Das Mädchen ist tot, die Haushälterin wird vernommen. Zum ersten Mal hören alle Estela zu. Szene um Szene offenbart sie ein schwindelerregendes Kammerspiel unüberbrückbarer Klassenunterschiede. Sieben Jahre hat Estela im Haus der fremden Familie gelebt, hat tagein, tagaus für sie gesorgt. Die karierte Schürze ist zu einer zweiten Haut geworden, die dünnen Wände ihres Zimmers sind immer näher gerückt. Doch sie ist nicht die einzige Gefangene des Hauses: Im leeren Blick des Mädchens sieht Estela ihre eigene Einsamkeit gespiegelt. Jeder Versuch von Intimität zwischen Angestellter und Kind zerschellt an der ehrgeizigen Mutter und dem autoritären Vater, an der Brutalität der Verhältnisse. Auf engstem Raum ringen vier Menschen ums Überleben und rasen doch unausweichlich auf eine Katastrophe zu.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Einen "eindringlichen Roman über das chilenische Klassensystem" legt Alia Trabucco Zeran mit ihrem neuen Buch vor, in dem es um eine Hausangestellte geht, die des Mordes an der Tochter ihrer reichen Arbeitgeber-Familie verdächtigt wird, resümiert Rezensentin Victoria Eglau. Dabei wir das Buch aus der Sicht von der Hausangestellten Estela erzählt, die von ihrer Zeit im Süden Chiles und über ihre Arbeit im Haus der reichen Familie spricht, lesen wir. Auf den ersten Seiten wird schon klar, dass die Tochter gestorben ist. Zeran schafft es aber nahezu virtuos die Spannung hoch zu halten, lobt die Kritikerin. Es handelt sich nicht um ein "Pamphlet gegen die soziale Ungerechtigkeit", sondern um eine tiefgehende psychologische Studie einer Person, die als Hausangestellte nur auf ihren Nutzen reduziert wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2024Die kleinen alltäglichen Grausamkeiten
Alia Trabucco Zerán erzählt in ihrem Roman "Mein Name ist Estela" von einem Kindermädchen und gefühlskalten Arbeitgebern. Dann ist das Kind tot.
Von Hernán D. Caro
Hausmädchen gesucht, gepflegtes Erscheinungsbild, Vollzeit. Sonst stand da nichts, außer einer Telefonnummer, die sich bald in eine Adresse verwandelte, zu der ich mich in weißer Bluse und dem gleichen schwarzen Rock aufmachte, den ich auch jetzt trage."
Mit dieser Stellenanzeige beginnt die Geschichte von Estela García. Die chilenische Schriftstellerin und Anwältin Alia Trabucco Zerán erzählt sie in ihrem Roman "Mein Name ist Estela". Arm und arbeitslos verlässt Estela ihre Heimat und ihre Mutter im Süden Chiles und zieht in die Hauptstadt Santiago, um dort als Haushälterin eines reichen Paares und als "Nana" - also als Ersatzmutter - für dessen Tochter Julia zu arbeiten. Sieben Jahre lang lebt Estela bei dieser Familie. Jahr für Jahr putzt, kocht, kauft sie für sie ein. Sie bekommt Einblicke in ihr Intimleben. Sie sorgt dafür, dass ihre ehrgeizigen Arbeitgeber, ein Arzt und eine Anwältin, immer funktionsfähig sind, und sie zieht deren Kind, ein von Ängsten geplagtes Mädchen, groß. Das fremde Haus, in dem Estela in einem Kämmerchen hinter der Küche wie ein Schatten wohnt, verlässt sie kaum.
Allerdings beginnt die Handlung des Romans zu einem ganz anderen Zeitpunkt: am Ende ihrer Tätigkeit als Haushälterin. In der ersten Szene des Buches sitzt Estela in einer Art Verhörraum. Sie verspricht Leuten, die sich angeblich hinter einer Glasscheibe befinden - die aber bis zuletzt kein einziges Zeichen von sich geben -, zu erzählen, wie es zu der Tragödie kam, die Estela in ihre gegenwärtige Situation gebracht hat. Das Mädchen, auf das die Haushälterin aufpassen musste, ist tot.
