Eine junge Frau besucht zum ersten Mal in ihrem Leben ein klassisches Konzert und schläft mittendrin ein. Später bemerkt sie, dass es sich um Brahms »Wiegenlied« gehandelt hat – war sie vielleicht gar die einzige Person im Saal, die die Musik wirklich gehört hat? Eine ältere Frau sinniert über die ihrer Meinung nach zu Unrecht aufgegebene Praxis der Schrumpfköpfe – wie gerne würde sie zwölf Schrumpfköpfe ihrer Ahnen in einer Eierschachtel aufbewahren und sie gebührend erinnern. Eine Frau in den Wechseljahren dokumentiert die Unentrinnbarkeit des Verfalls beherzt in einem Weintagebuch, »Montag 3 Mal geweint / Dienstag kein Mal / Mittwoch 1 Mal, ein bisschen.«
In Mary Ruefles 41 Prosaminiaturen wird das Profane, werden Obsessionen, Sehnsüchte und widersprüchliche Neigungen zum Katalysator von Erkenntnis. Mit Lakonie, Humor und einer beneidenswerten Gabe des Hinsehens stellt Ruefle die genau richtigen Fragen an das Leben und erschließt en passant die Traurigkeit und Schönheit unseres alltäglichen Tuns.
In Mary Ruefles 41 Prosaminiaturen wird das Profane, werden Obsessionen, Sehnsüchte und widersprüchliche Neigungen zum Katalysator von Erkenntnis. Mit Lakonie, Humor und einer beneidenswerten Gabe des Hinsehens stellt Ruefle die genau richtigen Fragen an das Leben und erschließt en passant die Traurigkeit und Schönheit unseres alltäglichen Tuns.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Insa Wilke empfiehlt Liebhaberinnen kurzer Prosa Mary Ruefles Texte in der Übersetzung von Esther Kinsky. Die Prosa-Miniaturen hinterlassen bei Wilke bei oberflächlicher Lektüre zwar zunächst den Eindruck, Ruefle sei bloß eine etwas skurrile Zeitgenossin. Bei genauerem Hinsehen aber erkennt Wilke eine sehr neugierige, stets staunende Autorin, die verschiedene Wahrnehmungen der Wirklichkeit ausprobiert und dafür sprachliche Entsprechungen findet. Mit der Zeit fangen die erst so unscheinbar daherkommenden Sätze an zu leuchten, versichert Wilke.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2022Wachsen an Schrumpfköpfen
Mary Ruefles flirrende Prosaminiaturen "Mein Privatbesitz"
Was eigentlich ist das, Privatbesitz? Und erst recht: "mein" Privatbesitz? Man denkt an Schubladen, in denen sich Erinnerungen oder Reichtümer stapeln. Objekte intensiver Begegnungen und von großer Bedeutung - vielleicht gar von großem Wert. Tatsächlich werden in der titelgebenden Geschichte dieses Bandes äußerst spezielle Privatbesitze erkundet, Schrumpfköpfe. Das "Mein" des Titels also ist nicht primär possessiv, sondern primär imaginativ, aber: Jede Imagination ist - immer auch - eine Besitznahme.
Mary Ruefle, eine Autorin, die in den Vereinigten Staaten schon lange als eine der glänzendsten Dichterinnen unserer Zeit gilt, hat ein großes Werk aus Gedichten und Kurzprosa geschaffen; außerdem erschien 2017 der Essayband "Madness, Rack and Honey". Mehr noch als Prosa, sagt sie, sei Poesie für sie eine Unterbrechung der Gegenwart, genauer: eine Aufhebung der Zeit, eine Sprachschleife im Kopf. Ihre Prosa setzt meist bei einer Erfahrung oder einem Thema an: "Die Prosa ist auf eine Weise vorbereitet, wie es die Gedichte nicht sind."
