»Nie habe ich von Pater G. erzählt, aus Angst, man könne mir anmerken, dass ich sein Kind geblieben bin.« »Meine Eltern hatten mich der Gemeinschaft der Padres anvertraut, weil mich dort das Beste, das selbst sie mir nicht geben konnten, erwarten würde. Ich habe sie heimlich oft verflucht, weil sie mich nicht darauf vorbereitet hatten, was dieses Beste sei ...« Als Zehnjähriger wurde Josef Haslinger Schüler des Sängerknabenkonvikts Stift Zwettl. Er war religiös, sogar davon überzeugt, Priester werden zu wollen, er liebte die Kirche. Seine Liebe wurde von den Padres erwidert. Erst von einem, dann von anderen. Ende Februar 2019 tritt Haslinger vor die Ombudsstelle der Erzdiözese Wien für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche. Dreimal muss er seine Geschichte vor unterschiedlich besetzten Gremien erzählen. Bis der Protokollant ihn schließlich auffordert, die Geschichte doch bitte selbst aufzuschreiben.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Petra Pluwatsch dankt Josef Haslinger für seine offenen Worte zum sexuellen Missbrauch im Stift Zwettl und zu seinen eigenen Erfahrungen dort als Sängerknabe. Dass es 50 Jahre gedauert hat, bis der Autor "Klartext" redet, kann die Rezensentin verstehen angesichts des perfiden psychologischen Bündnisses zwischen Täter und Opfer, wie es Haslinger am eigenen Beispiel schildert. Ein Lehrstück, das über die bloße Fallschilderung hinausgeht, meint Pluwatsch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.02.2020Eine Missbrauchsaffäre
Diese Zeit ragt bis in die Gegenwart: Josef Haslinger legt kirchliche Übergriffe offen
Man ahnt, nein, man ist sich sicher zu wissen, was sich da in der einen oder anderen Klosterzelle zugetragen hat, während die übrigen Klosterschüler in ihrer kargen Freizeit ein "Ringerl Tischtennis" gespielt haben. Und man ahnt, warum der "Spieß", wie ihn alle nannten, eigentlich Spießmayr, aus der Klosterschule genommen wurde. Der Pater Gottfried, nun, der "werde für neue Aufgaben im Stift Heiligenkreuz gebraucht". Josef Haslinger fügt noch hinzu: "Das ist meine letzte Erinnerung an den Spieß. Ein paar Monate später hieß es, er sei gestorben. Vom Berg gestürzt."
In sieben unterschiedlich kurzen Geschichten - der Band "Child in Time", einschließlich der zahlreichen, auch nicht gerade fröhlichen Schwarzweißbilder von Maix Mayer, kommt gerade einmal auf 128 Seiten - erzählt der 1955 im tiefsten Niederösterreich, in Zwettl (hauptsächlich bekannt für das dort seit 1138/39 bestehende Zisterzienserstift), geborene Haslinger von seiner Kindheit und Jugend. Vieles deutet er hier nur an, so etwa gewisse Erfahrungen als Klosterschüler und Chorknabe. Wofür man ihm dankbar ist, sind die Bilder, die beim Lesen im Kopf entstehen, doch schlimm genug. Zum Glück kann man sie meist leicht wegwischen.
Das schmale Bändchen will man aber dennoch nicht aus der Hand legen, schlägt einen doch die aufs äußerste reduzierte Sprache von der ersten Seite an in ihren Bann. Ganz so trostlos und brutal hat man sich als Städter, als Wiener zumal, die Zeit auf dem Land bis zum Erwachsenwerden dann doch nicht ausgemalt. Letztlich hat es Haslinger aber geschafft, dort rauszukommen. Seinen (ersten?) Fluchtversuch, direkt vom Begräbnis seiner Eltern weg, da war er 22 oder 23 Jahre alt, schildert er in einem (nach seiner jüngsten Schwester) "Marie" übertitelten Abschnitt. Nach Salisbury oder seinetwegen auch London wollte er, immerhin bis an die Ärmelkanalküste hat er es per Autostopp geschafft.
Priester, wie das seiner Mutter und eine Zeit auch ihm selbst wohl vorschwebte, ist Haslinger nicht geworden, sondern Schriftsteller. Auch dafür darf man dankbar sein. Und wenn man auf der letzten Seite dieses kleinen bitteren Meisterwerkes angekommen ist, verspürt man das Verlangen, sich die titelgebende, mehr als zehn Minuten dauernde Nummer "Child in Time" von Deep Purple wieder einmal herauszukramen und anzuhören.