Es ist ein kriminalistischer Auftakt - ein Thriller ist der Roman aber nicht. Zwar erfahren wir zum Schluss, wie das Kind gestorben ist. Und wir glauben auch zu verstehen, warum es sterben musste. Aber das, was "Mein Name ist Estela" zu einem intelligenten und erschütternden Roman macht, ist nicht, dass ein Kriminalfall gelöst wird, sondern es ist die Schärfe, mit der Estela die Geheimnisse, die kleinen alltäglichen Grausamkeiten, das bedrückende Leben der Familie offenlegt - und gleichzeitig an allererster Stelle ihre eigenen dunklen Seiten.
Alia Trabucco Zerán gilt als eine der herausragenden Stimmen der zeitgenössischen Literatur Lateinamerikas. Sie wurde 1983 in Santiago de Chile geboren und arbeitete nach dem Jurastudium an der Universidad de Chile als Menschenrechtsanwältin. In New York studierte sie Kreatives Schreiben, später promovierte sie in Lateinamerikastudien in London. In ihrem Debütroman "Die Differenz", der vor zehn Jahren erschien, untersuchte sie, wie die Erfahrungen der Chilenen unter Augusto Pinochets Diktatur noch heute auf die Familienbeziehungen im Land einwirken. Der Roman, der in sieben Sprachen übersetzt wurde, war für den Man Booker International Prize nominiert und erhielt in Deutschland den Anna-Seghers-Preis.
2019 veröffentlichte Trabucco Zerán den Essay "Las homicidas", in dem sie vier in Chile berühmte Fälle von Frauen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts zu Mörderinnen wurden, aus feministischer Perspektive analysierte. Das Buch ging der Frage nach, inwieweit das Töten ein verzweifelter Akt des Widerstands gegen männliche Gewalt sein kann - und zeigte, wie die Reaktionen von Gesellschaft, Medien und Justiz zu weiteren Formen patriarchaler Gewalt werden können.
In Lateinamerika und der Karibik arbeiten zwischen elf und 18 Millionen Frauen als Hausangestellte. Etwa 70 Prozent haben keinen Zugang zur Krankenversicherung oder zum Rentensystem; sie sind oft unterbezahlt; viele erleben sexuelle und psychologische Gewalt und werden dabei von den Behörden vernachlässigt. Angesichts dieser Tatsachen wäre es naheliegend gewesen, wenn Trabucco Zerán sich entschieden hätte, in "Mein Name ist Estela" die Geschichte einer tugendhaften Frau zu erzählen, die unter Misshandlung und Demütigungen leidet und entweder an diesen zugrunde geht oder ihnen die Stirn bietet und sich von der Unterdrückung befreit.
Aber wie schon in ihrem Essay über die vier chilenischen Mörderinnen wird auch jetzt im Roman deutlich, dass sich Trabucco Zerán eher für schwierige Fälle als für einfache Lösungen und Geschichten interessiert, in denen die Welt klar in die von Opfern und Tätern unterteilt ist. "Ich fühlte, dass ich das Zimmer noch gar nicht betreten hatte und dass ich selbst, von draußen her, die Frau betrachtete, die ich ab jenem Moment sein würde: die über dem Rock gefalteten Hände, die trockenen Augen, der trockene Mund, die schnelle Atmung." So erzählt Estela vom Unbehagen, das sie bereits bei ihrer Anstellung befiel. Dieses Unbehagen und das Gefühl, nach Santiago gekommen zu sein, seien ein Fehler gewesen, werden sie nie loslassen.
