"Wie hier der Himmel aufgerissen wird, schweigend und zerspleißend zugleich wie Seide, wenn die Vögel im Naturschutzgebiet des Rantumer Beckens ihn schneiden: das gibt es nur hier." Fritz J. Raddatz ist diesem Ort verfallen: Mein Sylt ist die Liebeserklärung des leidenschaftlichen Unruhestifters an seine Insel, die ihm ein sich ständig erneuerndes Wunder ist – ebenso theatralisch und rauschhaft wie einsam, verwunschen und giftig. Fritz J. Raddatz' Sylt beginnt genau fünf Gehminuten von Kampens Whiskymeile entfernt. Fernab des Luxusrummels flaniert er durch die Dünen, erinnert sich an Begegnungen mit Rudolf Augstein, Hubert Fichte oder Barkeeper Karlchen und führt mit Esprit und Eleganz durch die Geschichte seiner Insel, die ihn mit ihrer Mischung aus südlichem Glast und nördlichem Starrsinn in ihren Bann geschlagen hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2006Irgendein Licht fällt auf ihn
Seine Freunde, seine Essays, sein Sylt: Anfang September wird er 75, zu lesen gibt es schon jetzt viel Neues von und über Fritz J. Raddatz
Er ist in diesen Wochen überall. Der Mann, von dem alle sagen, wie leidenschaftlich gern er Porsche fahre; dem trotz antibürgerlicher Wut der Glamour der Großbürgerlichkeit zusagt, der einen eigenen Kleidungsstil begründet hat und in den erstaunlichsten Farbkombinationen zu sehen ist und der - vor allem - zu Hause in Hamburg, auf seinem Sofa, die gesamte deutsche Literaturgeschichte der Nachkriegszeit versammelt hat. Fritz J. Raddatz, ehemals Cheflektor beim Ost-Berliner Verlag Volk und Welt, bei Rowohlt, später Feuilleton-Chef der "Zeit", wird am 3. September 75 Jahre alt. Die Party hat schon begonnen, und als überschwenglicher Gastgeber weiß er sie gekonnt zu inszenieren: Fritz J. Raddatz, Autor, Sammler, Lebenskünstler, feiert sich - um sich feiern zu lassen.
Anders jedenfalls ist es nicht zu erklären, daß pünktlich zum Geburtstag gleich mehrere "Effjot"-Bücher erscheinen, darunter ein Band über seine Lieblingsinsel Sylt sowie eine Essay-Sammlung; und daß das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe für Ende August eine Art Raddatz-Selbstausstellung ankündigt, die er im exklusiven Rahmen auch eigens eröffnen wird. Ein Mann von kettensprengender Eitelkeit? Ganz offensichtlich ja. Doch ist das kein Grund, sich gleich abzuwenden. Raddatz' wilde Selbstverliebtheit - wer seine Autobiographie "Unruhestifter" gelesen hat, weiß das - ist, aus der Distanz und nur aus der Lektüre beobachtet, so ungebrochen, sein Mitteilungsbedürfnis so ausgeprägt, daß er nicht einmal darum bemüht ist, sich selbst zu schonen. Fritz J. Raddatz packt aus, schamlos, auch die Niederlagen. Er gehört nicht zu denen, die sich um alles in der Welt in schmeichelhaftem Licht sehen wollen; sein Himmel darf schmutzig, er darf auch düster sein - Hauptsache, irgendein Licht fällt auf ihn. So nimmt er in Kauf, als "Fritzchen" gelegentlich völlig schutzlos dazustehen: verraten, verlassen, mißbraucht.
Boxkampf mit Johnson.