Ziemlich anders verhält es sich da mit dem zweiten, jüngeren Buch von Josef Haslinger. "Mein Fall" ist, literarisch betrachtet, kein großer Wurf. Wiederholungen einzelner Episoden, nicht einmal aus unterschiedlicher Perspektive, kommen da oft vor. Manche Kapitel - insgesamt dreizehn in diesem ebenfalls mit knapp 140 Seiten schmalen Band - wirken wie Entwürfe zu längeren Geschichten, nach deren Abfassung es sich Haslinger dann doch anders überlegt und sie, man möchte fast sagen: lieblos, in einem Sammelband zusammengepfercht hat.
Aber da beginge man einen Fehler. Denn der Titel des Buchs ist keine verklausulierte Anspielung, kein witzig gemeintes Zitat - er ist, was er ist: die Schilderung seines Falls, des Missbrauchs eines Sohnes aus bäuerlich-katholischem Milieu in einer Klosterschule. In einer kirchlichen Erziehungsanstalt, in der über die in Österreich erst Mitte der siebziger Jahre abgeschaffte Erlaubnis zur körperlichen Züchtigung hinaus gewütet wurde - Watschen oder Liegestütze bis zur Erschöpfung der Buben als Strafe waren offenbar an der Tagesordnung.
Aber auch, und das ist der eigentliche Anlass zur Veröffentlichung von "Mein Fall", die damals, Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, an Haslinger verübten sexuellen Übergriffe einzelner Patres und Fratres, aber auch älterer Mitschüler und sogar einer nichtpriesterlichen Person, des Orgelspielers. Freilich nicht nur an ihm, aber außer denen der Täter (kann hier auch eine "Unschuldsvermutung" gelten?), die mittlerweile alle gestorben sind, nennt Haslinger keine Namen.
Die Erzählung, die "Mein Fall" denn doch darstellt, beginnt mit einem Irrtum. Erst Ende 2018 beschließt Haslinger, nachdem er in Kurzgeschichten, aber auch Interviews und Essays, wenn auch oft versteckt und nach heutiger Einschätzung zu sanft, zu Fällen von Kindesmissbrauch in (katholisch-)kirchlichen Einrichtungen Stellung bezogen hat, sich mit der eigenen Geschichte an die bereits acht Jahre zuvor vom Wiener Erzbischof Kardinal Schönborn auf öffentlichen Druck hin eingesetzte und jenem unterstehende Untersuchungsbehörde - nach ihrer Vorsitzenden, der ehemaligen steirischen Frau Landeshauptmann (in Deutschland entspräche das der Ministerpräsidentin eines Bundeslandes) Waltraud Klasnic, im Volksmund "Klasnic-Kommission" genannt - zu wenden. Um genau zu sein, muss Haslinger seine nun fast fünfzig Jahre zurückliegenden Missbrauchserfahrungen dreimal schildern, was er, merkbar verwirrt und begreiflicherweise verärgert, sehr genau darlegt. Beinahe resignierend stellt er an anderer Stelle fest: "Das Ausmaß der Übergriffe blieb unklar. Es war eine Missbrauchsaffäre. Aber eine Affäre, von der die Öffentlichkeit nichts erfährt, ist eigentlich keine Affäre, sondern ein bloßer Vorfall." In einem späten Kapitel zieht er sein Resümee: "Autoritäre Systeme sind so hartnäckig, weil man in sie hineinwächst."
"Mein Fall" ist Beichte und Abrechnung, auch mit der eigenen Unzulänglichkeit, zugleich. Es ist kein schönes, kein aufbauendes, nicht einmal ein tröstliches Buch. Man will es kein zweites Mal lesen. Aber einmal sollte man es unbedingt gelesen haben.
MARTIN LHOTZKY
Josef Haslinger: "Child in Time". Ein literarisches Bilderbuch.
Fotografisch eingerichtet von Maix Mayer. Faber & Faber Verlag, Leipzig 2019. 128 S., geb., 20,- [Euro].
Josef Haslinger: "Mein Fall".