Der Band "Mein Privatbesitz" besteht aus 41 flirrenden Prosaminiaturen. Sie handeln meist von alltäglichen Dingen - von der Menopause und dem Füttern der Finken, von Schlüsseln und Brotkrümeln, vom ersten klassischen Konzert, das das erzählende Ich hörte, vom Scheitern in der Liebe und von einem Mitschüler, dem "starrköpfigen Frank". Außerdem sind die Themen des Lebens präsent: das Spiel, der Tod, die Kindheit. Alles ist meisterhaft übersetzt von der Dichterin und Autorin Esther Kinsky. Noch jedes Atom will ja gesehen und gegrüßt sein. Aber nicht nur das: Die Miniaturen haben in der Sache auf Anhieb keine Verbindungen untereinander. Alle beginnen aus dem Nichts und entschwinden nach dem letzten Wort scheinbar ebendorthin.
Eingestreut allerdings hat Ruefle elf kurze Abhandlungen über verschiedenfarbige Traurigkeiten, darunter Rosa, Lila, Schwarz und Grün. Bei Rosa heißt es: "Rosa Traurigkeit ist die Traurigkeit weißer Anchovis; . . . es ist die Traurigkeit der Scham, wenn man nichts falsch gemacht hat." Am Ende des Bandes notiert Ruefle, dass man das Wort "Traurigkeit" ebenso gut durch das Wort "Freude" ersetzen könne, Dass es auch im Deutschen funktioniert, ist ein Verdienst der Übersetzerin, denn es bedeutet, dass die Sprache die Kraft hat, Gegensätze zu bergen.
Was die Miniaturen außerdem verbindet, ist die Ahnung, dass das Privateste das Universellste ist. So auch in der Titelgeschichte mit den Schrumpfköpfen. In dem sich langsam entwickelnden Weg der Assoziationen changieren Erschrecken, Trauer und große Zärtlichkeit. Im Zentrum steht auch hier, wie überall, das Erinnern. Abwechselnd wähnen wir uns in einem Horrorkurzfilm, in dem knapp und detailreich die hohe Kunst der Herstellung von Schrumpfköpfen beschrieben wird; wir haben teil, wie die Ich-Erzählerin als Jugendliche zu den Objekten der Raubkunst und den kolonialen Siegestrophäen ins belgische Kongo-Museum pilgerte, um mit ihnen auf der Suche nach Gott Zwiegespräche zu führen. Wir sehen sie als Puppenköpfe. Wir lernen ihre Bedeutung als Objekte ferner Totenkulte kennen und sehen uns mit unserer eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit dem Tod konfrontiert.
Der Dichter Paul Valéry notierte einmal, dass die Anfangszeile eines jeden Gedichts einer herabfallenden Frucht gleiche. Die Aufgabe des Dichters sei es dann, den Baum zu erschaffen, von dem die Frucht herabgefallen sein könnte. Und in der Tat, die zentrale Langminiatur "Mein Privatbesitz" liefert uns einen enormen Baum mit ungeahnten Wurzel- und Astformationen: Der Psychoanalytiker (englisch shrink, weil die Patienten in die Kindheit zurückschrumpfen) taucht ebenso auf wie das Krankenbett der sterbenden Mutter und die Versammlung der zwölf Schrumpfköpfe, die das lyrische Ich am liebsten zu Privatgesprächen um sich scharen würde. Was schließlich sind Paul Valéry, Franz Kafka, Emily Dickinson oder die eigene Mutter anderes als Köpfe, die in unsere Gegenwart hineinsprechen?
Mary Ruefle ist in Deutschland noch zu entdecken; die Literaturzeitschrift "Schreibheft" stellte sie zuerst vor. Ihre Kunst ist aus intensiver Imagination, großartiger Achtsamkeit und bei aller Skurrilität aus menschenfreundlichem Humor gemacht. MARIE LUISE KNOTT
Mary Ruefle: "Mein Privatbesitz".
Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 127 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mary Ruefles flirrende Prosaminiaturen "Mein Privatbesitz"
Was eigentlich ist das, Privatbesitz? Und erst recht: "mein" Privatbesitz? Man denkt an Schubladen, in denen sich Erinnerungen oder Reichtümer stapeln. Objekte intensiver Begegnungen und von großer Bedeutung - vielleicht gar von großem Wert. Tatsächlich werden in der titelgebenden Geschichte dieses Bandes äußerst spezielle Privatbesitze erkundet, Schrumpfköpfe. Das "Mein" des Titels also ist nicht primär possessiv, sondern primär imaginativ, aber: Jede Imagination ist - immer auch - eine Besitznahme.
