"Wie auf einem Schiff" fühlte sich Thomas Mann in seinem Niddener Ferienhaus. Und in der Tat können die drei Sommer 1930–1932, welche die Manns im Fischerdorf Nidden auf der Kurischen Nehrung verlebten, einer schmalen Halbinsel zwischen Ostsee und Kurischem Haff, als eine Art Vor-Exil gelten, bevor die Familie über den Ozean nach Amerika emigrierte. Zwei Generationen später entdeckt nun Frido Mann, der Enkel Thomas Manns, bei zahlreichen Besuchen sein Nidden: Dabei wandelt er nicht nur auf den Spuren seiner Vorfahren, sondern zeichnet auch die wechselvolle Geschichte der Kurischen Nehrung im 20. Jahrhundert nach – hin- und hergerissen zwischen Deutschem Reich, Sowjetherrschaft und der Unabhängigkeit Litauens. Mit Neugier, Empathie und Weitblick wirkt Frido Mann an der Zukunft des Niddener Hauses als eines Zentrums für interkulturellen Austausch mit. Nicht zuletzt entwirft er in seinem Buch ein eindrucksvolles Bild der überwältigenden Natur mit ihrer Mischung aus nördlichem und südlichem Charme und einem Himmel, der sich in fast endlosen Blautönen über dem Haff und der "europäischen Sahara" – dem berühmten Wanderdünenfeld – erstreckt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.2012Das einzige Haus, das nicht abgehört wurde
Was soll ich denn in Hiddensee, wo ich doch jetzt nach Nidden geh'? Frido Mann reist seinem Großvater Thomas Mann in sicherer Distanz ans Kurische Haff nach.
Einer litauischen Sage zufolge warf die schöne Riesin Neringa einst Sand aus ihrer Schürze zu einer Landzunge auf, um die kurischen Fischer vor der wilden Ostsee zu schützen. Diese Nehrung, die das Kurische Haff von der offenen See trennt, diente früher als Verbindungsweg von Königsberg nach Memel (Klaipeda). In der Mitte des schmalen Streifens - unweit der heutigen Grenze zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Litauen - liegt Nida (Nidden). Am Rande einer Reise nach Königsberg entdeckten Thomas und Katia Mann 1929 das idyllische Fischerdorf, dessen Abgeschiedenheit sie nach dem Trubel im Ostseebad Rauschen (Svetlogorsk) verzauberte.
Der drei Monate später verliehene Nobelpreis schaffte die unerwartete Möglichkeit, in Klaipeda ein Sommerhaus samt Einrichtung errichten zu lassen, das die Familie Mann im folgenden Jahr bezog. Doch jenes Glück, das schon die Expressionisten Corinth, Mollenhauer, Pechstein und Schmidt-Rottluff hier empfanden, währte nicht lange. Bereits bei der Reichstagswahl 1930, zu der Thomas Mann sich eigens mit der Kutsche in den Nachbarort Rositten zur Stimmabgabe begab, erhielten die Nationalsozialisten erschreckend viele Stimmen. Der Sommer 1932 sollte der letzte vor dem Exil nach Amerika sein. Nach der Beschlagnahmung durch die Nazis hieß der Eigentümer im Jahr 1941 Hermann Göring.
Thomas Manns Lieblingsenkel Frido, der erst zehn Jahre nach dem Hausbau im kalifornischen Exil zur Welt kam, hat jetzt sein "Nidden" in einem eindringlichen Buch erschlossen. Mehrere Reisen führten ihn seit 1997 an jenen Ort, den sein Vater Michael wie ein Mantra für Ferienfreiheit und Kinderglück beschwor. Doch bevor Frido zur Nehrung aufbrach, fuhr sein Sohn Stefan 1992, im Jahr nach der Unabhängigkeit Litauens von der Sowjetunion, als Erster der Manns wieder auf jenem beschwerlichen Landweg dorthin, den einst sein Urgroßvater nutzte. Frido Mann arrangiert die Eindrücke des Orts aus mehreren Generationen, was angesichts der nicht erhaltenen Tagebücher Thomas Manns aus dieser Zeit umso wertvoller ist. Zudem verbindet er die Erinnerungsfacetten mit einer kritischen Analyse der wechselvollen Geschichte des Landstrichs zwischen Preußen, Deutschem Reich, Litauen, Nazideutschland, Sowjetunion und dem heute unabhängigen EU-Land.