Mit der Zeit wird ihre Meinung zu ihren Arbeitgebern immer bestimmter. "Da war etwas an ihr", sagt sie über die "Señora", ihre Chefin. "Wie . . . lassen Sie mich nachdenken. Verdrossenheit. Oder nein, das ist nicht das richtige Wort. Verachtung, das ist es. Als ob alle Welt Langeweile in ihr hervorriefe oder sie jegliche Form von Nähe ablehnte." Der "Señor" wiederum würde "seine Kollegen, die Krankenschwestern, jeden einzelnen seiner Patienten" hassen. "Wir sprachen wenig miteinander, er und ich. . . . Wie würden Sie eine Person definieren, die nicht raucht, die kaum trinkt, die, bevor sie den Mund aufmacht, jedes Wort abwägt, abmisst, um so unbedachte Antworten zu vermeiden, die nur Zeit kosten würden?" Überhaupt, erzählt Estela, habe sie irgendwann verstanden, dass "alles in diesem Haus ein Wettlauf gegen die Zeit" sei.
Estela selbst erklärt an einer Stelle, sie habe bei ihrem Job keine Schläge, keine Beleidigungen oder sexuellen Übergriffe erleiden müssen. Sie sei angemessen bezahlt und "korrekt" behandelt worden. Jeden Sonntag habe sie einen freien Tag gehabt - den sie in der Regel erschöpft im Bett verbracht habe. Die quälenden Erfahrungen waren intimerer Natur: die wesentliche Sinnlosigkeit ihrer Aufgaben; die Kälte, mit der ihre Arbeitgeber mit ihr - aber auch miteinander und mit ihrer Tochter - umgingen; die kleinen gönnerhaften oder spitzzüngigen Sätze und Gesten jedes der Familienmitglieder, die Estelas Platz in der Hierarchie immer wieder betonten; das Gefühl, machtlos, unsichtbar, ja beinahe inexistent zu sein. Diese Erfahrungen haben Estelas Alltag ausgemacht - und irgendwann ihr ganzes Leben.
"Ich kann mir vorstellen", sagt Estela zu ihren unsichtbaren Zuhörern, "dass ihr euch mittlerweile fragt, warum ich weiter dort blieb". Darauf antwortet sie mit einer weiteren Frage, die sich an uns richtet: "Warum behaltet ihr eure Jobs, warum bleibt ihr in euren winzigen Büros, euren Fabriken, euren Läden, auf der anderen Seite dieser Wand? Ich verlor nie den Glauben daran, dieses Haus eines Tages zu verlassen, aber die Routine ist verräterisch. Die Wiederholung der immer gleichen Rituale . . . Ein Monat, eine Woche, ein Leben in all seiner Breite."
Die ernüchternde und überraschende Pointe bei Estelas Entwicklung ist, dass sie sich ihren Arbeitgebern nach und nach annähert. Sie wird dabei immer mehr zu einer Maschine ohne Emotionen, kehrt ihrer Mutter den Rücken, bis es zu spät ist und sie für andere Menschen - und für sich selbst - nur noch Verachtung übrig hat.
Bezeichnend dafür ist gerade Estelas Beziehung zu Julia, der Tochter des Paars. Bereits mit sieben Jahren ist das Mädchen unter den Erwartungen seiner Eltern zu einem elenden Nervenbündel geworden. Es ist verstörend zu lesen, wie Estela von der Gleichgültigkeit und Härte erzählt, mit denen sie sich selbst gegenüber dem zum Unglück verdammten Mädchen verhält. Und doch entspricht Estelas Verhalten der Logik der Entfremdung und Lieblosigkeit dieser Geschichte - und Alia Trabucco Zeráns Streben, nicht von einer Heldin zu erzählen, sondern zu untersuchen, wie die Leiden von Frauen, deren Leben von Ohnmacht und Unterdrückung definiert sind, neue Leiden erzeugen oder einfach nicht verhindern können.
Bis zuletzt bleibt Estela eine Gefangene ihrer sozialen Klasse, ihrer Macht- und Perspektivlosigkeit. Und Trabucco Zeráns Roman stellt uns vor die Frage: Warum sollten wir erwarten, dass die Schwachen die Schwächsten, geschweige denn sich selbst retten könnten?