Mary Ruefle, eine Autorin, die in den Vereinigten Staaten schon lange als eine der glänzendsten Dichterinnen unserer Zeit gilt, hat ein großes Werk aus Gedichten und Kurzprosa geschaffen; außerdem erschien 2017 der Essayband "Madness, Rack and Honey". Mehr noch als Prosa, sagt sie, sei Poesie für sie eine Unterbrechung der Gegenwart, genauer: eine Aufhebung der Zeit, eine Sprachschleife im Kopf. Ihre Prosa setzt meist bei einer Erfahrung oder einem Thema an: "Die Prosa ist auf eine Weise vorbereitet, wie es die Gedichte nicht sind."
Der Band "Mein Privatbesitz" besteht aus 41 flirrenden Prosaminiaturen. Sie handeln meist von alltäglichen Dingen - von der Menopause und dem Füttern der Finken, von Schlüsseln und Brotkrümeln, vom ersten klassischen Konzert, das das erzählende Ich hörte, vom Scheitern in der Liebe und von einem Mitschüler, dem "starrköpfigen Frank". Außerdem sind die Themen des Lebens präsent: das Spiel, der Tod, die Kindheit. Alles ist meisterhaft übersetzt von der Dichterin und Autorin Esther Kinsky. Noch jedes Atom will ja gesehen und gegrüßt sein. Aber nicht nur das: Die Miniaturen haben in der Sache auf Anhieb keine Verbindungen untereinander. Alle beginnen aus dem Nichts und entschwinden nach dem letzten Wort scheinbar ebendorthin.
Eingestreut allerdings hat Ruefle elf kurze Abhandlungen über verschiedenfarbige Traurigkeiten, darunter Rosa, Lila, Schwarz und Grün. Bei Rosa heißt es: "Rosa Traurigkeit ist die Traurigkeit weißer Anchovis; . . . es ist die Traurigkeit der Scham, wenn man nichts falsch gemacht hat." Am Ende des Bandes notiert Ruefle, dass man das Wort "Traurigkeit" ebenso gut durch das Wort "Freude" ersetzen könne, Dass es auch im Deutschen funktioniert, ist ein Verdienst der Übersetzerin, denn es bedeutet, dass die Sprache die Kraft hat, Gegensätze zu bergen.
Was die Miniaturen außerdem verbindet, ist die Ahnung, dass das Privateste das Universellste ist. So auch in der Titelgeschichte mit den Schrumpfköpfen. In dem sich langsam entwickelnden Weg der Assoziationen changieren Erschrecken, Trauer und große Zärtlichkeit. Im Zentrum steht auch hier, wie überall, das Erinnern. Abwechselnd wähnen wir uns in einem Horrorkurzfilm, in dem knapp und detailreich die hohe Kunst der Herstellung von Schrumpfköpfen beschrieben wird; wir haben teil, wie die Ich-Erzählerin als Jugendliche zu den Objekten der Raubkunst und den kolonialen Siegestrophäen ins belgische Kongo-Museum pilgerte, um mit ihnen auf der Suche nach Gott Zwiegespräche zu führen. Wir sehen sie als Puppenköpfe. Wir lernen ihre Bedeutung als Objekte ferner Totenkulte kennen und sehen uns mit unserer eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit dem Tod konfrontiert.
Der Dichter Paul Valéry notierte einmal, dass die Anfangszeile eines jeden Gedichts einer herabfallenden Frucht gleiche. Die Aufgabe des Dichters sei es dann, den Baum zu erschaffen, von dem die Frucht herabgefallen sein könnte. Und in der Tat, die zentrale Langminiatur "Mein Privatbesitz" liefert uns einen enormen Baum mit ungeahnten Wurzel- und Astformationen: Der Psychoanalytiker (englisch shrink, weil die Patienten in die Kindheit zurückschrumpfen) taucht ebenso auf wie das Krankenbett der sterbenden Mutter und die Versammlung der zwölf Schrumpfköpfe, die das lyrische Ich am liebsten zu Privatgesprächen um sich scharen würde. Was schließlich sind Paul Valéry, Franz Kafka, Emily Dickinson oder die eigene Mutter anderes als Köpfe, die in unsere Gegenwart hineinsprechen?
