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Christian Thielemann sagt oft: Ich, ich, ich. Vielleicht wäre er gern des Teufels Dirigent - vor allem aber will er mit der Musik Richard Wagners überwältigen.
Von Eleonore Büning
Wie schwer ist es doch, Musik in Worte zu fassen! Christian Thielemann, einer der wenigen großen Dirigenten unserer Zeit, die gerne Interviews geben und selten Antworten schuldig bleiben, kann jetzt ein Lied davon singen. Er hat sein erstes Musikbuch geschrieben oder vielmehr, aufschreiben lassen (von der Musikjournalistin Christine Lemke-Matwey). Das letzte Drittel dieses Richard-Wagner-Geburtstags-Buches wird darauf verwendet, einzelne Wagner-Werke zu erläutern. Alle (vollendeten) Wagnerschen Bühnenwerke kommen in diesem Thielemannschen Opernführer vor, nicht nur der Bayreuther Kanon der zehn Hauptwerke, auch frühe Stücke wie "Die Feen", "Das Liebesverbot" und "Rienzi". Und zu jeder Oper empfiehlt Thielemann die ihm liebsten Plattenaufnahmen.
Außerdem verliert er, wie das so üblich ist bei Opernführern, ein paar Worte über Entstehung, Handlung, Inhalt und die Musik. Was passiert, zum Beispiel, bei der Sonnenverfluchung im großen Monolog Tristans ( "Tristan und Isolde", dritter Aufzug)? Hier machen die Holzbläser, so Thielemann: "pipipi pipipi pipipi pipipi". Anders, mehr fachterminologisch ausgedrückt, sind das "nadelstichfeine Triolen". Folgt, drittens, ein bildhafter Vergleich: Hier sei es, schreibt Thielemann, "als würde das Licht (der Sonne) die Netzhaut" des sterbenden Helden Tristan "durchlöchern". Das ist malerisch und nachvollziehbar leserfreundlich formuliert. Man merkt gleich, niemand soll sich ausgeschlossen fühlen, der dies Buch in die Hand bekommt; nicht zufällig heißt das Kapitel zuvor einladend: "Wagner für Anfänger". Trotzdem ist es, offen gesagt, ein irreführender Unfug. Wer nämlich die Platte auflegt (nicht in die Noten schauen!), und zwar am besten die, welche Thielemann selbst empfiehlt (es ist seine eigne Aufnahme, ein Livemitschnitt aus der Wiener Staatsoper von 2004, mit Deborah Voigt als Isolde und Thomas Moser als Tristan), der wundert sich sehr. Deutlich ist hier das aus dem "Ring" bekannte Feuermotiv zu hören. Loges Flammen züngeln auf. Aber vom netzhautdurchlöchernden Holzbläser-Pipipi keine Spur, die feinen Triolen werden von den wogenden Streichermassen einfach zugedeckt.
Dies ist kein Einzelfall, so geht es auch mit anderen Musikbeispielen aus Thielemanns Wagnerbuch - und überhaupt geht es uns häufig so beim Hören von Musik. Jeder Mensch hört etwas anderes, unabhängig davon, was in den Noten steht. Was wir hören, hängt ab von der Gunst des Augenblicks, von Laune oder Verfassung der Interpreten, vor allem aber von unserem sogenannten Erwartungshorizont - davon, was wir selbst gerade zu hören uns erhofft hatten. Warum sollen nicht auch Wagnerdirigenten dieser rezeptionsästhetischen Prämisse unterliegen?
Christian Thielemann ist ein großartiger Wagnerdirigent. Er wollte, das ist die Botschaft seines Buchs, auch nie etwas anderes sein als ein Wagnerdirigent, erst ein angehender, dann der beste unserer Tage. Aber auch Bruckner, Beethoven, Strauss, Henze, Mahler, Verdi und andere Komponisten liegen ihm sehr. Thielemann arbeitet besessen, penibel, er hat das absolute Gehör. Er kann opulente Klänge aufblühen lassen, dabei zugleich Kontexte hörbar machen, wie es nur wenigen bisher gelang. Er will, sagt er, mit Musik überwältigen und selbst überwältigt werden. Sein eigner Erwartungshorizont reicht infolgedessen bei allem, was mit Musik zu tun hat, nur vom Ich zum Ich.