Dabei stellt Trabucco Zerán in "Mein Name ist Estela" noch einen Gemeinplatz - und eine Hoffnung - unserer Zeit infrage: die Idee, dass sich Menschen, die unter Ausbeutung und Marginalisierung leben, in gewisser Hinsicht ermächtigen oder befreien können, wenn sie die Chance bekommen oder sich nehmen, ihre eigene Geschichte zu erzählen.
Auf der letzten Seite des Romans, im Verhörraum, sagt Estela: "Ich habe alles gesagt. Ich bin am Ende meiner Geschichte angelangt." Und sie verlangt, dass für sie nun die Tür zur Freiheit geöffnet werde: "Das ist ein Befehl, so wahr ihr ihn hört. Ein Befehl der Angestellten." Es geschieht: nichts. Estela wiederholt ihre Forderung. Schließlich fragt sie: "Hört ihr mich? Ist da wer?" Am Ende bleibt nur das Echo ihrer eigenen Worte.
Alia Trabucco Zerán: "Mein Name ist Estela". Aus dem Spanischen von Benjamin Loy. Hanser, 240 Seiten, 24 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alia Trabucco Zerán erzählt in ihrem Roman "Mein Name ist Estela" von einem Kindermädchen und gefühlskalten Arbeitgebern. Dann ist das Kind tot.
Von Hernán D. Caro
Hausmädchen gesucht, gepflegtes Erscheinungsbild, Vollzeit. Sonst stand da nichts, außer einer Telefonnummer, die sich bald in eine Adresse verwandelte, zu der ich mich in weißer Bluse und dem gleichen schwarzen Rock aufmachte, den ich auch jetzt trage."
Mit dieser Stellenanzeige beginnt die Geschichte von Estela García. Die chilenische Schriftstellerin und Anwältin Alia Trabucco Zerán erzählt sie in ihrem Roman "Mein Name ist Estela". Arm und arbeitslos verlässt Estela ihre Heimat und ihre Mutter im Süden Chiles und zieht in die Hauptstadt Santiago, um dort als Haushälterin eines reichen Paares und als "Nana" - also als Ersatzmutter - für dessen Tochter Julia zu arbeiten. Sieben Jahre lang lebt Estela bei dieser Familie. Jahr für Jahr putzt, kocht, kauft sie für sie ein. Sie bekommt Einblicke in ihr Intimleben. Sie sorgt dafür, dass ihre ehrgeizigen Arbeitgeber, ein Arzt und eine Anwältin, immer funktionsfähig sind, und sie zieht deren Kind, ein von Ängsten geplagtes Mädchen, groß. Das fremde Haus, in dem Estela in einem Kämmerchen hinter der Küche wie ein Schatten wohnt, verlässt sie kaum.
Allerdings beginnt die Handlung des Romans zu einem ganz anderen Zeitpunkt: am Ende ihrer Tätigkeit als Haushälterin. In der ersten Szene des Buches sitzt Estela in einer Art Verhörraum. Sie verspricht Leuten, die sich angeblich hinter einer Glasscheibe befinden - die aber bis zuletzt kein einziges Zeichen von sich geben -, zu erzählen, wie es zu der Tragödie kam, die Estela in ihre gegenwärtige Situation gebracht hat. Das Mädchen, auf das die Haushälterin aufpassen musste, ist tot.
Es ist ein kriminalistischer Auftakt - ein Thriller ist der Roman aber nicht. Zwar erfahren wir zum Schluss, wie das Kind gestorben ist. Und wir glauben auch zu verstehen, warum es sterben musste. Aber das, was "Mein Name ist Estela" zu einem intelligenten und erschütternden Roman macht, ist nicht, dass ein Kriminalfall gelöst wird, sondern es ist die Schärfe, mit der Estela die Geheimnisse, die kleinen alltäglichen Grausamkeiten, das bedrückende Leben der Familie offenlegt - und gleichzeitig an allererster Stelle ihre eigenen dunklen Seiten.