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2020. 139 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Diese Zeit ragt bis in die Gegenwart: Josef Haslinger legt kirchliche Übergriffe offen
Man ahnt, nein, man ist sich sicher zu wissen, was sich da in der einen oder anderen Klosterzelle zugetragen hat, während die übrigen Klosterschüler in ihrer kargen Freizeit ein "Ringerl Tischtennis" gespielt haben. Und man ahnt, warum der "Spieß", wie ihn alle nannten, eigentlich Spießmayr, aus der Klosterschule genommen wurde. Der Pater Gottfried, nun, der "werde für neue Aufgaben im Stift Heiligenkreuz gebraucht". Josef Haslinger fügt noch hinzu: "Das ist meine letzte Erinnerung an den Spieß. Ein paar Monate später hieß es, er sei gestorben. Vom Berg gestürzt."
In sieben unterschiedlich kurzen Geschichten - der Band "Child in Time", einschließlich der zahlreichen, auch nicht gerade fröhlichen Schwarzweißbilder von Maix Mayer, kommt gerade einmal auf 128 Seiten - erzählt der 1955 im tiefsten Niederösterreich, in Zwettl (hauptsächlich bekannt für das dort seit 1138/39 bestehende Zisterzienserstift), geborene Haslinger von seiner Kindheit und Jugend. Vieles deutet er hier nur an, so etwa gewisse Erfahrungen als Klosterschüler und Chorknabe. Wofür man ihm dankbar ist, sind die Bilder, die beim Lesen im Kopf entstehen, doch schlimm genug. Zum Glück kann man sie meist leicht wegwischen.
Das schmale Bändchen will man aber dennoch nicht aus der Hand legen, schlägt einen doch die aufs äußerste reduzierte Sprache von der ersten Seite an in ihren Bann. Ganz so trostlos und brutal hat man sich als Städter, als Wiener zumal, die Zeit auf dem Land bis zum Erwachsenwerden dann doch nicht ausgemalt. Letztlich hat es Haslinger aber geschafft, dort rauszukommen. Seinen (ersten?) Fluchtversuch, direkt vom Begräbnis seiner Eltern weg, da war er 22 oder 23 Jahre alt, schildert er in einem (nach seiner jüngsten Schwester) "Marie" übertitelten Abschnitt. Nach Salisbury oder seinetwegen auch London wollte er, immerhin bis an die Ärmelkanalküste hat er es per Autostopp geschafft.
Priester, wie das seiner Mutter und eine Zeit auch ihm selbst wohl vorschwebte, ist Haslinger nicht geworden, sondern Schriftsteller. Auch dafür darf man dankbar sein. Und wenn man auf der letzten Seite dieses kleinen bitteren Meisterwerkes angekommen ist, verspürt man das Verlangen, sich die titelgebende, mehr als zehn Minuten dauernde Nummer "Child in Time" von Deep Purple wieder einmal herauszukramen und anzuhören.
Ziemlich anders verhält es sich da mit dem zweiten, jüngeren Buch von Josef Haslinger. "Mein Fall" ist, literarisch betrachtet, kein großer Wurf. Wiederholungen einzelner Episoden, nicht einmal aus unterschiedlicher Perspektive, kommen da oft vor. Manche Kapitel - insgesamt dreizehn in diesem ebenfalls mit knapp 140 Seiten schmalen Band - wirken wie Entwürfe zu längeren Geschichten, nach deren Abfassung es sich Haslinger dann doch anders überlegt und sie, man möchte fast sagen: lieblos, in einem Sammelband zusammengepfercht hat.
Aber da beginge man einen Fehler. Denn der Titel des Buchs ist keine verklausulierte Anspielung, kein witzig gemeintes Zitat - er ist, was er ist: die Schilderung seines Falls, des Missbrauchs eines Sohnes aus bäuerlich-katholischem Milieu in einer Klosterschule. In einer kirchlichen Erziehungsanstalt, in der über die in Österreich erst Mitte der siebziger Jahre abgeschaffte Erlaubnis zur körperlichen Züchtigung hinaus gewütet wurde - Watschen oder Liegestütze bis zur Erschöpfung der Buben als Strafe waren offenbar an der Tagesordnung.
Aber auch, und das ist der eigentliche Anlass zur Veröffentlichung von "Mein Fall", die damals, Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, an Haslinger verübten sexuellen Übergriffe einzelner Patres und Fratres, aber auch älterer Mitschüler und sogar einer nichtpriesterlichen Person, des Orgelspielers. Freilich nicht nur an ihm, aber außer denen der Täter (kann hier auch eine "Unschuldsvermutung" gelten?), die mittlerweile alle gestorben sind, nennt Haslinger keine Namen.