Im Mittelpunkt steht das schlichte, charmante Holzhaus, das nach Zerstörungen im Krieg und Umbauten in der Sowjetzeit heute im alten Glanz hoch über dem Haff erstrahlt. Es steht auf einer - erst neuerdings durch eine Treppe von der Uferseite aus zu erreichenden - Anhöhe, die seit je "Schwiegermutterhügel" heißt. Übrigens ganz ohne ihr Zutun, wie Katia Manns Mutter Hedwig Pringsheim in ihren Erinnerungen ironisch bemerkt. Zunächst waren die Schwiegereltern von der "Kateridee" des Hauses wenig überzeugt. Dann bewegten sie sich in den Augen der Einheimischen doch gern "im Schatten des Titanen", zumal der hier mit einem Feuerwerk begangene achtzigste Geburtstag von Alfred Pringsheim ein Ereignis war. Frido Mann hingegen zeigt sich befremdet, wenn Touristen auf der Terrasse des Hauses wichtig und dumm über den Schriftsteller dozierten, ohne ihn zu bemerken. Am meisten verstörte der Besucher Klaus Kinkel, der vor den anderen baltischen Außenministern "peinlich laut und mit einer großgrundbesitzerartig ausladenden Geste" seinen Bodyguards zurief: "Schauen Sie mal, ich habe hier den Enkel von Thomas Mann neben mir sitzen."
Frido Manns "Nidden" ist ein politisches Buch. Zum einen distanziert es sich klar von den deutschen "Heimwehtouristen", die aus zweifelhaften Gründen ins vormalige Memelland reisen, zum anderen beschönigt es nicht die Lebensbedingungen in Litauen auch nach der Unabhängigkeit und dem EU-Beitritt 2004. Vor allem aber ist es eine Verneigung vor der Leistung litauischer Literarhistoriker, die seit der Gründung des Thomas-Mann-Hauses als Filiale der Stadtbibliothek Klaipeda 1967 ein Zentrum für den westöstlichen Kulturaustausch geschaffen haben. Unter kommunistischer Herrschaft konnte der Staat es als Denkmal des Antifaschismus feiern, Freunde des Hauses versammelten sich hier jedoch im Geiste freien Denkens und Redens, denn es schien ein Ort ohne Abhöranlagen zu sein.
Frido Mann hat inzwischen den von Golo Mann nur mündlich verfügten Verzicht auf eine Rückübertragung auch juristisch vollzogen. Das kommt einer Schenkung gleich, aus Respekt vor dem lokalen Engagement für Thomas Manns Erbe. Wenn man sich heute aus dem touristischen Treiben Nidas auf den Hügel am nördlichen Ortsrand begibt, ist die einstige Ruhe noch ein wenig zu spüren. Fährt man dann statt auf der alten Poststraße weiter mit dem Fahrrad durch die lichten Kiefernhaine entlang der Dünen bis nach Klaipeda, scheint sogar jener "Märchenwald", von dem Hedwig Pringsheim in ihren Buch "Wir reisen nach Nidden" schwärmt, noch etwas erhalten. Nur die Elche sind inzwischen verschwunden.
ALEXANDER KOSENINA
Frido Mann: "Mein Nidden. Auf der Kurischen Nehrung".
Mareverlag, Hamburg 2012. 159 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was soll ich denn in Hiddensee, wo ich doch jetzt nach Nidden geh'? Frido Mann reist seinem Großvater Thomas Mann in sicherer Distanz ans Kurische Haff nach.
Einer litauischen Sage zufolge warf die schöne Riesin Neringa einst Sand aus ihrer Schürze zu einer Landzunge auf, um die kurischen Fischer vor der wilden Ostsee zu schützen. Diese Nehrung, die das Kurische Haff von der offenen See trennt, diente früher als Verbindungsweg von Königsberg nach Memel (Klaipeda). In der Mitte des schmalen Streifens - unweit der heutigen Grenze zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Litauen - liegt Nida (Nidden). Am Rande einer Reise nach Königsberg entdeckten Thomas und Katia Mann 1929 das idyllische Fischerdorf, dessen Abgeschiedenheit sie nach dem Trubel im Ostseebad Rauschen (Svetlogorsk) verzauberte.
Der drei Monate später verliehene Nobelpreis schaffte die unerwartete Möglichkeit, in Klaipeda ein Sommerhaus samt Einrichtung errichten zu lassen, das die Familie Mann im folgenden Jahr bezog. Doch jenes Glück, das schon die Expressionisten Corinth, Mollenhauer, Pechstein und Schmidt-Rottluff hier empfanden, währte nicht lange. Bereits bei der Reichstagswahl 1930, zu der Thomas Mann sich eigens mit der Kutsche in den Nachbarort Rositten zur Stimmabgabe begab, erhielten die Nationalsozialisten erschreckend viele Stimmen. Der Sommer 1932 sollte der letzte vor dem Exil nach Amerika sein. Nach der Beschlagnahmung durch die Nazis hieß der Eigentümer im Jahr 1941 Hermann Göring.