Alia Trabucco Zerán gilt als eine der herausragenden Stimmen der zeitgenössischen Literatur Lateinamerikas. Sie wurde 1983 in Santiago de Chile geboren und arbeitete nach dem Jurastudium an der Universidad de Chile als Menschenrechtsanwältin. In New York studierte sie Kreatives Schreiben, später promovierte sie in Lateinamerikastudien in London. In ihrem Debütroman "Die Differenz", der vor zehn Jahren erschien, untersuchte sie, wie die Erfahrungen der Chilenen unter Augusto Pinochets Diktatur noch heute auf die Familienbeziehungen im Land einwirken. Der Roman, der in sieben Sprachen übersetzt wurde, war für den Man Booker International Prize nominiert und erhielt in Deutschland den Anna-Seghers-Preis.
2019 veröffentlichte Trabucco Zerán den Essay "Las homicidas", in dem sie vier in Chile berühmte Fälle von Frauen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts zu Mörderinnen wurden, aus feministischer Perspektive analysierte. Das Buch ging der Frage nach, inwieweit das Töten ein verzweifelter Akt des Widerstands gegen männliche Gewalt sein kann - und zeigte, wie die Reaktionen von Gesellschaft, Medien und Justiz zu weiteren Formen patriarchaler Gewalt werden können.
In Lateinamerika und der Karibik arbeiten zwischen elf und 18 Millionen Frauen als Hausangestellte. Etwa 70 Prozent haben keinen Zugang zur Krankenversicherung oder zum Rentensystem; sie sind oft unterbezahlt; viele erleben sexuelle und psychologische Gewalt und werden dabei von den Behörden vernachlässigt. Angesichts dieser Tatsachen wäre es naheliegend gewesen, wenn Trabucco Zerán sich entschieden hätte, in "Mein Name ist Estela" die Geschichte einer tugendhaften Frau zu erzählen, die unter Misshandlung und Demütigungen leidet und entweder an diesen zugrunde geht oder ihnen die Stirn bietet und sich von der Unterdrückung befreit.
Aber wie schon in ihrem Essay über die vier chilenischen Mörderinnen wird auch jetzt im Roman deutlich, dass sich Trabucco Zerán eher für schwierige Fälle als für einfache Lösungen und Geschichten interessiert, in denen die Welt klar in die von Opfern und Tätern unterteilt ist. "Ich fühlte, dass ich das Zimmer noch gar nicht betreten hatte und dass ich selbst, von draußen her, die Frau betrachtete, die ich ab jenem Moment sein würde: die über dem Rock gefalteten Hände, die trockenen Augen, der trockene Mund, die schnelle Atmung." So erzählt Estela vom Unbehagen, das sie bereits bei ihrer Anstellung befiel. Dieses Unbehagen und das Gefühl, nach Santiago gekommen zu sein, seien ein Fehler gewesen, werden sie nie loslassen.
Mit der Zeit wird ihre Meinung zu ihren Arbeitgebern immer bestimmter. "Da war etwas an ihr", sagt sie über die "Señora", ihre Chefin. "Wie . . . lassen Sie mich nachdenken. Verdrossenheit. Oder nein, das ist nicht das richtige Wort. Verachtung, das ist es. Als ob alle Welt Langeweile in ihr hervorriefe oder sie jegliche Form von Nähe ablehnte." Der "Señor" wiederum würde "seine Kollegen, die Krankenschwestern, jeden einzelnen seiner Patienten" hassen. "Wir sprachen wenig miteinander, er und ich. . . . Wie würden Sie eine Person definieren, die nicht raucht, die kaum trinkt, die, bevor sie den Mund aufmacht, jedes Wort abwägt, abmisst, um so unbedachte Antworten zu vermeiden, die nur Zeit kosten würden?" Überhaupt, erzählt Estela, habe sie irgendwann verstanden, dass "alles in diesem Haus ein Wettlauf gegen die Zeit" sei.
