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Jonas Grethlein denkt über die Sterblichkeit und Homers "Ilias" nach
Im Alter von gerade einmal 29 Jahren erhielt Jonas Grethlein einen Ruf an die Heidelberger Universität als Professor für griechische Literaturwissenschaft. Dem vorausgegangen war eine akademische Karriere mit einem Tempo, das in den heutigen Geisteswissenschaften sicherlich als Ausnahme anzusehen ist: Promotion mit fünfundzwanzig, Habilitation mit siebenundzwanzig Jahren. Doch diese akademische Karriere als schlichtweg vorbildlich anzusehen, davor warnt ausgerechnet Grethlein selbst in seinem nun erschienenen Buch "Mein Jahr mit Achill".
Kurz nach dem Abschluss der Habilitation war bei ihm eine Krebserkrankung diagnostiziert worden: "Vielleicht war das Pensum der letzten zwei Jahre doch zu groß gewesen: das emsige Schreiben an der Habilitationsschrift (. . .), dann die Partys, in die ich mich am Wochenende gestürzt hatte, um am Montag wieder in das Korsett der Arbeitswoche zu schlüpfen." Die Erfahrung der Erkrankung wird für Grethlein Ausgangspunkt und Grundierung einer ganz persönlichen Interpretation von Homers "Ilias".
Wer einen rein wissenschaftlichen Beitrag zu den nach wie vor offenen Forschungsfragen zur "Ilias" sucht, ist hier nur unter Vorbehalt beim richtigen Buch gelandet. Zwar liefert Grethlein zahlreiche interessante Interpretationsansätze, beispielsweise zur filigranen Zeitstruktur und Homers gekonntem Spiel mit Erwartung und - nicht immer vorhandener - Auflösung. Doch stellen sie nicht den eigentlichen Kern des Buches dar.
Denn primär geht es darum, zu zeigen, wie Homers Epos mit dem scheinbar unnahbaren Achill im Zentrum für ihn in einer Zeit existenzieller Ängste zu einer Art literarischer Heimat wurde. Bei Homer fühlte er sich mit seiner Krebserkrankung und der intensiven Bewusstwerdung der Flüchtigkeit des menschlichen Lebens wiedererkannt und aufgehoben. Grethlein deutet die "Ilias" als eine große Reflexion über die Unausweichlichkeit des eigenen Todes, der uns jederzeit ereilen kann und dabei für uns unerreichbar, weil nicht erlebbar bleibt. Diese Unerreichbarkeit des Todes und die Unmöglichkeit, die eigene Geschichte als Ganzes zu betrachten, sieht Grethlein in der besonderen Zeitstruktur der "Ilias" umgesetzt, die durchzogen ist von Verweisen auf den Tod Achills und den Untergang Trojas, selbst wenn sie unmittelbar vor dem Eintritt beider Ereignisse endet.
Grethlein taucht den "stärksten der Achaier" mit seiner Interpretation in ein gänzlich neues Licht: "Der Kern von Achills Heroismus ist die Annahme des Todes." Achills Verhalten zeigt für ihn, dass der Held der eigenen Sterblichkeit und Fragilität ins Auge sieht und so einen anderen Blick auf das Leben gewinnt: Materielle Dinge zählen da nur noch wenig, wie Achills Ablehnung der mit reichen Geschenken ausgestatteten Gesandtschaft Agamemnons belegt. Er sieht auch nichts Heroisches mehr im Tod, weder in seinem eigenen noch in dem anderer. Achill nimmt in der Interpretation Grethleins die ganze Fragilität des menschlichen Daseins uneingeschränkt an.
Diese Interpretation unterlegt Grethlein mit bisweilen etwas ausladenden Exkursionen in die Philosophiegeschichte. Heidegger kommt dabei eine zentrale Rolle zu, wenn Achill durch das Begreifen der eigenen Zeitlichkeit und des Todes als unüberholbare Grenze der "Held zum Tode" wird. Diese Deutung ist zwar faszinierend, aber es fällt mitunter doch schwer, ausgerechnet diesen kriegerischen Halbgott - der zudem ganz bewusst zwischen einem langen, glücklichen Leben ohne Ruhm und einem kurzen, dafür umso ruhmvolleren Leben wählen darf - als beispielhaft für menschliche Existenz zu nehmen. Und dass es ausgerechnet ein archaisches Kriegsepos ist, das durch eine Zeit existenzieller Ängste hilft, mag auch nicht allen einleuchten. Doch das ändert nichts daran, hier ein eindrückliches Beispiel vor sich zu haben, in Literatur Orientierung und Halt zu finden. PHILIP SCHÄFER.
Jonas Grethlein: "Mein Jahr mit Achill". Die Ilias, der Tod und das Leben.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 208 S., Abb., geb., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die WELT, Andreas Rosenfelder
"Ja, das ist ein Buch über die 'Ilias'. Und vielleicht eines der schönsten, die ich kenne."
Neue Zürcher Zeitung, Thomas Ribi
"Die Erfahrung der Erkrankung wird für Grethlein Ausgangspunkt und Grundierung einer ganz persönlichen Interpretation von Homers 'Ilias' ... ein eindrückliches Beispiel, in Literatur Orientierung und Halt zu finden"
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Philip Schäfer
"In seinem schmalen Buch ..., das man schon nach den ersten Sätzen in einem Zug verschlingen will, gelingt Jonas Grethlein etwas, das selten geworden ist in der deutschen Wissenschaft ...: Er zeigt die Verwobenheit von Leben und Wissen, so wie es die großen Hermeneutiker des 19. und 20. Jahrhunderts taten."
Literarische Welt, Andreas Rosenfelder
"Sieht Homers ,Ilias' mit neuen Augen"
Süddeutsche Zeitung, Burkhard Müller
"Ein ungewöhnlicher Ansatz, aufschlussreich, einfühlsam und beispielhaft, wie Literatur Halt in schweren Zeiten bieten kann."
Wiener Zeitung, Christina Mondolfo
"Bewegendes wie wunderbar hoffnungsvolles Buch"
Kieler Nachrichten, Sebastian Fischer
"Erforscht ... unsere existenzielle Verletzlichkeit."
FOCUS