Die Erzählung, die "Mein Fall" denn doch darstellt, beginnt mit einem Irrtum. Erst Ende 2018 beschließt Haslinger, nachdem er in Kurzgeschichten, aber auch Interviews und Essays, wenn auch oft versteckt und nach heutiger Einschätzung zu sanft, zu Fällen von Kindesmissbrauch in (katholisch-)kirchlichen Einrichtungen Stellung bezogen hat, sich mit der eigenen Geschichte an die bereits acht Jahre zuvor vom Wiener Erzbischof Kardinal Schönborn auf öffentlichen Druck hin eingesetzte und jenem unterstehende Untersuchungsbehörde - nach ihrer Vorsitzenden, der ehemaligen steirischen Frau Landeshauptmann (in Deutschland entspräche das der Ministerpräsidentin eines Bundeslandes) Waltraud Klasnic, im Volksmund "Klasnic-Kommission" genannt - zu wenden. Um genau zu sein, muss Haslinger seine nun fast fünfzig Jahre zurückliegenden Missbrauchserfahrungen dreimal schildern, was er, merkbar verwirrt und begreiflicherweise verärgert, sehr genau darlegt. Beinahe resignierend stellt er an anderer Stelle fest: "Das Ausmaß der Übergriffe blieb unklar. Es war eine Missbrauchsaffäre. Aber eine Affäre, von der die Öffentlichkeit nichts erfährt, ist eigentlich keine Affäre, sondern ein bloßer Vorfall." In einem späten Kapitel zieht er sein Resümee: "Autoritäre Systeme sind so hartnäckig, weil man in sie hineinwächst."
"Mein Fall" ist Beichte und Abrechnung, auch mit der eigenen Unzulänglichkeit, zugleich. Es ist kein schönes, kein aufbauendes, nicht einmal ein tröstliches Buch. Man will es kein zweites Mal lesen. Aber einmal sollte man es unbedingt gelesen haben.
MARTIN LHOTZKY
Josef Haslinger: "Child in Time". Ein literarisches Bilderbuch.
Fotografisch eingerichtet von Maix Mayer. Faber & Faber Verlag, Leipzig 2019. 128 S., geb., 20,- [Euro].
Josef Haslinger: "Mein Fall".
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2020. 139 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.02.2020„Als wäre ich ihr Spielzeug“
Der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger wurde als Kind im Klosterinternat missbraucht.
In „Mein Fall“ erzählt er von Trauma, Empathie und der Indifferenz der Behörden
VON RUDOLF NEUMAIER
Aus erster Hand, nämlich vom Opfer, über sexuellen Missbrauch an einem Kind informiert zu werden, ist verstörend. Von einem 64 Jahre alten Mann erzählt zu bekommen, wie er als Bub einem Mönch unter die Kutte fasste und ihm als Masturbationshilfe diente, ist verstörend. Ihn lesend beim Abarbeiten an diesem Schicksal zu verfolgen, ist verstörend. Den älteren Herrn, der heute ein bekannter Schriftsteller ist und auch Professor, in der Lektüre von einer Beschwerdestelle zur anderen zu begleiten, wo er zur nächsten verwiesen wird, das ist dann aber fast schon bizarr.
Der Autor Josef Haslinger schildert seinen Fall. So heißt sein bewegendes Buch: „Mein Fall“. Was daran ein wenig bizarr ist, das ist die Tatsache, dass Haslinger keineswegs vorhatte, diesen Fall in einem Buch darzustellen. So gesehen hat er ein neues Genre eröffnet: die literarische Zeugenaussage. Sie ist frei von Fiktionen und wäre, keine Frage, strafrechtlich hochgradig relevant, wenn die Übergriffe und die Gewaltorgien nicht lange verjährt wären. 50 Jahre sind eine lange Zeit.