Mary Ruefle ist in Deutschland noch zu entdecken; die Literaturzeitschrift "Schreibheft" stellte sie zuerst vor. Ihre Kunst ist aus intensiver Imagination, großartiger Achtsamkeit und bei aller Skurrilität aus menschenfreundlichem Humor gemacht. MARIE LUISE KNOTT
Mary Ruefle: "Mein Privatbesitz".
Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 127 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.07.2022Wer
eine Wahrheit
verschläft
Sätze, die benennen, was ist. Und
zwar so, wie man es noch nicht gelesen hat:
Mary Ruefle ist die Königin der kurzen
und kuriosen Literatur
VON INSA WILKE
Es ist doch wirklich traurig, dass heutzutage niemand an der Kunst des Kopfschrumpfens Interesse zeigt“, schreibt die amerikanische Dichterin Mary Ruefle, die gerade 70 Jahre alt geworden ist. Da muss man sich erst mal kurz reindenken. Das Prosastück, das so beginnt, heißt „Mein Privatbesitz“. Es handelt von einem Mädchen, das sich in einem Kolonialmuseum in einen Schrumpfkopf verliebt, während es in der Schule sein sollte. Es scheint dabei um die grundsätzliche Freiheit und den Trost zu gehen, den zwölf „wie frisch gelegte Eier in einer Schachtel“ liegende nach allen Regeln der Kunst geschrumpfte Köpfe vermitteln können.
Eine andere Überlegung von Mary Ruefle, diesmal aus der Prosa-Miniatur „Schnee“: „Ich wäre gern im Klassenzimmer – ich bin Lehrerin – würde mein Buch zuklappen, aufstehen, sagen ‚Es schneit, ich muss jetzt los, um Sex zu haben, auf Wiedersehen‘, und aus dem Zimmer gehen.“ „Schnee“ wurde wie der nach dem oben zitierten Text benannte Suhrkamp-Band „Mein Privatbesitz“ von Esther Kinsky übersetzt, steht allerdings in Norbert Wehrs Schreibheft.
Die Nr. 97 der Essener Literaturzeitschrift widmete Ruefle jüngst einen Schwerpunkt und stellte sie erstmals auf Deutsch vor. Wie üblich für das Schreibheft wird ein kompakter Eindruck durch Gespräche mit der Autorin und eine querschnittartige Auswahl ihres Werkes vermittelt. In Ruefles Fall: Gedichte, Kurzprosa, Ausschnitte ihrer Erasure-Bücher, von denen es 99 an der Zahl geben soll, und ihre sehr kurzen Kurzvorlesungen. Deutende Kommentare von Leuten wie Clemens J. Setz erweitern das Bild.
Der Suhrkamp-Band liefert dagegen keinerlei einordnende Texte mit. Das entspricht Ruefle zwar, wie man aus einem der Schreibheft-Gespräche wissen kann. Da erzählt sie, wie sie vor den Regalen eines Buchladens stand und bemerkte, dass es weit mehr Bücher über Gedichte gab als Gedichtbände. „Ich habe dagestanden und die Regale angestarrt. Sie stellten etwas unter Beweis, das mich bestürzte.“ Keine Freundin des Paratextes und der Sekundärliteratur also. Auch der „Genre Wars“ sei sie müde.
Nichtsdestotrotz könnte bei flüchtiger Lektüre von „Mein Privatbesitz“ und ohne das Wissen, das einem das Schreibheft durch seine editorische Panorama-Kunst liefert, das Missverständnis entstehen, Ruefle sei einfach nur eine skurrile Person. Eine Dichterin, die im Bundesstaat Vermont eigensinnig in einer Kleinstadt sitze und von hier ihre immer noch mit der Hand geschriebenen kleinen Texte wie Glühwürmchen in die Welt schicke, wo sie aber nicht ankommen, denn Glühwürmchen entwickeln sich langsam und leuchten nur kurz. Schon gar nichts also für lange Strecken über den Atlantik nach Mitteleuropa.