Estela selbst erklärt an einer Stelle, sie habe bei ihrem Job keine Schläge, keine Beleidigungen oder sexuellen Übergriffe erleiden müssen. Sie sei angemessen bezahlt und "korrekt" behandelt worden. Jeden Sonntag habe sie einen freien Tag gehabt - den sie in der Regel erschöpft im Bett verbracht habe. Die quälenden Erfahrungen waren intimerer Natur: die wesentliche Sinnlosigkeit ihrer Aufgaben; die Kälte, mit der ihre Arbeitgeber mit ihr - aber auch miteinander und mit ihrer Tochter - umgingen; die kleinen gönnerhaften oder spitzzüngigen Sätze und Gesten jedes der Familienmitglieder, die Estelas Platz in der Hierarchie immer wieder betonten; das Gefühl, machtlos, unsichtbar, ja beinahe inexistent zu sein. Diese Erfahrungen haben Estelas Alltag ausgemacht - und irgendwann ihr ganzes Leben.
"Ich kann mir vorstellen", sagt Estela zu ihren unsichtbaren Zuhörern, "dass ihr euch mittlerweile fragt, warum ich weiter dort blieb". Darauf antwortet sie mit einer weiteren Frage, die sich an uns richtet: "Warum behaltet ihr eure Jobs, warum bleibt ihr in euren winzigen Büros, euren Fabriken, euren Läden, auf der anderen Seite dieser Wand? Ich verlor nie den Glauben daran, dieses Haus eines Tages zu verlassen, aber die Routine ist verräterisch. Die Wiederholung der immer gleichen Rituale . . . Ein Monat, eine Woche, ein Leben in all seiner Breite."
Die ernüchternde und überraschende Pointe bei Estelas Entwicklung ist, dass sie sich ihren Arbeitgebern nach und nach annähert. Sie wird dabei immer mehr zu einer Maschine ohne Emotionen, kehrt ihrer Mutter den Rücken, bis es zu spät ist und sie für andere Menschen - und für sich selbst - nur noch Verachtung übrig hat.
Bezeichnend dafür ist gerade Estelas Beziehung zu Julia, der Tochter des Paars. Bereits mit sieben Jahren ist das Mädchen unter den Erwartungen seiner Eltern zu einem elenden Nervenbündel geworden. Es ist verstörend zu lesen, wie Estela von der Gleichgültigkeit und Härte erzählt, mit denen sie sich selbst gegenüber dem zum Unglück verdammten Mädchen verhält. Und doch entspricht Estelas Verhalten der Logik der Entfremdung und Lieblosigkeit dieser Geschichte - und Alia Trabucco Zeráns Streben, nicht von einer Heldin zu erzählen, sondern zu untersuchen, wie die Leiden von Frauen, deren Leben von Ohnmacht und Unterdrückung definiert sind, neue Leiden erzeugen oder einfach nicht verhindern können.
Bis zuletzt bleibt Estela eine Gefangene ihrer sozialen Klasse, ihrer Macht- und Perspektivlosigkeit. Und Trabucco Zeráns Roman stellt uns vor die Frage: Warum sollten wir erwarten, dass die Schwachen die Schwächsten, geschweige denn sich selbst retten könnten?
Dabei stellt Trabucco Zerán in "Mein Name ist Estela" noch einen Gemeinplatz - und eine Hoffnung - unserer Zeit infrage: die Idee, dass sich Menschen, die unter Ausbeutung und Marginalisierung leben, in gewisser Hinsicht ermächtigen oder befreien können, wenn sie die Chance bekommen oder sich nehmen, ihre eigene Geschichte zu erzählen.
Auf der letzten Seite des Romans, im Verhörraum, sagt Estela: "Ich habe alles gesagt. Ich bin am Ende meiner Geschichte angelangt." Und sie verlangt, dass für sie nun die Tür zur Freiheit geöffnet werde: "Das ist ein Befehl, so wahr ihr ihn hört. Ein Befehl der Angestellten." Es geschieht: nichts. Estela wiederholt ihre Forderung. Schließlich fragt sie: "Hört ihr mich? Ist da wer?" Am Ende bleibt nur das Echo ihrer eigenen Worte.
