"Ich stehe (wie so oft) auch hier neben mir selbst." So begann Herta Müller ihre Tischrede nach der Verleihung des Nobelpreises. In einem langen Gespräch mit Angelika Klammer erzählt sie von ihrem ungewöhnlichen Lebensweg, der vom Kind, das Kühe hütet, bis zur weltweit bekannten Schriftstellerin im Stadthaus in Stockholm führt. Sie erzählt von der Kindheit in Rumänien, vom Erwachsenwerden und dem erwachenden politischen Bewusstsein, von den frühen Begegnungen mit der Literatur, den Konflikten mit der Diktatur des Kommunismus und dem eigenen Weg zum Schreiben. Mit ihrem Bericht vom Ankommen in einem neuen Land fällt auch ein ungewohnter Blick auf das Deutschland der 80er und 90er Jahre und auf die Gesellschaft, in der wir heute leben.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Tomasz Kurianowicz ist beeindruckt ob der Kompromisslosigkeit Herta Müllers in den Gesprächen über ihr Aufwachsen im dörflichen Rumänien unter der Ceauşescu-Diktatur. Der Rezensent erfährt viel über Müllers "Strategien des inneren Widerstands" gegen die Despotie, die sie allerdings nicht nur dem System, sondern auch ihrem Umfeld ungemütlich machten, sodass sie sich zunehmend vereinzelt fand, berichtet Kurianowicz. Immerhin hat die Einsamkeit Müller zum Schreiben gebracht, und angesichts der andauernden Ungerechtigkeiten auch hierzulande, wo man es sich in den Vorzügen der Freiheit so gemütlich gemacht hat, dass es an Ignoranz grenzt, tun Beispiele moralischer Integrität, wie Müller eines darstellt, Not, findet der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.11.2014Schrecken und Schönheit
In ihrem Erinnerungsband „Mein Vaterland war ein Apfelkern“
gibt Herta Müller Einblick in die Ursprünge ihrer Autorschaft
VON JÖRG MAGENAU
Taschentücher haben im Leben von Herta Müller eine große Bedeutung, so groß, dass sie das Taschentuch 2009 zum Gegenstand ihrer Nobelpreisrede in Stockholm machte. Vom Satz der Mutter - „Hast du ein Taschentuch?“ – mit all seiner indirekten Zärtlichkeit und dem impliziten Bedürfnis nach Anstand ausgehend, durchforschte sie ihr rumänisches Leben, von den Taschentuchschubladen des Banater Elternhauses bis zur abschließenden Vermutung: „Kann es sein, dass die Frage nach dem Taschentuch seit jeher gar nicht das Taschentuch meint, sondern die akute Einsamkeit des Menschen?“
Da ist es nicht weiter erstaunlich, dass sie auch in dem Erinnerungsband „Mein Vaterland war ein Apfelkern“, der aus Gesprächen mit der Lektorin Angelika Klammer besteht, immer wieder das Taschentuchmotiv aufnimmt, wie überhaupt das meiste in diesem Band schon bekannt ist aus Herta Müllers Romanen und Erzählungen, die doch stets von den Bedrängnissen in den bedrückenden Jahren der Diktatur Ceaușescus handeln. Die Interviewerin liefert nur Stichworte und Zitate aus Herta Müllers Büchern, bleibt dezent im Hintergrund und sorgt nur dafür, das Gespräch, das eher ein Monolog ist, immer wieder zu fordern.
Herta Müller gibt Auskunft in eigener Sache, sehr direkt, intim, persönlich. Damit holt sie den literarischen Stoff ihres Lebens ins unmittelbar Biografische zurück. Man mag das bedauern und einen Poesieverlust befürchten. Doch das Experiment führt zu einem erstaunlichen Resultat: Der Unterschied zwischen Literatur und Leben ist gar nicht so groß. Poesie und Entsetzen sind Teil dieser Existenz und ihrer sprachlichen Bewältigung. Und weil Herta Müller sich der Verwurzelung in der Welt durch die Worte in jedem Moment bewusst ist (auch darüber reflektiert sie in diesem Buch), liegen das Schriftliche und das Mündliche eng beieinander. Die Poesie liegt in ihrem Blick auf die Dinge und in der Kraft, sie zu verzaubern. Und sie liegt in ihrem Verhältnis zur Sprache als einer Bewegung zu den Worten, die mehr wissen als man selbst, und von den Worten zu den Dingen, die darin zum Vorschein kommen.