Im "Unruhestifter", das zugleich auch eine Geschichte des kulturellen Lebens der frühen DDR und der Bundesrepublik ist, sind die eindrücklichsten Passagen deshalb jene, die die Einsamkeit eines Mannes aufscheinen lassen, der sich doch immerzu in illustrester Gesellschaft weiß; der also vor allem auch eine Menge Spaß hat, wenn zum Beispiel Uwe Johnson 1964 im Hause Raddatz James Baldwin anschreit, er sei kein Schriftsteller, woraufhin Rowohlt-Ledigs Ehefrau Jane schlichtend eingreifen will, Johnson sie aber aufs Sofa boxt, "so daß ihr überreicher Schmuck von ihr abfällt wie Kugeln vom Weihnachtsbaum". Raddatz kannte sie alle, die großen deutschen Schriftsteller. Viele kennt er noch. Er rang um ihre Freundschaft, gab alles. Enttäuschungen, daraus macht er kein Hehl, blieben ihm dabei nicht erspart. Kann man, das ist eine der Fragen, die sich durch die Autobiographie ziehen, kann man als Verleger oder Kritiker mit einem Schriftsteller befreundet sein? Man kann es, ja, seine Freundschaft zu Günter Grass spricht da für sich. In anderen Fällen aber hadert er, "wähnt" sich eher befreundet. Sicher ist er sich nicht.
Wenn zu Raddatz' Geburtstag bei Suhrkamp jetzt sein Briefwechsel mit Uwe Johnson erscheint - zwei Briefschreiber, die unterschiedlicher gar nicht sein könnten: Johnson streng moralisch, verschwiegen, Raddatz über die Maßen offenherzig, beinahe zügellos -, dann ist sie wieder da, die Frage nach der Möglichkeit einer solchen Freundschaft. Sie ist das beherrschende Thema der Korrespondenz, die sieben Jahre, nachdem beide sich kennengelernt hatten, begann, als Johnson 1966 bis 1968 in New York lebte. Begegnet waren sie sich durch, wie Johnson das nannte, Hans Werner Richters "Begabung, Gruppen zu bilden". Beide waren 1959 bei der Tagung der Gruppe 47 auf Schloß Elmau gewesen. Und die Gruppen, der Kulturbetrieb, das Verlagsgeschäft, die Feuilletons, kurz: die ganze große Gerüchteküche, blieben auch der Rahmen, der ihr Verhältnis absteckte. Als Johnson starb, mußte Raddatz mit den übriggebliebenen Gerüchten allein klarkommen und sich, nachdem er ihm in der "Zeit" einen Nachruf geschrieben hatte, vorwerfen lassen, sich mit einer Freundschaft "zu brüsten", obwohl diese ihm "in einem bitterbösen Brief aufgekündigt worden war". Der Briefwechsel gibt jetzt Antwort auch auf diese Vorwürfe und stellt einiges klar. Völlig unfaßbar nach wie vor, was nach Johnsons Tod alles für schmutzige Wäsche gewaschen wurde. Das selbstbezügliche Gerede, das den Pulsschlag des kulturellen Lebens vorgibt, raubt einem ja heute oft die Nerven. Vor zwanzig Jahren waren da aber noch ganz andere Sachen los.
Kaum nämlich war Uwe Johnson 1984 gestorben - man fand ihn in seinem Haus in England, in Sheerness-on-Sea, wo er neunzehn Tage lang tot gelegen hatte, ohne daß es jemand bemerkte, seine Frau und seine Tochter wohnten länger schon nicht mehr bei ihm; kaum also war sein Haus versiegelt, stieg der damalige "Stern"-Redakteur Tilman Jens, Sohn des Rhetorik-Professors Walter Jens, durch ein Fenster ein, um den sensationellen letzten Hauch des Autorentods zu atmen. Er fand "die Reste eines kärglichen Frühstücks" und ein "Glas mit roten Rändern", von dem er allen Ernstes behauptete, daß es "in jener Nacht" voll gewesen und sein Inhalt in den neunzehn Tagen "verdunstet" sein mußte. Und er fand Schriftstücke, die er kurzerhand mitnahm, darunter einen gnadenlosen Brief von Johnson an Raddatz, den Jens offenbar an Hellmuth Karasek weitergab. Karasek wiederum veröffentlichte ihn im "Spiegel", um mit dem Nachrufschreiber Raddatz abzurechnen. Dabei verteidigte er die Johnson-Reportage von Tilman Jens als "einfühlsam-respektvoll". Jens flog beim "Stern" raus - laut eigener Aussage angeblich "einvernehmlich und ausschließlich aus privaten Gründen".
Irre Begleitumstände.