Das Schreibheft revidiert diesen Eindruck durch den Chor der Stimmen, den Norbert Wehr um Ruefles Texte organisiert: Neben Esther Kinsky wird Ruefle hier von anderen Protagonistinnen der hiesigen Lyrikszene übersetzt: Norbert Lange, Anja Utler, Sonja vom Brocke. Allen meint man zwischen den Zeilen ihrer Arbeit eine einverständige Innigkeit anzumerken. Nicht fern von dem innigen Einverständnis, das Mary Ruefle wiederum mit ihren Schrumpfköpfen verbindet.
Sieht man sich im Netz Videos von ihren Auftritten an, fällt auch dort die freudige Ehrfurcht auf, mit der die Dichterin überall in den USA begrüßt wird. Rührt sie daher, dass Ruefle so neugierig darauf ist, „was eine beliebige Oberfläche tief unter sich begraben hält“? Und dass diese Neugier an sich schon so selten ist und noch seltener einen in Wortwahl und in den logischen Strukturen so irritierenden sprachlichen Ausdruck findet? Wird Ruefle bewundert, weil sie sucht, gräbt, plündert und entdeckt, wie es in „Schnee“ heißt, dabei ebenso gnadenlos wie unerschrocken vorgehend, völlig unsentimental Wesen und Dingen zugewandt? „Ich hasste Kindsein / Ich hasse Erwachsensein / Und ich liebe Lebendigsein“ endet das Gedicht „Herkunft“. Sagt das nicht (fast) alles?
Clemens J. Setz schreibt: „Was mich in Mary Ruefles Werk so tief berührt, (…) ist ihr von einer Poesie der offensichtlichen Tatsachen durchstrahltes, nie abreißendes Staunen über die Schöpfung.“ Es lässt sich an der Sprache zeigen, was das meint. Esther Kinsky hat es im Deutschen herausgearbeitet: Da will ein kleiner Baum sein „Sterbchen“ machen (als sei das nur ein Bäuerchen), malträtiert vom gefräßigen „Vierbeinerigen“ (in dem die „Gier“ steckt). „Erdbaumaschinen“ und nicht „schweres Gerät“ graben den Boden um, in dem Ruefle mit ihrem anthropologischen Interesse beobachtet, wie Tote analog zum Müll behandelt werden, eingepackt in „Begräbniskisten“ und nicht in „Särge“. Lauter kleine, aber vielsagende Verschiebungen der Wahrnehmung durch sprachliche Abweichungen. Und erst die Partikel, Konjunktionen und Adverben: Wie endgültig ein „und“ bei Ruefle in Kinskys Übersetzung klingt, wenn es in dem Prosastück „Glück gehabt“ den Reigen der Widerspruchskonjunktion „doch“ beendet: „doch das geschah nicht (…) und als ich erwachte, war ich nackt wie ein Baby und allein und hatte Angst.“
Das Staunen, das Clemens J. Setz erwähnt, darf man sich aber keineswegs kindlich vorstellen. Es hat andere Facetten. Zum einen ein tiefes Unverständnis den Unempfindlichen gegenüber. Im Gespräch mit Daniel Levin Becker äußert sich Ruefle über die Marketing-Maschen der Kunstindustrie: „Eine Frida-Kahlo-Brieftasche betrachte ich als Hohn. Die Menschen, die Alltagsgegenstände entwerfen – eine Tasse, einen Kissenbezug – und das Gesicht eines Menschen darauf abbilden, der so gelitten hat wie Kahlo: Woran sonst als an Geld können sie denken?“