Das Kindheitstaschentuch der Dorfwelt musste gebügelt sein. Es diente nicht nur zum Naseputzen, sondern auch zum Weinen, Hände abwischen, Wunden verbinden, als Tragegriff oder als Geldbeutel und als Kopfbedeckung bei Sonne und Regen. Als einmal ein Mann auf der Straße in der Stadt tot umfiel und ein Passant das Gesicht des Toten mit einer Zeitung bedeckte, ersetzte ein anderer die Zeitung durch ein Taschentuch. Der Grund war weniger das Bild Ceaușescus, das wie immer die Zeitungsseiten füllte, sondern ein Gefühl der Würde und der Angemessenheit.
Herta Müller wertete das Taschentuch als praktische Zärtlichkeit und wortlose Anteilnahme. So saß sie dann auch auf der Treppe der Fabrik, in der sie als Dolmetscherin angestellt war, auf ihrem Taschentuch: Weil sie sich geweigert hatte, mit der Securitate zusammenzuarbeiten, nahm man ihr Büro und Schreibtisch, sodass sie den Arbeitstag im Treppenhaus verbringen musste. Da war das Taschentuch ihr letzter Zufluchtsort, ihr kleiner Grund und Boden. Noch heute, wenn sie ihre Gedichte aus ausgeschnittenen Worten collagiert, kommen ihr die leeren Kartons, die sie als Untergrund dafür benutzt, oft so vor wie ein weißes Taschentuch.
Schönheit und Schrecken liegen bei Herta Müller eng beieinander. Vor unerwarteter Zärtlichkeit erschrickt sie genauso oder noch mehr als vor plötzlicher Gewalt. Wo andere weinen – bei Beerdigungen oder wenn die Mutter sie verprügelte – fing sie an zu lachen, doch dieses Lachen war tiefer traurig als jedes Weinen. Das Wissen darum befähigte sie, die Hässlichkeit der Dinge im Sozialismus als etwas Gewolltes, Programmatisches zu begreifen. Schönheit gibt den Menschen einen Halt und ist deshalb in der Diktatur verdächtig. Hässliche Dinge sind abweisend und zwingen jeden Einzelnen hinaus ins gemeinsame, kollektiv verwaltete Elend. In der Produktion von Hässlichkeit und von Angst war das System deshalb einfallsreich und erstaunlich produktiv.
Das Hässliche war immer da, mächtig und unüberwindlich; Schönheit aber war ein individuelles Widerstandsprogramm und also eine Frage des Überlebens. Herstellbar war Schönheit vor allem in der Sprache, im Rumänischen noch mehr als im Deutschen. Die rumänischen Worte mit ihrer Vokalfülle, sagt Herta Müller, „die waren im Mund so schön“. Vom Sprechen kam sie zum Schreiben als „innerer Notwendigkeit“ aus der Einsamkeit heraus. Schwer zu sagen, was aus Herta Müller geworden wäre ohne die Diktatur, die ihr das Schreiben als Selbstbehauptung aufzwang und die zu ihrem Lebensthema geworden ist. Doch die magnetische Anziehungskraft, die Worte auf sie ausüben, lassen vermuten, dass es dann einen anderen Anlass gegeben hätte.