Dieser Fokus ist fürs Musizieren sicher notwendig. Beim Reden über Musik, verteilt auf über dreihundert Buchseiten, kann er nervtötend sein. Auf den ersten vierzig Seiten ist das Wörtchen "Ich" dutzendfach pro Seite unterwegs. "Richard Wagner wurde mir in die Wiege gelegt." So geht das Leben eines Wagnerdirigenten los. Und weiter: "Die Musik war einfach da, von Anfang an, wie das Essen auf dem Tisch, wie der Schlachtensee im Sommer zum Schwimmen."
Beide Eltern sind Wagnerianer. Mit sechs Jahren bekommt der "Kleene aus Zehlendorf" den ersten Klavierunterricht, lernt dann Geige und Bratsche, sitzt siebenjährig zum ersten Mal in einer "Walküre-Aufführung, mit dreizehn im ersten "Tristan" ("Jedes Mal war ich wie erschlagen"), mit einundzwanzig reist er als Stipendiat des Berliner Richard-Wagner-Verbandes erstmals nach Bayreuth. Zu diesem Zeitpunkt hat Thielemann bereits sein Konzert-Examen an der Musikhochschule absolviert, er spielt als Bratscher in der Orchester-Akademie der Berliner Philharmoniker und arbeitet in Festanstellung an der Deutschen Oper Berlin als Korrepetitor, für neunhundert Mark monatlich. Im Sommer 1980 korrepetiert er für Karajan den "Parsifal" in Salzburg, 1981 für Barenboim den "Tristan" in Bayreuth: und ist damit angekommen.
Auf den nächsten hundertvierzig Seiten erteilt Thielemann einen aufmunternden Einführungskurs ins Wagnerianertum, gewürzt mit autobiographischen Anekdoten. Es geht um Bayreuths Wagnerdirigenten, um Bayreuths Arbeitsbedingungen, um die Familie Wagner in Bayreuth und um Richard Wagner selbst.
Wir erfahren, zum Beispiel, dass es bei den Einladungen der Wagnerfamilie zum Abendbrot fast immer Wurstsalat gab und dass Thielemann keinen Wurstsalat mag. Wir erfahren außerdem, dass Gudrun Wagner, die zweite Frau Wolfgang Wagners, nicht am Tag der Sprengung des Tannenberg-Denkmals geboren sein kann, obgleich sie dies gerne behauptete. Und wir lernen, dass die ersten Geigen in Bayreuth nicht, wie üblich,links vom Dirigenten sitzen, sondern rechts, damit der hohe Streicherklang sich in diesem speziellen Orchestergraben richtig bricht. Sonst aber gibt es kaum etwas interessantes zu erfahren, was nicht sowieso alle wissen.
Alles zu Thielemanns Werdegang kann man ebenso gut nachlesen in der vor neun Jahren veröffentlichten Thielemann-Biographie der Musikjournalistin Kläre Warnecke. Sie entstand ebenfalls auf der Grundlage von autorisierten Gesprächen, die mit Christian Thielemann geführt wurden. Im Unterschied zu Lemke-Matwey aber hatte Warnecke diese Interviews im O-Ton abgedruckt, eingefügt in eine biographische Erzählung, in der auch kritisch-kommentierende Zwischentöne vorkommen. Letztere sind naturgemäß in den von Lemke-Matwey "komponierten" (Thielemann) neuen Thielemann-Bekenntnissen nicht vorgesehen. Es ist ein eitles, künstlich gespreiztes Ich, das hier auf kunstvoll berlinernde Weise zu uns spricht. Eine Kunst-Autobiographie. Wozu soll das gut sein? Über Thielemanns Musizieren erfährt man daraus weniger als nichts.
Christian Thielemann: "Mein Leben mit Wagner".
Verlag C. H. Beck, München 2012. 320 S., Abb., geb., 19,95 [Euro]
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Philip Hensher, The Spectator, 15. August 2015