Zum anderen klingt in vielen Texten die Wut mit, dass „echtem Gefühl“ und der wirklichen Wahrheit mit Desinteresse begegnet wird, aus purer Bequemlichkeit. Eine schöne Steigerung in dieser Hinsicht bietet der Essay „Die Pause“. Wenn es um die Wechseljahre gehe, wolle sie nicht wie andere von Hitzewallungen reden, schreibt Ruefle: „Wie eine Frau, die undepressivste, optimistischste, zuversichtlichste Frau, die ich kenne, eines Morgens aufwachte und geradewegs in die Küche ging und ein Fleischermesser packte (sie ist eine hervorragende Köchin), um es sich ins Herz zu stoßen. Das waren die Wechseljahre.“ Als Überlebende dieser Zeit im Leben einer Frau kann Ruefle von dem Geschenk für die Jahre, „die dann noch bleiben“, erzählen: dem Geschenk der Unsichtbarkeit, also der Freiheit, man selbst zu sein. Zu den Jüngeren sagt sie: „Du bist nur ein Mädchen, das Leben spielt.“
Mary Ruefle neigt zur Definition, formuliert Prinzipien und benennt auch klar, warum: „Wer eine Wahrheit verschläft, wird doch zum bitteren Ende bloß erwachen.“ Worum es aber eigentlich geht, hat sie damals im Museum von jenem Schrumpfkopf gelernt. Damals wurde ihr klar, was die Schule nicht lehrte, dass nämlich alles in jenem Museum „durch eine so niederträchtige und unsägliche Bosheit erworben war, dass unsere Köpfe es nicht fassen können und kein einziges Wort dafür haben“. Endlose „Wortkorridore“ müsse man bemühen „auf dieser unserer hoffnungslosen Suche nach einer innersten Kammer des Begreifens, die es nicht gibt“. Und so könnte man weiter zitieren, immer begeisterter von diesen erst so unscheinbaren Sätzen, die benennen, was ist. Und zwar so, wie man es noch nicht gelesen hat.
Ihre nicht wenigen prominenten
Verehrer eint etwas, das man
freudige Ehrfurcht nennen könnte
Clemens J. Setz bewundert
ihr „nie abreißendes Staunen
über die Schöpfung“
Mary Ruefle: Mein Privatbesitz. Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 127 Seiten, 18 Euro.
„Wie eine Frau, die undepressivste, optimistischste, zuversichtlichste Frau, die ich kenne, eines Morgens a
ufwachte und geradewegs in die Küche ging und ein Fleischermesser packte (sie ist eine hervorragende Köchin),
um es sich ins Herz zu stoßen. Das waren die Wechseljahre.“ – Mary Ruefle. Foto: Matt Valentine/Suhrkamp Verlag
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
eine Wahrheit
verschläft
Sätze, die benennen, was ist. Und
zwar so, wie man es noch nicht gelesen hat:
Mary Ruefle ist die Königin der kurzen
und kuriosen Literatur
VON INSA WILKE
Es ist doch wirklich traurig, dass heutzutage niemand an der Kunst des Kopfschrumpfens Interesse zeigt“, schreibt die amerikanische Dichterin Mary Ruefle, die gerade 70 Jahre alt geworden ist. Da muss man sich erst mal kurz reindenken. Das Prosastück, das so beginnt, heißt „Mein Privatbesitz“. Es handelt von einem Mädchen, das sich in einem Kolonialmuseum in einen Schrumpfkopf verliebt, während es in der Schule sein sollte. Es scheint dabei um die grundsätzliche Freiheit und den Trost zu gehen, den zwölf „wie frisch gelegte Eier in einer Schachtel“ liegende nach allen Regeln der Kunst geschrumpfte Köpfe vermitteln können.
Eine andere Überlegung von Mary Ruefle, diesmal aus der Prosa-Miniatur „Schnee“: „Ich wäre gern im Klassenzimmer – ich bin Lehrerin – würde mein Buch zuklappen, aufstehen, sagen ‚Es schneit, ich muss jetzt los, um Sex zu haben, auf Wiedersehen‘, und aus dem Zimmer gehen.“ „Schnee“ wurde wie der nach dem oben zitierten Text benannte Suhrkamp-Band „Mein Privatbesitz“ von Esther Kinsky übersetzt, steht allerdings in Norbert Wehrs Schreibheft.
