Was ist Unschuld? Wann 'verliert' man sie, wann wird sie einem 'geraubt'? Fragen, die mit prävalenten gesellschaftlichen Erwartungen ebenso verbunden sind wie mit einem tief verwurzelten, erziehungsbedingten Selbstbild. Und dann? Wird aus Unschuld Schuld? Wird aus Unschuld Scham?
Isabel erfährt
sexuelle Gewalt. Oder? «Mit ihrem Kommilitonen Zev verbindet sie eigentlich nur Freundschaft, doch…mehrWas ist Unschuld? Wann 'verliert' man sie, wann wird sie einem 'geraubt'? Fragen, die mit prävalenten gesellschaftlichen Erwartungen ebenso verbunden sind wie mit einem tief verwurzelten, erziehungsbedingten Selbstbild. Und dann? Wird aus Unschuld Schuld? Wird aus Unschuld Scham?
Isabel erfährt sexuelle Gewalt. Oder? «Mit ihrem Kommilitonen Zev verbindet sie eigentlich nur Freundschaft, doch irgendwie landen die beiden im Bett.» So sagt es der Klappentext, und verharmlost damit, spiegelt gewollt oder ungewollt die Kluft wider, die Isabel selber nicht überwinden kann.
Sie spricht von Angst, als es passiert. Bittet ihn, zu warten, und wird ignoriert. Erwägt, um Hilfe zu rufen, aber «es passierte ja nichts Außergewöhnliches». Versucht, sich der Situation mental zu entziehen, indem sie an ein Referat über das russische Judentum denkt. Hat sie nein gesagt, wird sie später überlegen? Danach unterhält sie sich ganz normal mit ihm, geht nach Hause.
«Irgendwo tief in mir tat etwas weh, das ich weder sehen noch benennen konnte.»
Sie weiß nicht, was sie denken oder fühlen soll. Doch als sie ihrer Mitbewohnerin davon erzählt, malt die eine plakative Version des Geschehens, übernimmt in gerechtem Zorn das Steuer – und raubt Isabel damit ebenfalls das Recht auf Selbstbestimmung.
Ihr Professor beginnt damit, die zutiefst verunsicherte Isabel mit Lob zu überschütten, und das fällt auf fruchtbaren Boden. Sie weiß, dass er verheiratet ist, als sie sich auf eine Affäre einlässt.
Daisy Alpert Florin beobachtet genau, zeichnet Isabels Gedanken und Gefühle mit feinen Schattierungen. Es wäre allzu einfach, aus der Geschichte ein plumpes moralisches Lehrstück zu machen, doch der Roman verliert nie aus den Augen, dass die Wahrheit ein scheues Tier ist.
Die Stärke der Erzählung liegt meines Erachtens in der nuancierten Charakterisierung der Protagonistin, die erst lernen muss, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und sich gegen Fremdbestimmung zu behaupten. Hier und dort könnte man belehrend den Finger erheben, doch 'Schuld' und 'Unschuld' sind in diesem Kontext wenig mehr als unbedeutende gesellschaftliche Konstrukte.