Johnsons unerbittlicher Brief vom 19. August 1978 an Raddatz, der für soviel Aufsehen sorgte, steht nun am Ende dieses Briefwechsels, und er ist aus der Abfolge der vorangehenden Briefe tatsächlich überhaupt auch erst richtig zu verstehen. "Sehr geehrter Herr Raddatz", redet Johnson ihn fünf Jahre später in einem einzigen noch später datierten Brief an, was die enorme Distanz nach dem Bruch deutlich macht. Über Jahre hinweg hatten sich die beiden - nicht ohne eine gewisse Herablassung von Johnsons Seite - mit "Liebes Fritzchen" und "Lieber Groß-Uwe" angeredet. Das war auch liebevoll, wirkt aber extrem angestrengt, vor allem dann, wenn das "Fritzchen" in der dritten Person von sich selbst als "Fritzchen" spricht ("nein, nein, das mimosenfritzchen ist nicht etwa wieder mal über irgendwas uwe'sches eingeschnappt"). Das ist einfach zuviel.
Der Bruch kam, als Johnson einen Anruf von Unseld erhielt, den Nachfragen erreicht hatten, ob Johnson und seine Familie wirklich getrennt lebten. "Die Sache kommt aus Hamburg", protokollierte Johnson in seinen Kalender, "alle berufen sich auf RADDATZ, ENZENSBERGER muss es von ihm haben." Er reagierte harsch: "Der Diskretion, die einem Verehrer Tucholskys angestanden hätte, zogen Sie eine undelikate Gerüchtemacherei vor", schrieb er an Raddatz, warf ihm "unmanierliche Klatschsucht" und, was traf, "Illoyalität, westdeutsche Spielart" vor. Raddatz wies das zurück, doch spielte es für Johnson da schon keine Rolle mehr, wer wem was erzählt hatte. Er sah sich in einer Zwangslage, mußte dafür sorgen, daß zumindest der Freundeskreis von der Trennung erfuhr. Der Gebrauch vorgedruckter "divorce / seperation cards, wie sie hier im Handel sind", sei ihm ja verwehrt, schrieb er Unseld am 19. August 1978 aus Sheerness.
Johnson war nicht zum ersten Mal außer sich. Er hatte in seinen Raddatz-Briefen im Lauf der Jahre ein Mißtrauensvotum nach dem anderen gestellt. Und dieses Mißtrauen, das Ringen um Freundschaft, der Versuch, üble Nachrede zu kontrollieren, macht diesen Briefwechsel überhaupt so interessant. Sie schrieben einander natürlich auch über anderes: Johnson hat Bücherwünsche, schickt einen langen Bericht über sein Verhältnis zur Gruppe 47 oder beschreibt Raddatz lustig genau, wie er nach Sheerness kommt: "in manchen englischen Zügen kann man die Türen nicht von innen aufmachen, sondern muss das Fenster in der Tür hinunterlassen und nach außen greifend die Klinke drehen, wenn man aussteigen will. In Sittingbourne wollen Sie umsteigen." Raddatz wiederum erzählt von sich, fragt nach Beiträgen und nach den "Jahrestagen".
Warum diese Schärfe?
Von Beginn an ist aber auch dieser johnsonspezifische Argwohn da, haben beide unaufhörlich den Wahrheitsgehalt irgendwelcher Gerüchte zu klären, aus Hamburg, Frankfurt, München oder eben solcher, die, wie Johnson spöttisch schreibt, "Dr. Enzensberger offenbar am Straßenrand findet". Mit maliziösem Spaß verbreitet Johnson selbst ein Gerücht, um zu gucken, wie schnell es über den Atlantik zurückkommt - nach drei Wochen ist es wieder da. Und er macht "Fritzchen" immer wieder Vorwürfe, auf die "Fritzchen" jedes Mal bestürzt reagiert: "Was Sie doch für ein Rasiermesserbegriff von Freundschaft haben; jedenfalls wähne ich uns doch befreundet? Aber warum eigentlich, immer wieder mal, diese Schärfe?"