Thomas Manns Lieblingsenkel Frido, der erst zehn Jahre nach dem Hausbau im kalifornischen Exil zur Welt kam, hat jetzt sein "Nidden" in einem eindringlichen Buch erschlossen. Mehrere Reisen führten ihn seit 1997 an jenen Ort, den sein Vater Michael wie ein Mantra für Ferienfreiheit und Kinderglück beschwor. Doch bevor Frido zur Nehrung aufbrach, fuhr sein Sohn Stefan 1992, im Jahr nach der Unabhängigkeit Litauens von der Sowjetunion, als Erster der Manns wieder auf jenem beschwerlichen Landweg dorthin, den einst sein Urgroßvater nutzte. Frido Mann arrangiert die Eindrücke des Orts aus mehreren Generationen, was angesichts der nicht erhaltenen Tagebücher Thomas Manns aus dieser Zeit umso wertvoller ist. Zudem verbindet er die Erinnerungsfacetten mit einer kritischen Analyse der wechselvollen Geschichte des Landstrichs zwischen Preußen, Deutschem Reich, Litauen, Nazideutschland, Sowjetunion und dem heute unabhängigen EU-Land.
Im Mittelpunkt steht das schlichte, charmante Holzhaus, das nach Zerstörungen im Krieg und Umbauten in der Sowjetzeit heute im alten Glanz hoch über dem Haff erstrahlt. Es steht auf einer - erst neuerdings durch eine Treppe von der Uferseite aus zu erreichenden - Anhöhe, die seit je "Schwiegermutterhügel" heißt. Übrigens ganz ohne ihr Zutun, wie Katia Manns Mutter Hedwig Pringsheim in ihren Erinnerungen ironisch bemerkt. Zunächst waren die Schwiegereltern von der "Kateridee" des Hauses wenig überzeugt. Dann bewegten sie sich in den Augen der Einheimischen doch gern "im Schatten des Titanen", zumal der hier mit einem Feuerwerk begangene achtzigste Geburtstag von Alfred Pringsheim ein Ereignis war. Frido Mann hingegen zeigt sich befremdet, wenn Touristen auf der Terrasse des Hauses wichtig und dumm über den Schriftsteller dozierten, ohne ihn zu bemerken. Am meisten verstörte der Besucher Klaus Kinkel, der vor den anderen baltischen Außenministern "peinlich laut und mit einer großgrundbesitzerartig ausladenden Geste" seinen Bodyguards zurief: "Schauen Sie mal, ich habe hier den Enkel von Thomas Mann neben mir sitzen."
Frido Manns "Nidden" ist ein politisches Buch. Zum einen distanziert es sich klar von den deutschen "Heimwehtouristen", die aus zweifelhaften Gründen ins vormalige Memelland reisen, zum anderen beschönigt es nicht die Lebensbedingungen in Litauen auch nach der Unabhängigkeit und dem EU-Beitritt 2004. Vor allem aber ist es eine Verneigung vor der Leistung litauischer Literarhistoriker, die seit der Gründung des Thomas-Mann-Hauses als Filiale der Stadtbibliothek Klaipeda 1967 ein Zentrum für den westöstlichen Kulturaustausch geschaffen haben. Unter kommunistischer Herrschaft konnte der Staat es als Denkmal des Antifaschismus feiern, Freunde des Hauses versammelten sich hier jedoch im Geiste freien Denkens und Redens, denn es schien ein Ort ohne Abhöranlagen zu sein.
Frido Mann hat inzwischen den von Golo Mann nur mündlich verfügten Verzicht auf eine Rückübertragung auch juristisch vollzogen. Das kommt einer Schenkung gleich, aus Respekt vor dem lokalen Engagement für Thomas Manns Erbe. Wenn man sich heute aus dem touristischen Treiben Nidas auf den Hügel am nördlichen Ortsrand begibt, ist die einstige Ruhe noch ein wenig zu spüren. Fährt man dann statt auf der alten Poststraße weiter mit dem Fahrrad durch die lichten Kiefernhaine entlang der Dünen bis nach Klaipeda, scheint sogar jener "Märchenwald", von dem Hedwig Pringsheim in ihren Buch "Wir reisen nach Nidden" schwärmt, noch etwas erhalten. Nur die Elche sind inzwischen verschwunden.
ALEXANDER KOSENINA
Frido Mann: "Mein Nidden. Auf der Kurischen Nehrung".
Mareverlag, Hamburg 2012. 159 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein klein bisschen lässt sich Alexander Kosenina doch verzaubern von diesem Buch des Lieblingsenkels von Thomas Mann über das einstige Familien-Feriendomizil auf der zwischen Litauen und Kaliningrad gelegenen Nehrung Nida. Wenn er auf Manns Spuren durch die Dünen wandert jedenfalls. Das eindringliche Buch, meint er, sei allerdings politisch. Weil es eben nicht nur die Eindrücke des Ortes von Generationen von Manns dokumentiert (wertvoll!), sondern auch eine kritische Analyse der Ortsgeschichte bietet, zu Heimwehmemellandtouristen und den schwierigen litauischen Lebensbedingungen nach dem EU-Beitritt 2004. Die Verneigung des Autors vor den den Kulturaustausch befördernden Verdiensten litauischer Literaturhistoriker um das Haus in Nida sieht Kosenina mit Freude.
© Perlentaucher Medien GmbH
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