Die Nr. 97 der Essener Literaturzeitschrift widmete Ruefle jüngst einen Schwerpunkt und stellte sie erstmals auf Deutsch vor. Wie üblich für das Schreibheft wird ein kompakter Eindruck durch Gespräche mit der Autorin und eine querschnittartige Auswahl ihres Werkes vermittelt. In Ruefles Fall: Gedichte, Kurzprosa, Ausschnitte ihrer Erasure-Bücher, von denen es 99 an der Zahl geben soll, und ihre sehr kurzen Kurzvorlesungen. Deutende Kommentare von Leuten wie Clemens J. Setz erweitern das Bild.
Der Suhrkamp-Band liefert dagegen keinerlei einordnende Texte mit. Das entspricht Ruefle zwar, wie man aus einem der Schreibheft-Gespräche wissen kann. Da erzählt sie, wie sie vor den Regalen eines Buchladens stand und bemerkte, dass es weit mehr Bücher über Gedichte gab als Gedichtbände. „Ich habe dagestanden und die Regale angestarrt. Sie stellten etwas unter Beweis, das mich bestürzte.“ Keine Freundin des Paratextes und der Sekundärliteratur also. Auch der „Genre Wars“ sei sie müde.
Nichtsdestotrotz könnte bei flüchtiger Lektüre von „Mein Privatbesitz“ und ohne das Wissen, das einem das Schreibheft durch seine editorische Panorama-Kunst liefert, das Missverständnis entstehen, Ruefle sei einfach nur eine skurrile Person. Eine Dichterin, die im Bundesstaat Vermont eigensinnig in einer Kleinstadt sitze und von hier ihre immer noch mit der Hand geschriebenen kleinen Texte wie Glühwürmchen in die Welt schicke, wo sie aber nicht ankommen, denn Glühwürmchen entwickeln sich langsam und leuchten nur kurz. Schon gar nichts also für lange Strecken über den Atlantik nach Mitteleuropa.
Das Schreibheft revidiert diesen Eindruck durch den Chor der Stimmen, den Norbert Wehr um Ruefles Texte organisiert: Neben Esther Kinsky wird Ruefle hier von anderen Protagonistinnen der hiesigen Lyrikszene übersetzt: Norbert Lange, Anja Utler, Sonja vom Brocke. Allen meint man zwischen den Zeilen ihrer Arbeit eine einverständige Innigkeit anzumerken. Nicht fern von dem innigen Einverständnis, das Mary Ruefle wiederum mit ihren Schrumpfköpfen verbindet.
Sieht man sich im Netz Videos von ihren Auftritten an, fällt auch dort die freudige Ehrfurcht auf, mit der die Dichterin überall in den USA begrüßt wird. Rührt sie daher, dass Ruefle so neugierig darauf ist, „was eine beliebige Oberfläche tief unter sich begraben hält“? Und dass diese Neugier an sich schon so selten ist und noch seltener einen in Wortwahl und in den logischen Strukturen so irritierenden sprachlichen Ausdruck findet? Wird Ruefle bewundert, weil sie sucht, gräbt, plündert und entdeckt, wie es in „Schnee“ heißt, dabei ebenso gnadenlos wie unerschrocken vorgehend, völlig unsentimental Wesen und Dingen zugewandt? „Ich hasste Kindsein / Ich hasse Erwachsensein / Und ich liebe Lebendigsein“ endet das Gedicht „Herkunft“. Sagt das nicht (fast) alles?