Haslinger wollte aussagen. Mündlich. Nicht schriftlich. Es wurde ihm sogar zugehört. Einmal, zweimal, dreimal. Erst durfte er bei Brigitte Bierlein vorsprechen. Sie war zu dieser Zeit Präsidentin des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, nach der Ibiza-Affäre leitete sie als Bundeskanzlerin die Übergangsregierung. Er wunderte sich, dass sie nicht mitschrieb, als er sein Schicksal offenbarte. Frau Bierlein, Mitglied der Unabhängigen Opferschutzkommission, hörte Herrn Haslinger, dem Opfer, zu und ermunterte ihn, sein Recht auf eine Entschädigung geltend zu machen. Sie versprach ihm, seinen Fall weiterzuleiten. Dann meldete sich Frau Klasnic, die Vorsitzende der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft. Waltraud Klasnic, die neun Jahre lang Landeshauptmann in der Steiermark war, hörte ihm freundlich zu. Die ganze Geschichte nochmal. Dann verwies sie ihn an einen Professor von der Ombudsstelle. Aber es passierte erst mal nichts. Bis ein Mitarbeiter von der Ombudsstelle der Erzdiözese Wien sagte, er solle das doch aufschreiben. Als Schriftsteller könne er das doch, schreiben.
Die kleine Opferschutz-Odyssee bildet die Nebenhandlung dieser Anklageschrift. Das Buch wird nicht zuletzt dadurch zu einem literarischen Glanzstück, dass Haslinger diese Odyssee in dramaturgischer Meisterschaft verwebt mit den Vorgängen aus seiner Kindheit. Wobei es scheint, als sei er über die Zumutungen bei der Aufarbeitung seines Falles mindestens genauso indigniert wie über die Missbrauchshandlungen von damals.
Haslinger spricht von einer „weiterhin bestehenden Empathie mit den Tätern“. Das führt er darauf zurück, dass es wahrscheinlich „so etwas wie ein Schutzbedürfnis der eigenen Kindheit“ gebe. Stockholm-Syndrom ex post, ein Leben lang.
Der Bub hätte Pfarrer werden sollen. Seine Mutter wünschte es sich, und er selbst wollte es auch. Die Eltern waren Bauern und katholisch und gottesfürchtig. Jeden Sonntag fuhren sie in die Kirche und einmal im Jahr gingen sie groß zum Wallfahren. Als den Landwirten Herbizide und Kunstdünger noch fremd waren, glaubten sie noch, dass sie der Ertragskraft ihrer Felder mit Gebeten nachhelfen können. Wenn mehrere Kinder da waren, musste ein Junge in die geistliche Laufbahn eintreten. Und zwar möglichst keiner der stärkeren, weil die bei der Arbeit gebraucht wurden, aber im Kopf sollte er schon was haben, man wollte ja keine Schande. Der Josef, der war gut in der Schule, also schickten sie ihn ins Klosterinternat.
Klöster, der Soziologe Erving Goffman hat es beschrieben, waren totale Institutionen. Und bei Klosterinternaten handelte es sich um besonders perfide totale Institutionen. Die Insassen – Kinder – waren von ihren Eltern ausgeliefert. Wie viele Kinder wurden von Geistlichen missbraucht und misshandelt, weil sie für die geistliche Laufbahn vorgesehen waren? Das geht einem bei der Geschichte des Bauernsohnes Josef Haslinger, der Priester werden wollte und Missbrauchsopfer wurde, durch den Kopf.
Der Haupttäter im Fall des Josef Haslinger ist Pater Gottfried. Er hat sich an dem Kind und an einigen seiner Schulkameraden vergangen. Die Beziehungen waren zum Teil sehr eng. Er machte ihnen Geschenke, er gab sich als ihr Freund aus, er benutzte sie als Sexualpartner. Haslinger beschreibt nur wenige Details, er deutet mehr an. Vielleicht will er den Lesern und der Opferschutzanwaltschaft Ekel ersparen, vielleicht hat er manches vergessen, mitunter war Alkohol im Spiel. Wein machte die Opfer gefügiger. Es reicht, was Haslinger an Einzelheiten aufschreibt. Eines der wiederkehrenden Details, ein Motiv des Ekels in seiner Zeugenaussage, ist die Form des männlichen Gliedes. Seine Mutter hatte ihm erklärt, dass Männer, die sexuell mit Personen gleichen Geschlechts verkehren, über Penisse mit einer bestimmten Form verfügten. Lang und dünn. Pater Gottfrieds Glied war anders. Das verwirrte den Jungen.
Die katholische Kirche schützte solche Männer bekanntlich. Wurden pädophile Übergriffe ruchbar, kamen die Täter in eine andere Einrichtung, eine zweite Chance bekamen sie allemal. Eine zweite Chance oft auch, ihre krankhafte Sexualität an Wehrlosen auszuleben. Auch für notorische Gewalttäter, für brutale Sadisten, die Kindern – wie bei Haslinger beschrieben – offensichtliche, nämlich physische, und ebenso seelische Verletzungen zufügten, für diese Gewalttäter hatte die Kirche neue Aufgaben, die keineswegs mit einer Degradierung einhergehen mussten.