Denn der eigentliche Antrieb kommt von innen: „Wenn ich am Schreiben bin, schluckt es mich ganz. Die Sprache hebt die Zeit auf, sie zieht das Erlebte in eine bessere Suche nach Wort, Takt, Klang. Diese Genauigkeit hat ihre Rücksichtslosigkeit, aber auch ihren Sog, aus dem ich nicht mehr herausfinde.“ Das Bedrohliche verwandelt sich, wenn die Sprache denn trifft, in etwas Schönes, und doch lässt sich nichts wegschreiben oder wegdenken. „Literatur heilt gar nichts, ich muss in die Dinge immer wieder anders hineinschauen.“ Dieses Hineinschauen in die Dinge aber geht nur mit den Worten. Damit hat es zu tun, dass Herta Müller eine Wort-Sammlerin geworden ist, die Worte aus Zeitschriften ausschneidet, um sie in Schubladen aufzubewahren wie seltene Insekten. Diese Worte, die sie auf Kartons klebt, sind der Rohstoff ihrer Gedicht-Collagen. Die Wörter sind immer schon da und warten darauf, verwendet zu werden.
Herta Müller erzählt auch von den Gesprächen, die sie mit ihrem Freund Oskar Pastior über seine Jahre im sowjetischen Lager geführt hat, und wie daraus der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Roman „Atemschaukel“ in mühsamer Arbeit entstanden ist. Auch der Schock, den die posthume Entdeckung von Pastiors Abhängigkeit und Zusammenarbeit mit der Securitate auslöste, wird Thema. Als sie mit ihm zusammen das ehemalige Lager in Russland besuchte, erlebte sie ihn als einen glücklichen Menschen und begriff in diesem Moment, „dass auch Beschädigung eine intime Bindung ist“. Der Satz gilt nicht zuletzt auch für Herta Müller selbst, die in all ihrem Schreiben und Denken nicht loskommt von der rumänischen Diktatur und den Beschädigungen, die daraus resultieren. Denn Literatur heilt gar nichts, es sei denn, man macht immer weiter damit, allen Gefährdungen zum Trotz. „Ich würde das Schreiben nicht aushalten, wenn die Hauptsache an den Texten nicht die erfundene Wahrheit der Sprache wäre, in der das Schöne wehtut“, sagt Herta Müller. Diese Schmerz-Schönheit ist der Kern ihrer Poetik, der Apfelkern, der ihr Vaterland ist. Er kommt in diesen Gesprächen zur Geltung wie in jeder großen Literatur.
Herta Müller: Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch. Herausgegeben von Angelika Klammer. Hanser Verlag, München 2014. 240 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Das Bedrohliche verwandelt
sich, wenn denn die Sprache
trifft, in etwas Schönes
Poesie und Entsetzen sind Teil ihrer Existenz . . . Herta Müller bei einer Lesung im Münchner Literaturhaus. Foto: Robert Haas
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In ihrem Erinnerungsband „Mein Vaterland war ein Apfelkern“
gibt Herta Müller Einblick in die Ursprünge ihrer Autorschaft
VON JÖRG MAGENAU
Taschentücher haben im Leben von Herta Müller eine große Bedeutung, so groß, dass sie das Taschentuch 2009 zum Gegenstand ihrer Nobelpreisrede in Stockholm machte. Vom Satz der Mutter - „Hast du ein Taschentuch?“ – mit all seiner indirekten Zärtlichkeit und dem impliziten Bedürfnis nach Anstand ausgehend, durchforschte sie ihr rumänisches Leben, von den Taschentuchschubladen des Banater Elternhauses bis zur abschließenden Vermutung: „Kann es sein, dass die Frage nach dem Taschentuch seit jeher gar nicht das Taschentuch meint, sondern die akute Einsamkeit des Menschen?“
Da ist es nicht weiter erstaunlich, dass sie auch in dem Erinnerungsband „Mein Vaterland war ein Apfelkern“, der aus Gesprächen mit der Lektorin Angelika Klammer besteht, immer wieder das Taschentuchmotiv aufnimmt, wie überhaupt das meiste in diesem Band schon bekannt ist aus Herta Müllers Romanen und Erzählungen, die doch stets von den Bedrängnissen in den bedrückenden Jahren der Diktatur Ceaușescus handeln. Die Interviewerin liefert nur Stichworte und Zitate aus Herta Müllers Büchern, bleibt dezent im Hintergrund und sorgt nur dafür, das Gespräch, das eher ein Monolog ist, immer wieder zu fordern.