Sie hätten sich einfach nicht mehr melden, hätten voneinander lassen könnten. Aber sie machten weiter - was die Frage, ob sie denn nun wirklich befreundet gewesen seien, ganz von selbst beantwortet. Die Briefe gleichen einem andauernden Ringen, sich im Lärm der "Urwaldtrommel des Literaturklatsches" eine aufrichtige Stimme zu bewahren. Es endet im Eklat. Johnson "verschneckt" sich immer mehr in England - Raddatz' Mitteilungsbedürfnis ist in alle Richtungen hin ungebrochen. Vor allem ist die "Urwaldtrommel" lauter als sie.
Der, den Johnson "Fritzchen" nannte, trommelt auf seine energische Raddatz-Weise in eigenem Namen weiter. Er klingt dabei ein bißchen wehmütig, wenn er im neuen Essayband, "Schreiben heißt, sein Herz waschen", beklagt, daß die jüngste deutsche Literatur "völlig wirkungslos" sei und trotz "mächtiger Schallverstärker" gegen den "Hall der Alten" nicht ankomme. Die alten Zeiten waren nicht besser. Vor allem waren es auch die Zustände nicht. Man muß nur - staunend, manchmal angerührt und immer leicht befremdet - Raddatz lesen, um das zu wissen.
JULIA ENCKE.
"Uwe Johnson - Fritz J. Raddatz. Der Briefwechsel". Herausgegeben von Erdmut Wizisla. Suhrkamp-Verlag. 340 S., 26,80 Euro.
Fritz J. Raddatz: "Mein Sylt". Marebuchverlag. 156 Seiten, 18 Euro.
Fritz J. Raddatz: "Schreiben heißt, sein Herz waschen". Literarische Essays. Zu-Klampen-Verlag. 252 Seiten, 18 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Seine Freunde, seine Essays, sein Sylt: Anfang September wird er 75, zu lesen gibt es schon jetzt viel Neues von und über Fritz J. Raddatz
Er ist in diesen Wochen überall. Der Mann, von dem alle sagen, wie leidenschaftlich gern er Porsche fahre; dem trotz antibürgerlicher Wut der Glamour der Großbürgerlichkeit zusagt, der einen eigenen Kleidungsstil begründet hat und in den erstaunlichsten Farbkombinationen zu sehen ist und der - vor allem - zu Hause in Hamburg, auf seinem Sofa, die gesamte deutsche Literaturgeschichte der Nachkriegszeit versammelt hat. Fritz J. Raddatz, ehemals Cheflektor beim Ost-Berliner Verlag Volk und Welt, bei Rowohlt, später Feuilleton-Chef der "Zeit", wird am 3. September 75 Jahre alt. Die Party hat schon begonnen, und als überschwenglicher Gastgeber weiß er sie gekonnt zu inszenieren: Fritz J. Raddatz, Autor, Sammler, Lebenskünstler, feiert sich - um sich feiern zu lassen.
Anders jedenfalls ist es nicht zu erklären, daß pünktlich zum Geburtstag gleich mehrere "Effjot"-Bücher erscheinen, darunter ein Band über seine Lieblingsinsel Sylt sowie eine Essay-Sammlung; und daß das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe für Ende August eine Art Raddatz-Selbstausstellung ankündigt, die er im exklusiven Rahmen auch eigens eröffnen wird. Ein Mann von kettensprengender Eitelkeit? Ganz offensichtlich ja. Doch ist das kein Grund, sich gleich abzuwenden. Raddatz' wilde Selbstverliebtheit - wer seine Autobiographie "Unruhestifter" gelesen hat, weiß das - ist, aus der Distanz und nur aus der Lektüre beobachtet, so ungebrochen, sein Mitteilungsbedürfnis so ausgeprägt, daß er nicht einmal darum bemüht ist, sich selbst zu schonen. Fritz J. Raddatz packt aus, schamlos, auch die Niederlagen. Er gehört nicht zu denen, die sich um alles in der Welt in schmeichelhaftem Licht sehen wollen; sein Himmel darf schmutzig, er darf auch düster sein - Hauptsache, irgendein Licht fällt auf ihn. So nimmt er in Kauf, als "Fritzchen" gelegentlich völlig schutzlos dazustehen: verraten, verlassen, mißbraucht.