Clemens J. Setz schreibt: „Was mich in Mary Ruefles Werk so tief berührt, (…) ist ihr von einer Poesie der offensichtlichen Tatsachen durchstrahltes, nie abreißendes Staunen über die Schöpfung.“ Es lässt sich an der Sprache zeigen, was das meint. Esther Kinsky hat es im Deutschen herausgearbeitet: Da will ein kleiner Baum sein „Sterbchen“ machen (als sei das nur ein Bäuerchen), malträtiert vom gefräßigen „Vierbeinerigen“ (in dem die „Gier“ steckt). „Erdbaumaschinen“ und nicht „schweres Gerät“ graben den Boden um, in dem Ruefle mit ihrem anthropologischen Interesse beobachtet, wie Tote analog zum Müll behandelt werden, eingepackt in „Begräbniskisten“ und nicht in „Särge“. Lauter kleine, aber vielsagende Verschiebungen der Wahrnehmung durch sprachliche Abweichungen. Und erst die Partikel, Konjunktionen und Adverben: Wie endgültig ein „und“ bei Ruefle in Kinskys Übersetzung klingt, wenn es in dem Prosastück „Glück gehabt“ den Reigen der Widerspruchskonjunktion „doch“ beendet: „doch das geschah nicht (…) und als ich erwachte, war ich nackt wie ein Baby und allein und hatte Angst.“
Das Staunen, das Clemens J. Setz erwähnt, darf man sich aber keineswegs kindlich vorstellen. Es hat andere Facetten. Zum einen ein tiefes Unverständnis den Unempfindlichen gegenüber. Im Gespräch mit Daniel Levin Becker äußert sich Ruefle über die Marketing-Maschen der Kunstindustrie: „Eine Frida-Kahlo-Brieftasche betrachte ich als Hohn. Die Menschen, die Alltagsgegenstände entwerfen – eine Tasse, einen Kissenbezug – und das Gesicht eines Menschen darauf abbilden, der so gelitten hat wie Kahlo: Woran sonst als an Geld können sie denken?“
Zum anderen klingt in vielen Texten die Wut mit, dass „echtem Gefühl“ und der wirklichen Wahrheit mit Desinteresse begegnet wird, aus purer Bequemlichkeit. Eine schöne Steigerung in dieser Hinsicht bietet der Essay „Die Pause“. Wenn es um die Wechseljahre gehe, wolle sie nicht wie andere von Hitzewallungen reden, schreibt Ruefle: „Wie eine Frau, die undepressivste, optimistischste, zuversichtlichste Frau, die ich kenne, eines Morgens aufwachte und geradewegs in die Küche ging und ein Fleischermesser packte (sie ist eine hervorragende Köchin), um es sich ins Herz zu stoßen. Das waren die Wechseljahre.“ Als Überlebende dieser Zeit im Leben einer Frau kann Ruefle von dem Geschenk für die Jahre, „die dann noch bleiben“, erzählen: dem Geschenk der Unsichtbarkeit, also der Freiheit, man selbst zu sein. Zu den Jüngeren sagt sie: „Du bist nur ein Mädchen, das Leben spielt.“
Mary Ruefle neigt zur Definition, formuliert Prinzipien und benennt auch klar, warum: „Wer eine Wahrheit verschläft, wird doch zum bitteren Ende bloß erwachen.“ Worum es aber eigentlich geht, hat sie damals im Museum von jenem Schrumpfkopf gelernt. Damals wurde ihr klar, was die Schule nicht lehrte, dass nämlich alles in jenem Museum „durch eine so niederträchtige und unsägliche Bosheit erworben war, dass unsere Köpfe es nicht fassen können und kein einziges Wort dafür haben“. Endlose „Wortkorridore“ müsse man bemühen „auf dieser unserer hoffnungslosen Suche nach einer innersten Kammer des Begreifens, die es nicht gibt“. Und so könnte man weiter zitieren, immer begeisterter von diesen erst so unscheinbaren Sätzen, die benennen, was ist. Und zwar so, wie man es noch nicht gelesen hat.
Ihre nicht wenigen prominenten
Verehrer eint etwas, das man
freudige Ehrfurcht nennen könnte
Clemens J. Setz bewundert
ihr „nie abreißendes Staunen
über die Schöpfung“
Mary Ruefle: Mein Privatbesitz. Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 127 Seiten, 18 Euro.
„Wie eine Frau, die undepressivste, optimistischste, zuversichtlichste Frau, die ich kenne, eines Morgens a
ufwachte und geradewegs in die Küche ging und ein Fleischermesser packte (sie ist eine hervorragende Köchin),
um es sich ins Herz zu stoßen. Das waren die Wechseljahre.“ – Mary Ruefle. Foto: Matt Valentine/Suhrkamp Verlag
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