammeln: "dies dies dies dieses Entzücken ich KLEBE an dieser Erde." Die Dichterin rühmt die Wollust der Augen und die "Flitzerei" eines plötzlichen Engels, um in einem seligen Ach zu enden: "ach ich KLEBE an diesem / Leben an diesem LEBENDGEDICHT."
Merkwürdig und bedenkenswert: Diese Summe von Leben und Poesie ist das letzte vor Jandls Tod geschriebene Gedicht. Und so notwendig danach auf die Hymne Texte der Trauer und Klage folgen - es gibt keinen ausdrücklichen Widerruf. "Wie süß sind verständliche Worte", schreibt die im Hermetischen so Erfahrene in einem Gedicht vom 1. November 2001. An diesem ohne Worte verbrachten Tag - es gab nur das "zahlen bitte" im Gasthaus - vernimmt die Schreiberin zuletzt "Stimme und Ruf: nächtlich Schnee meines Herrn und Meisters". Die das schreibt, selbst eine Meisterin, läßt in ihren neuen Gedichten die bloße Meisterschaft hinter sich.
HARALD HARTUNG
Friederike Mayröcker: "Mein Arbeitstirol". Gedichte 1996 - 2001. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 216 S. geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Lyrikband versammelt nach Informationen von Rezensent Nico Bleutge Gedichte aus den Jahren 1996 und 2001, weshalb es ihn auch nicht besonders wundert, dass in "zahllosen Versen" der vor drei Jahren verstorbene Mayröcker-Gefährte Ernst Jandl Gestalt gewinnt. Auf den ersten Blick wirken diese Gedichte auf Bleutge oft wie "versponnene Protokolle einer bestimmten Wahrnehmungssituation", wie "Bewusstseinsskizzen, in deren Schraffuren sich Erinnerungsreste" verdichten. Doch bei genauerer Betrachtung wird dem Rezensenten klar, das jeder Beobachtungsvorgang zugleich eine "kunstvoll rhythmisierte Szenerie" ist. Manches Gedicht, in dem der Rezensent Jandl eine Rolle spielen sieht, kannte er bereits aus Mayröckers "Requiem für Ernst Jandl".
© Perlentaucher Medien GmbH
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