Boxkampf mit Johnson.
Im "Unruhestifter", das zugleich auch eine Geschichte des kulturellen Lebens der frühen DDR und der Bundesrepublik ist, sind die eindrücklichsten Passagen deshalb jene, die die Einsamkeit eines Mannes aufscheinen lassen, der sich doch immerzu in illustrester Gesellschaft weiß; der also vor allem auch eine Menge Spaß hat, wenn zum Beispiel Uwe Johnson 1964 im Hause Raddatz James Baldwin anschreit, er sei kein Schriftsteller, woraufhin Rowohlt-Ledigs Ehefrau Jane schlichtend eingreifen will, Johnson sie aber aufs Sofa boxt, "so daß ihr überreicher Schmuck von ihr abfällt wie Kugeln vom Weihnachtsbaum". Raddatz kannte sie alle, die großen deutschen Schriftsteller. Viele kennt er noch. Er rang um ihre Freundschaft, gab alles. Enttäuschungen, daraus macht er kein Hehl, blieben ihm dabei nicht erspart. Kann man, das ist eine der Fragen, die sich durch die Autobiographie ziehen, kann man als Verleger oder Kritiker mit einem Schriftsteller befreundet sein? Man kann es, ja, seine Freundschaft zu Günter Grass spricht da für sich. In anderen Fällen aber hadert er, "wähnt" sich eher befreundet. Sicher ist er sich nicht.
Wenn zu Raddatz' Geburtstag bei Suhrkamp jetzt sein Briefwechsel mit Uwe Johnson erscheint - zwei Briefschreiber, die unterschiedlicher gar nicht sein könnten: Johnson streng moralisch, verschwiegen, Raddatz über die Maßen offenherzig, beinahe zügellos -, dann ist sie wieder da, die Frage nach der Möglichkeit einer solchen Freundschaft. Sie ist das beherrschende Thema der Korrespondenz, die sieben Jahre, nachdem beide sich kennengelernt hatten, begann, als Johnson 1966 bis 1968 in New York lebte. Begegnet waren sie sich durch, wie Johnson das nannte, Hans Werner Richters "Begabung, Gruppen zu bilden". Beide waren 1959 bei der Tagung der Gruppe 47 auf Schloß Elmau gewesen. Und die Gruppen, der Kulturbetrieb, das Verlagsgeschäft, die Feuilletons, kurz: die ganze große Gerüchteküche, blieben auch der Rahmen, der ihr Verhältnis absteckte. Als Johnson starb, mußte Raddatz mit den übriggebliebenen Gerüchten allein klarkommen und sich, nachdem er ihm in der "Zeit" einen Nachruf geschrieben hatte, vorwerfen lassen, sich mit einer Freundschaft "zu brüsten", obwohl diese ihm "in einem bitterbösen Brief aufgekündigt worden war". Der Briefwechsel gibt jetzt Antwort auch auf diese Vorwürfe und stellt einiges klar. Völlig unfaßbar nach wie vor, was nach Johnsons Tod alles für schmutzige Wäsche gewaschen wurde. Das selbstbezügliche Gerede, das den Pulsschlag des kulturellen Lebens vorgibt, raubt einem ja heute oft die Nerven. Vor zwanzig Jahren waren da aber noch ganz andere Sachen los.
Kaum nämlich war Uwe Johnson 1984 gestorben - man fand ihn in seinem Haus in England, in Sheerness-on-Sea, wo er neunzehn Tage lang tot gelegen hatte, ohne daß es jemand bemerkte, seine Frau und seine Tochter wohnten länger schon nicht mehr bei ihm; kaum also war sein Haus versiegelt, stieg der damalige "Stern"-Redakteur Tilman Jens, Sohn des Rhetorik-Professors Walter Jens, durch ein Fenster ein, um den sensationellen letzten Hauch des Autorentods zu atmen. Er fand "die Reste eines kärglichen Frühstücks" und ein "Glas mit roten Rändern", von dem er allen Ernstes behauptete, daß es "in jener Nacht" voll gewesen und sein Inhalt in den neunzehn Tagen "verdunstet" sein mußte. Und er fand Schriftstücke, die er kurzerhand mitnahm, darunter einen gnadenlosen Brief von Johnson an Raddatz, den Jens offenbar an Hellmuth Karasek weitergab. Karasek wiederum veröffentlichte ihn im "Spiegel", um mit dem Nachrufschreiber Raddatz abzurechnen. Dabei verteidigte er die Johnson-Reportage von Tilman Jens als "einfühlsam-respektvoll". Jens flog beim "Stern" raus - laut eigener Aussage angeblich "einvernehmlich und ausschließlich aus privaten Gründen".