Alia Trabucco Zerán: "Mein Name ist Estela". Aus dem Spanischen von Benjamin Loy. Hanser, 240 Seiten, 24 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Eine erschütternde Geschichte, hervorragend erzählt. Ein gesellschaftskritisches Buch, das einen nicht kalt lässt." Hermann Koch, P.S., die linke Zürcher Zeitung, 20.09.24
"Ein intelligenter, erschütternder Roman ... Alia Trabucco Zerán ist eine der herausragenden Stimmen der zeitgenössichen Literatur Lateinamerikas." Hernán D. Caro, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10.03.24
"Ein überwältigender Roman mit einer Sprachgewalt, der man sich kaum entziehen kann." Marie-Luise Goldmann, Welt am Sonntag, 03.03.24
"Alia Trabucco Zerán vermag es, sofort Spannung wie auch eine intensive Atmosphäre zu kreieren. ... Sie erweist sich als Meisterin detailstarker, einprägsamer Szenerien und Bilder." Carola Ebeling, Zeit Online, 15.05.24
"Eine psychologisch tiefschürfende Nahaufnahme des komplexen Verhältnisses zwischen einer Dienerin und ihren Herren. ... Jedes Wort geht unter die Haut, ein fesselndes Buch!" Victoria Eglau, Deutschlandfunk Kultur, 13.03.24
"Ein Roman mit starker Spiegel-Wirkung ... Man rutscht selbst in den Voyeurismus und ertappt sich dabei, was man für Vorstellungen hat von Menschen, deren Dienstleistungen man für selbstverständlich nimmt. ... Am Ende hat man das Gefühl: Etwas in mir hat sich verschoben." Jan Ehlert, NDR, 24.05.24
"Ein brisanter Gesellschaftsroman über soziale Ungleichheit, Klassismus, Macht und Unterdrückung ..., der schon jetzt zu den faszinierendsten in diesem Literaturjahr gehört." Judith Hoffmann, Ö1, 20.02.24
"Alia Trabucco Zerán webt die verschiedenen Anfangspunkte Ihrer Ich-Erzählerin geschickt zu einer spannenden Erzählung zusammen, die sich irgendwo zwischen Kammerspiel, Krimi und Gesellschaftskritik verorten lässt ... eine Geschichte über Machtverhältnisse und Diskriminierung, ... stellenweise brutal, aber immer einfühlsam." Amanda Andreas, WDR5, 11.04.24
"Alia Trabucco Zerán hat ein großartiges Buch über die Dämonen einer Klassengesellschaft geschrieben, die kurz vor dem Aufprall ist." Leander F. Badura, Der Freitag, 12.04.24
"Ein Pageturner ... Das erschütternde Psychogramm einer Familie und ein Blick auf eine zutiefst gespaltene Leistungsgesellschaft." Eva Karnofsky, SWR 2, 19.02.24
"Ein beklemmender Roman über die Zustände zwischen Reich und Arm, der sich spannend wie ein Thriller liest." Linda Stift, Die Presse, 25.03.24
"Es ist der um Sachlichkeit bemühte, abgebrühte, fast schon emotionslose Berichtston, der diesem Buch seine Wucht gibt. ... Dass die Protagonistin mehr ist als ein Paradigma für die ausgebeutete Klasse, nämlich ein nicht unproblematischer Mensch mit Schwächen und einer Geschichte, zeigt die literarische Qualität des Romans." Frank Schäfer, neues deutschland, 19.03.24
"Eine wichtige literarische Dokumentation von Klassismus ... Alia Trabucco Zerán baut in klaren, kammerspielartigen, zugespitzten Szenen eine tolle Spannung auf. Eine Autorin, die es zu entdecken gilt!" Ines Lauffer, hr2, 01.03.24
"Eine aufwühlende Erzählung ... In kurzen Szenen taucht Alia Trabucco Zerán ein in das häusliche Epizentrum der Wohlstandsverwahrlosung und schildert prägende Szenen der inneren Verzweiflung, Wut und Machtlosigkeit." Melissa Erhardt, ORF, 18.06.24
