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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Nino Haratischwili hat mit "Mein sanfter Zwilling" einen Roman in bester Cocteau-Manier geschrieben - Albtraum und Rausch in einem.
Von Anja Hirsch
Gute Dramen beginnen damit, dass jemand kommt, alles durcheinanderbringt und dann wieder geht. Ein Inspektor, ein Verwandter oder ein ehemaliger Geliebter. Das Erscheinen einer Figur ist ein so klassischer, wirkungsvoller Theatertrick wie das Nichterscheinen einer Figur. Und das muss nicht nur deshalb bemerkt werden, weil die in Georgien aufgewachsene, seit 2003 in Deutschland wohnende Nino Haratischwili, Jahrgang 1984, schon vierzehn uraufgeführte Theaterstücke geschrieben und deshalb genau dafür einen Blick hat. Es muss bemerkt werden, weil man sonst Gefahr läuft, ihren zweiten Roman in seiner kompositorischen Anlage zu unterschätzen.
"Mein sanfter Zwilling" erzählt von Stella und Ivo, die sich seit der Kindheit kennen. Ivos plötzliches Erscheinen ist wie ein Donnerschlag, der alle anderen Figuren dieses Romans gewaltig durchrütteln wird. Stella führt seit einigen Jahren eine leidenschaftslose Ehe in Hamburg mit einem freundlichen, verständnisvollen Ehemann, "Einzelkind von Akademikern", der in Stellas Augen "alles richtig gemacht" hat und hochkarätige Dokumentarfilme dreht. Er ist ehrlich und hat ein Wertesystem, das auch Stella trägt, die als Journalistin arbeitet, täglich stramm aufgespannt zwischen Schreiben und Kind. Sogar als Vater vom gemeinsamen Sohn Tom ist ihr Mann wunderbar, sein Körper gar "narbenlos". Kann man neben einem solchen Partner bestehen?
Nicht jedenfalls, als Ivo nach sieben Jahren Funkstille plötzlich wieder in Hamburg ist. Ivo ist aufregend. Er kennt "kein Gestern und Morgen" und verbreitet dieses Gefühl der Gegenwart, das Stella vielleicht selbst gerne hätte, aber nicht hat, weil sie den Alltag oder die Zukunft planen muss. Die Vergangenheit hatte sie ganz ordentlich weggepackt, für eine Weile funktioniert das gut. Jetzt aber will selbst Ivo nicht mehr nur von Moment zu Moment taumeln, sondern mit Hilfe von Stellas Gedächtnis die frühen gemeinsamen Jahre nacharbeiten. Heftige Jahre, mit viel Schmerz, Sehnsucht, später auch Drogen; ein Kapitel, über welches die ganze Familie in gemeinsamem Einverständnis einen Schleier gelegt hatte.
Die Kinderliebe beginnt, als Stellas Vater die Sechsjährige zum ersten Mal mitnimmt zu seinen Treffen mit Emma, seiner Geliebten. Sie wohnt in einem Häuschen mit Garten nahe dem Hamburger Hafen. Hier, eingehüllt vom salzigen Geruch des Meers und dem lauten Hupen der Frachtschiffe, lernt Stella Emmas Sohn Ivo kennen, einen eigensinnigen Jungen, der bestimmend sein Territorium einnimmt. Er durchschaut das Verhältnis der Erwachsenen. Eine Bürde, die sich leichter trägt, wenn man sie teilt, in diesem Falle mit der kleinen neuen Freundin.
Zu diesem Zeitpunkt zeigt der Roman nur Schnappschüsse, die noch keine Geschichte ergeben: Ivos Mutter, erschossen neben ihrem Hund; Ivos Vater als Täter im Gefängnis. Nino Haratischwili ist eine Meisterin im Zurückhalten von Informationen, die sie im Gleichschritt erst mit der sich neu entspinnenden Beziehung nachträgt. Sie lässt Stella ganz allein erzählen; launisch, gekränkt, verzweifelt, dann wieder so reflektiert, dass man ihr zutraut, in dieser über sie hereinbrechenden Lebenskrise "das Richtige" zu tun. Ihr Hin- und-hergerissen-Sein dramatisiert diesen Stoff, dunkelt ihn ein und hellt ihn wieder auf, bis er am Ende durch die vielen Worte leicht geworden zu sein scheint. So wie lange zurückliegende Liebesbeziehungen leicht werden, wenn man sie nacherzählt.
Ivo, so erfährt man, kam nach dem Drama in Stellas Familie, auch diese längst keine klassische Familie mehr - die Mutter wohnt inzwischen in Amerika, der Vater trinkt, die Kinder übernehmen eine Verantwortung, die sie nicht tragen können. "Mein sanfter Zwilling" hat freilich nicht die kalte Magie wie etwa Jean Cocteaus "Kinder der Nacht", aber es erwächst in seinen besten Teilen aus dem gleichen Gewebe. Wie Albtraum und Rausch gleichermaßen steigt in Stella diese einbalsamierte Zeit hoch, in der sie mit Ivo eine separate Welt erschuf, abgeschirmt von den Erwachsenen, die sie dankbar gewähren lassen: Stella nämlich ist die Einzige, die Ivo, der in der neuen Umgebung das Sprechen verweigert, versteht. Sie vermittelt nach beiden Seiten. Sie weint sogar für Ivo, als er hinfällt und eine Wunde hat, so tief geht ihre Bereitschaft, seine Gefühle zu übersetzen. Die verschiedenen Zeitebenen, auch die weit zurückliegenden, wirken alle erstaunlich präsent. Und so wird immer deutlicher die große Trauer spürbar, die das Fundament dieser komplizierten Beziehung zwischen Stella und Ivo bildet, einer stationsreichen Liebe, die "keiner Kategorie" angehört und die doch ums Überleben kämpft. Streckenweise übernimmt das auch der Text, wahrscheinlich der Grund dafür, warum vor dem Liebestod in szenischen Endlosspiralen ein neuer Komplex eröffnet wird: der Kaukasus-Konflikt. Stella, sich ihrer Abhängigkeit von Ivo bewusst, verlässt Mann und Kind und reist ihm dorthin nach, in eine andere, spiegelgleiche, traumatische Familiengeschichte, die sie ihm dort zu recherchieren hilft. Manchmal hilft es, den Standort zu wechseln. Der "kranke Kosmos" Georgien, das postkommunistisch brach liegt und von Krieg schmerzzerfurcht ist, zieht dem Roman eine brutale Wirklichkeit ein. Er relativiert und ergänzt Stella und Ivos Geschichte, die erst nach und nach ihre tragischen Konstanten entblättert.
Dem Bau nach folgt Nino Haratischwilis Roman Maßstäben antiker Dramen. Und das ist ein gutes Gegengewicht zur manchmal flanierenden, zu wenig beunruhigenden Sprache, die wie gespalten scheint in gute, ernsthaft die verschiedenen Farben der Liebe ergründende Passagen und fahrigere, gefühlsüberladene Stellen. Im großen Verlauf schmilzt das Bedauern darüber weg. Nino Haratischwili hat einen Roman geschrieben, der viel wagt und manchmal zu viel verpackt, aber mitzuziehen weiß.
Nino Haratischwili: "Mein sanfter Zwilling". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2011. 379 S., geb., 22,90 [Euro].
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