Irre Begleitumstände.
Johnsons unerbittlicher Brief vom 19. August 1978 an Raddatz, der für soviel Aufsehen sorgte, steht nun am Ende dieses Briefwechsels, und er ist aus der Abfolge der vorangehenden Briefe tatsächlich überhaupt auch erst richtig zu verstehen. "Sehr geehrter Herr Raddatz", redet Johnson ihn fünf Jahre später in einem einzigen noch später datierten Brief an, was die enorme Distanz nach dem Bruch deutlich macht. Über Jahre hinweg hatten sich die beiden - nicht ohne eine gewisse Herablassung von Johnsons Seite - mit "Liebes Fritzchen" und "Lieber Groß-Uwe" angeredet. Das war auch liebevoll, wirkt aber extrem angestrengt, vor allem dann, wenn das "Fritzchen" in der dritten Person von sich selbst als "Fritzchen" spricht ("nein, nein, das mimosenfritzchen ist nicht etwa wieder mal über irgendwas uwe'sches eingeschnappt"). Das ist einfach zuviel.
Der Bruch kam, als Johnson einen Anruf von Unseld erhielt, den Nachfragen erreicht hatten, ob Johnson und seine Familie wirklich getrennt lebten. "Die Sache kommt aus Hamburg", protokollierte Johnson in seinen Kalender, "alle berufen sich auf RADDATZ, ENZENSBERGER muss es von ihm haben." Er reagierte harsch: "Der Diskretion, die einem Verehrer Tucholskys angestanden hätte, zogen Sie eine undelikate Gerüchtemacherei vor", schrieb er an Raddatz, warf ihm "unmanierliche Klatschsucht" und, was traf, "Illoyalität, westdeutsche Spielart" vor. Raddatz wies das zurück, doch spielte es für Johnson da schon keine Rolle mehr, wer wem was erzählt hatte. Er sah sich in einer Zwangslage, mußte dafür sorgen, daß zumindest der Freundeskreis von der Trennung erfuhr. Der Gebrauch vorgedruckter "divorce / seperation cards, wie sie hier im Handel sind", sei ihm ja verwehrt, schrieb er Unseld am 19. August 1978 aus Sheerness.
Johnson war nicht zum ersten Mal außer sich. Er hatte in seinen Raddatz-Briefen im Lauf der Jahre ein Mißtrauensvotum nach dem anderen gestellt. Und dieses Mißtrauen, das Ringen um Freundschaft, der Versuch, üble Nachrede zu kontrollieren, macht diesen Briefwechsel überhaupt so interessant. Sie schrieben einander natürlich auch über anderes: Johnson hat Bücherwünsche, schickt einen langen Bericht über sein Verhältnis zur Gruppe 47 oder beschreibt Raddatz lustig genau, wie er nach Sheerness kommt: "in manchen englischen Zügen kann man die Türen nicht von innen aufmachen, sondern muss das Fenster in der Tür hinunterlassen und nach außen greifend die Klinke drehen, wenn man aussteigen will. In Sittingbourne wollen Sie umsteigen." Raddatz wiederum erzählt von sich, fragt nach Beiträgen und nach den "Jahrestagen".
Warum diese Schärfe?