"Ein Roman, den man nicht wieder aus der Hand legt." Brigitte Theissl, an.schlaege Magazin, 23.05.24
"Ein intelligenter, erschütternder Roman ... Alia Trabucco Zerán ist eine der herausragenden Stimmen der zeitgenössichen Literatur Lateinamerikas." Hernán D. Caro, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10.03.24
"Ein überwältigender Roman mit einer Sprachgewalt, der man sich kaum entziehen kann." Marie-Luise Goldmann, Welt am Sonntag, 03.03.24
"Alia Trabucco Zerán vermag es, sofort Spannung wie auch eine intensive Atmosphäre zu kreieren. ... Sie erweist sich als Meisterin detailstarker, einprägsamer Szenerien und Bilder." Carola Ebeling, Zeit Online, 15.05.24
"Eine psychologisch tiefschürfende Nahaufnahme des komplexen Verhältnisses zwischen einer Dienerin und ihren Herren. ... Jedes Wort geht unter die Haut, ein fesselndes Buch!" Victoria Eglau, Deutschlandfunk Kultur, 13.03.24
"Ein Roman mit starker Spiegel-Wirkung ... Man rutscht selbst in den Voyeurismus und ertappt sich dabei, was man für Vorstellungen hat von Menschen, deren Dienstleistungen man für selbstverständlich nimmt. ... Am Ende hat man das Gefühl: Etwas in mir hat sich verschoben." Jan Ehlert, NDR, 24.05.24
"Ein brisanter Gesellschaftsroman über soziale Ungleichheit, Klassismus, Macht und Unterdrückung ..., der schon jetzt zu den faszinierendsten in diesem Literaturjahr gehört." Judith Hoffmann, Ö1, 20.02.24
"Alia Trabucco Zerán webt die verschiedenen Anfangspunkte Ihrer Ich-Erzählerin geschickt zu einer spannenden Erzählung zusammen, die sich irgendwo zwischen Kammerspiel, Krimi und Gesellschaftskritik verorten lässt ... eine Geschichte über Machtverhältnisse und Diskriminierung, ... stellenweise brutal, aber immer einfühlsam." Amanda Andreas, WDR5, 11.04.24
"Alia Trabucco Zerán hat ein großartiges Buch über die Dämonen einer Klassengesellschaft geschrieben, die kurz vor dem Aufprall ist." Leander F. Badura, Der Freitag, 12.04.24
"Ein Pageturner ... Das erschütternde Psychogramm einer Familie und ein Blick auf eine zutiefst gespaltene Leistungsgesellschaft." Eva Karnofsky, SWR 2, 19.02.24
"Ein beklemmender Roman über die Zustände zwischen Reich und Arm, der sich spannend wie ein Thriller liest." Linda Stift, Die Presse, 25.03.24
"Es ist der um Sachlichkeit bemühte, abgebrühte, fast schon emotionslose Berichtston, der diesem Buch seine Wucht gibt. ... Dass die Protagonistin mehr ist als ein Paradigma für die ausgebeutete Klasse, nämlich ein nicht unproblematischer Mensch mit Schwächen und einer Geschichte, zeigt die literarische Qualität des Romans." Frank Schäfer, neues deutschland, 19.03.24
"Eine wichtige literarische Dokumentation von Klassismus ... Alia Trabucco Zerán baut in klaren, kammerspielartigen, zugespitzten Szenen eine tolle Spannung auf. Eine Autorin, die es zu entdecken gilt!" Ines Lauffer, hr2, 01.03.24
"Eine aufwühlende Erzählung ... In kurzen Szenen taucht Alia Trabucco Zerán ein in das häusliche Epizentrum der Wohlstandsverwahrlosung und schildert prägende Szenen der inneren Verzweiflung, Wut und Machtlosigkeit." Melissa Erhardt, ORF, 18.06.24
"Ein Roman, den man nicht wieder aus der Hand legt." Brigitte Theissl, an.schlaege Magazin, 23.05.24