„Ich habe allen Grund, eine große Wut auf diese Typen zu haben, die mich in meiner Kindheit behandelt haben, als wäre ich ihr Leibeigener oder ihr Spielzeug“, schreibt Josef Haslinger, „stattdessen bin ich um ihren Ruf besorgt. Bis heute“. Die Wut dieses Opfers hat ein gewisses Entwicklungspotenzial. Seine Abscheu ist in diesem Bericht schon ziemlich ausgereift.
Josef Haslinger: Mein Fall. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020. 139 Seiten, 20 Euro.
Die katholische Kirche
schützt solche Männer
bekanntlich bis heute
„Ich habe allen Grund, eine große Wut auf diese Typen zu haben.“ Trotzdem wartete der Schriftsteller Josef Haslinger mit seinem Bericht, bis die Täter verstorben waren.
Foto: picture alliance
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Der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger wurde als Kind im Klosterinternat missbraucht.
In „Mein Fall“ erzählt er von Trauma, Empathie und der Indifferenz der Behörden
VON RUDOLF NEUMAIER
Aus erster Hand, nämlich vom Opfer, über sexuellen Missbrauch an einem Kind informiert zu werden, ist verstörend. Von einem 64 Jahre alten Mann erzählt zu bekommen, wie er als Bub einem Mönch unter die Kutte fasste und ihm als Masturbationshilfe diente, ist verstörend. Ihn lesend beim Abarbeiten an diesem Schicksal zu verfolgen, ist verstörend. Den älteren Herrn, der heute ein bekannter Schriftsteller ist und auch Professor, in der Lektüre von einer Beschwerdestelle zur anderen zu begleiten, wo er zur nächsten verwiesen wird, das ist dann aber fast schon bizarr.
Der Autor Josef Haslinger schildert seinen Fall. So heißt sein bewegendes Buch: „Mein Fall“. Was daran ein wenig bizarr ist, das ist die Tatsache, dass Haslinger keineswegs vorhatte, diesen Fall in einem Buch darzustellen. So gesehen hat er ein neues Genre eröffnet: die literarische Zeugenaussage. Sie ist frei von Fiktionen und wäre, keine Frage, strafrechtlich hochgradig relevant, wenn die Übergriffe und die Gewaltorgien nicht lange verjährt wären. 50 Jahre sind eine lange Zeit.
Haslinger wollte aussagen. Mündlich. Nicht schriftlich. Es wurde ihm sogar zugehört. Einmal, zweimal, dreimal. Erst durfte er bei Brigitte Bierlein vorsprechen. Sie war zu dieser Zeit Präsidentin des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, nach der Ibiza-Affäre leitete sie als Bundeskanzlerin die Übergangsregierung. Er wunderte sich, dass sie nicht mitschrieb, als er sein Schicksal offenbarte. Frau Bierlein, Mitglied der Unabhängigen Opferschutzkommission, hörte Herrn Haslinger, dem Opfer, zu und ermunterte ihn, sein Recht auf eine Entschädigung geltend zu machen. Sie versprach ihm, seinen Fall weiterzuleiten. Dann meldete sich Frau Klasnic, die Vorsitzende der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft. Waltraud Klasnic, die neun Jahre lang Landeshauptmann in der Steiermark war, hörte ihm freundlich zu. Die ganze Geschichte nochmal. Dann verwies sie ihn an einen Professor von der Ombudsstelle. Aber es passierte erst mal nichts. Bis ein Mitarbeiter von der Ombudsstelle der Erzdiözese Wien sagte, er solle das doch aufschreiben. Als Schriftsteller könne er das doch, schreiben.
Die kleine Opferschutz-Odyssee bildet die Nebenhandlung dieser Anklageschrift. Das Buch wird nicht zuletzt dadurch zu einem literarischen Glanzstück, dass Haslinger diese Odyssee in dramaturgischer Meisterschaft verwebt mit den Vorgängen aus seiner Kindheit. Wobei es scheint, als sei er über die Zumutungen bei der Aufarbeitung seines Falles mindestens genauso indigniert wie über die Missbrauchshandlungen von damals.