Von Beginn an ist aber auch dieser johnsonspezifische Argwohn da, haben beide unaufhörlich den Wahrheitsgehalt irgendwelcher Gerüchte zu klären, aus Hamburg, Frankfurt, München oder eben solcher, die, wie Johnson spöttisch schreibt, "Dr. Enzensberger offenbar am Straßenrand findet". Mit maliziösem Spaß verbreitet Johnson selbst ein Gerücht, um zu gucken, wie schnell es über den Atlantik zurückkommt - nach drei Wochen ist es wieder da. Und er macht "Fritzchen" immer wieder Vorwürfe, auf die "Fritzchen" jedes Mal bestürzt reagiert: "Was Sie doch für ein Rasiermesserbegriff von Freundschaft haben; jedenfalls wähne ich uns doch befreundet? Aber warum eigentlich, immer wieder mal, diese Schärfe?"
Sie hätten sich einfach nicht mehr melden, hätten voneinander lassen könnten. Aber sie machten weiter - was die Frage, ob sie denn nun wirklich befreundet gewesen seien, ganz von selbst beantwortet. Die Briefe gleichen einem andauernden Ringen, sich im Lärm der "Urwaldtrommel des Literaturklatsches" eine aufrichtige Stimme zu bewahren. Es endet im Eklat. Johnson "verschneckt" sich immer mehr in England - Raddatz' Mitteilungsbedürfnis ist in alle Richtungen hin ungebrochen. Vor allem ist die "Urwaldtrommel" lauter als sie.
Der, den Johnson "Fritzchen" nannte, trommelt auf seine energische Raddatz-Weise in eigenem Namen weiter. Er klingt dabei ein bißchen wehmütig, wenn er im neuen Essayband, "Schreiben heißt, sein Herz waschen", beklagt, daß die jüngste deutsche Literatur "völlig wirkungslos" sei und trotz "mächtiger Schallverstärker" gegen den "Hall der Alten" nicht ankomme. Die alten Zeiten waren nicht besser. Vor allem waren es auch die Zustände nicht. Man muß nur - staunend, manchmal angerührt und immer leicht befremdet - Raddatz lesen, um das zu wissen.
JULIA ENCKE.
"Uwe Johnson - Fritz J. Raddatz. Der Briefwechsel". Herausgegeben von Erdmut Wizisla. Suhrkamp-Verlag. 340 S., 26,80 Euro.
Fritz J. Raddatz: "Mein Sylt". Marebuchverlag. 156 Seiten, 18 Euro.
Fritz J. Raddatz: "Schreiben heißt, sein Herz waschen". Literarische Essays. Zu-Klampen-Verlag. 252 Seiten, 18 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.07.2007Düne auf, Düne ab
Der empfindsame Kritiker: Fritz J. Raddatz besingt sein Sylt
Der Feuilletonist, Literaturkritiker und Schriftsteller Fritz J. Raddatz, langjähriger stellvertretender Leiter des Rowohlt-Verlags und ehemaliger Feuilletonchef der Wochenzeitung Die Zeit, sucht manchmal Entspannung in der Natur. Aber am liebsten so, dass gleich hinter der nächsten Düne die Gesellschaft erreichbar bleibt. In „Mein Sylt” flaniert er durch die wildromantische Natur der Insel, erinnert sich in der Einsamkeit an vergangene Begegnungen mit Rudolf Augstein, Hubert Fichte und dem Barkeeper Karlchen und führt ganz nebenbei den Leser durch die Geschichte Sylts.
Im Duktus mal fröhlich heiter, mal melancholisch wehmütig, mal bissig sarkastisch webt Raddatz einen bunten Teppich aus historischen Fakten, persönlichen Erinnerungen und Anekdoten sowie literarischen Zeugnissen berühmter Schriftstellerkollegen wie Thomas Mann, Kurt Tucholsky oder Max Frisch, die wie er der Insel verfallen waren. Denn in erster Linie ist „Mein Sylt” ein kleines Denkmal, eine Liebeserklärung des selbsternannten „Unruhestifters” an seine Insel. Es ist keine soeben entflammte Leidenschaft, die Raddatz mit Sylt verbindet, sondern eine langjährige Passion.