Haslinger spricht von einer „weiterhin bestehenden Empathie mit den Tätern“. Das führt er darauf zurück, dass es wahrscheinlich „so etwas wie ein Schutzbedürfnis der eigenen Kindheit“ gebe. Stockholm-Syndrom ex post, ein Leben lang.
Der Bub hätte Pfarrer werden sollen. Seine Mutter wünschte es sich, und er selbst wollte es auch. Die Eltern waren Bauern und katholisch und gottesfürchtig. Jeden Sonntag fuhren sie in die Kirche und einmal im Jahr gingen sie groß zum Wallfahren. Als den Landwirten Herbizide und Kunstdünger noch fremd waren, glaubten sie noch, dass sie der Ertragskraft ihrer Felder mit Gebeten nachhelfen können. Wenn mehrere Kinder da waren, musste ein Junge in die geistliche Laufbahn eintreten. Und zwar möglichst keiner der stärkeren, weil die bei der Arbeit gebraucht wurden, aber im Kopf sollte er schon was haben, man wollte ja keine Schande. Der Josef, der war gut in der Schule, also schickten sie ihn ins Klosterinternat.
Klöster, der Soziologe Erving Goffman hat es beschrieben, waren totale Institutionen. Und bei Klosterinternaten handelte es sich um besonders perfide totale Institutionen. Die Insassen – Kinder – waren von ihren Eltern ausgeliefert. Wie viele Kinder wurden von Geistlichen missbraucht und misshandelt, weil sie für die geistliche Laufbahn vorgesehen waren? Das geht einem bei der Geschichte des Bauernsohnes Josef Haslinger, der Priester werden wollte und Missbrauchsopfer wurde, durch den Kopf.
Der Haupttäter im Fall des Josef Haslinger ist Pater Gottfried. Er hat sich an dem Kind und an einigen seiner Schulkameraden vergangen. Die Beziehungen waren zum Teil sehr eng. Er machte ihnen Geschenke, er gab sich als ihr Freund aus, er benutzte sie als Sexualpartner. Haslinger beschreibt nur wenige Details, er deutet mehr an. Vielleicht will er den Lesern und der Opferschutzanwaltschaft Ekel ersparen, vielleicht hat er manches vergessen, mitunter war Alkohol im Spiel. Wein machte die Opfer gefügiger. Es reicht, was Haslinger an Einzelheiten aufschreibt. Eines der wiederkehrenden Details, ein Motiv des Ekels in seiner Zeugenaussage, ist die Form des männlichen Gliedes. Seine Mutter hatte ihm erklärt, dass Männer, die sexuell mit Personen gleichen Geschlechts verkehren, über Penisse mit einer bestimmten Form verfügten. Lang und dünn. Pater Gottfrieds Glied war anders. Das verwirrte den Jungen.
Die katholische Kirche schützte solche Männer bekanntlich. Wurden pädophile Übergriffe ruchbar, kamen die Täter in eine andere Einrichtung, eine zweite Chance bekamen sie allemal. Eine zweite Chance oft auch, ihre krankhafte Sexualität an Wehrlosen auszuleben. Auch für notorische Gewalttäter, für brutale Sadisten, die Kindern – wie bei Haslinger beschrieben – offensichtliche, nämlich physische, und ebenso seelische Verletzungen zufügten, für diese Gewalttäter hatte die Kirche neue Aufgaben, die keineswegs mit einer Degradierung einhergehen mussten.
„Ich habe allen Grund, eine große Wut auf diese Typen zu haben, die mich in meiner Kindheit behandelt haben, als wäre ich ihr Leibeigener oder ihr Spielzeug“, schreibt Josef Haslinger, „stattdessen bin ich um ihren Ruf besorgt. Bis heute“. Die Wut dieses Opfers hat ein gewisses Entwicklungspotenzial. Seine Abscheu ist in diesem Bericht schon ziemlich ausgereift.
Josef Haslinger: Mein Fall. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020. 139 Seiten, 20 Euro.
Die katholische Kirche
schützt solche Männer
bekanntlich bis heute
„Ich habe allen Grund, eine große Wut auf diese Typen zu haben.“ Trotzdem wartete der Schriftsteller Josef Haslinger mit seinem Bericht, bis die Täter verstorben waren.
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ein bemerkenswertes Buch [...]. Gegen seine inneren Widerstände hat Haslinger eine eigene, schlüssige Form [...] gefunden. Christoph Schröder Die Zeit 20200206