Die Insel, deren Silhouette an die Momentaufnahme einer Tänzerin erinnert, die auf Zehenspitzen stehend, den Kopf nach hinten geworfen, mit wehendem Kleid gerade im Moment des Sich-Drehens inbegriffen zu sein scheint, bewundert er als „Mischung aus südlichem Glast und nördlicher Störrischkeit”. Hier hat der spitzzüngige Kritiker und Polemiker Urlaub. Er ist mit von der Partie, aber nicht die Hauptfigur. Und der Gesellschaftsmensch und Bonvivant lässt die Gesellschaft hinter der Düne. Auf seinen Spaziergängen tritt ein empfindsamer Naturbetrachter aus dem Kritiker heraus, der die „kleinen Wunder” seines „Juwels” besingt und immer neue, zärtlichere Worte für seine Insel findet. Poetisch sind auch die Schwarz-Weiß-Bilder der Fotografin Karin Székessy, die den Text von Raddatz begleiten. REGINE LEITENSTERN
FRITZ J. RADDATZ: Mein Sylt. Marebuchverlag, Hamburg 2006. 156 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Der empfindsame Kritiker: Fritz J. Raddatz besingt sein Sylt
Der Feuilletonist, Literaturkritiker und Schriftsteller Fritz J. Raddatz, langjähriger stellvertretender Leiter des Rowohlt-Verlags und ehemaliger Feuilletonchef der Wochenzeitung Die Zeit, sucht manchmal Entspannung in der Natur. Aber am liebsten so, dass gleich hinter der nächsten Düne die Gesellschaft erreichbar bleibt. In „Mein Sylt” flaniert er durch die wildromantische Natur der Insel, erinnert sich in der Einsamkeit an vergangene Begegnungen mit Rudolf Augstein, Hubert Fichte und dem Barkeeper Karlchen und führt ganz nebenbei den Leser durch die Geschichte Sylts.
Im Duktus mal fröhlich heiter, mal melancholisch wehmütig, mal bissig sarkastisch webt Raddatz einen bunten Teppich aus historischen Fakten, persönlichen Erinnerungen und Anekdoten sowie literarischen Zeugnissen berühmter Schriftstellerkollegen wie Thomas Mann, Kurt Tucholsky oder Max Frisch, die wie er der Insel verfallen waren. Denn in erster Linie ist „Mein Sylt” ein kleines Denkmal, eine Liebeserklärung des selbsternannten „Unruhestifters” an seine Insel. Es ist keine soeben entflammte Leidenschaft, die Raddatz mit Sylt verbindet, sondern eine langjährige Passion.
Die Insel, deren Silhouette an die Momentaufnahme einer Tänzerin erinnert, die auf Zehenspitzen stehend, den Kopf nach hinten geworfen, mit wehendem Kleid gerade im Moment des Sich-Drehens inbegriffen zu sein scheint, bewundert er als „Mischung aus südlichem Glast und nördlicher Störrischkeit”. Hier hat der spitzzüngige Kritiker und Polemiker Urlaub. Er ist mit von der Partie, aber nicht die Hauptfigur. Und der Gesellschaftsmensch und Bonvivant lässt die Gesellschaft hinter der Düne. Auf seinen Spaziergängen tritt ein empfindsamer Naturbetrachter aus dem Kritiker heraus, der die „kleinen Wunder” seines „Juwels” besingt und immer neue, zärtlichere Worte für seine Insel findet. Poetisch sind auch die Schwarz-Weiß-Bilder der Fotografin Karin Székessy, die den Text von Raddatz begleiten. REGINE LEITENSTERN
FRITZ J. RADDATZ: Mein Sylt. Marebuchverlag, Hamburg 2006. 156 Seiten, 18 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gut gefallen hat Rezensent Wolfgang Schneider dieses Buch von Fritz J. Raddatz über Sylt, die Liebelingsinsel des porschefahrenden Literaturkritkers. Er erklärt dies damit, dass Raddatz hier seine Neigung zum Glamour und dem stillen Glück des Strandspaziergangs gleichermaßen frönen könne. Zudem weiß er zu berichten, dass sich der Autor in Keitum eine Grabstelle hat reservieren lassen, die er schon seit Jahrzehnten bezahlt. Für Schneider ein recht gelungenes "Memento mori". Ansonsten bescheinigt er dem Autor, in seinem kleinen Sylt-Buch "sein Talent als galliger Schwadroneur" voll auszuleben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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