Herta Müller gibt Auskunft in eigener Sache, sehr direkt, intim, persönlich. Damit holt sie den literarischen Stoff ihres Lebens ins unmittelbar Biografische zurück. Man mag das bedauern und einen Poesieverlust befürchten. Doch das Experiment führt zu einem erstaunlichen Resultat: Der Unterschied zwischen Literatur und Leben ist gar nicht so groß. Poesie und Entsetzen sind Teil dieser Existenz und ihrer sprachlichen Bewältigung. Und weil Herta Müller sich der Verwurzelung in der Welt durch die Worte in jedem Moment bewusst ist (auch darüber reflektiert sie in diesem Buch), liegen das Schriftliche und das Mündliche eng beieinander. Die Poesie liegt in ihrem Blick auf die Dinge und in der Kraft, sie zu verzaubern. Und sie liegt in ihrem Verhältnis zur Sprache als einer Bewegung zu den Worten, die mehr wissen als man selbst, und von den Worten zu den Dingen, die darin zum Vorschein kommen.
Das Kindheitstaschentuch der Dorfwelt musste gebügelt sein. Es diente nicht nur zum Naseputzen, sondern auch zum Weinen, Hände abwischen, Wunden verbinden, als Tragegriff oder als Geldbeutel und als Kopfbedeckung bei Sonne und Regen. Als einmal ein Mann auf der Straße in der Stadt tot umfiel und ein Passant das Gesicht des Toten mit einer Zeitung bedeckte, ersetzte ein anderer die Zeitung durch ein Taschentuch. Der Grund war weniger das Bild Ceaușescus, das wie immer die Zeitungsseiten füllte, sondern ein Gefühl der Würde und der Angemessenheit.
Herta Müller wertete das Taschentuch als praktische Zärtlichkeit und wortlose Anteilnahme. So saß sie dann auch auf der Treppe der Fabrik, in der sie als Dolmetscherin angestellt war, auf ihrem Taschentuch: Weil sie sich geweigert hatte, mit der Securitate zusammenzuarbeiten, nahm man ihr Büro und Schreibtisch, sodass sie den Arbeitstag im Treppenhaus verbringen musste. Da war das Taschentuch ihr letzter Zufluchtsort, ihr kleiner Grund und Boden. Noch heute, wenn sie ihre Gedichte aus ausgeschnittenen Worten collagiert, kommen ihr die leeren Kartons, die sie als Untergrund dafür benutzt, oft so vor wie ein weißes Taschentuch.
Schönheit und Schrecken liegen bei Herta Müller eng beieinander. Vor unerwarteter Zärtlichkeit erschrickt sie genauso oder noch mehr als vor plötzlicher Gewalt. Wo andere weinen – bei Beerdigungen oder wenn die Mutter sie verprügelte – fing sie an zu lachen, doch dieses Lachen war tiefer traurig als jedes Weinen. Das Wissen darum befähigte sie, die Hässlichkeit der Dinge im Sozialismus als etwas Gewolltes, Programmatisches zu begreifen. Schönheit gibt den Menschen einen Halt und ist deshalb in der Diktatur verdächtig. Hässliche Dinge sind abweisend und zwingen jeden Einzelnen hinaus ins gemeinsame, kollektiv verwaltete Elend. In der Produktion von Hässlichkeit und von Angst war das System deshalb einfallsreich und erstaunlich produktiv.
Das Hässliche war immer da, mächtig und unüberwindlich; Schönheit aber war ein individuelles Widerstandsprogramm und also eine Frage des Überlebens. Herstellbar war Schönheit vor allem in der Sprache, im Rumänischen noch mehr als im Deutschen. Die rumänischen Worte mit ihrer Vokalfülle, sagt Herta Müller, „die waren im Mund so schön“. Vom Sprechen kam sie zum Schreiben als „innerer Notwendigkeit“ aus der Einsamkeit heraus. Schwer zu sagen, was aus Herta Müller geworden wäre ohne die Diktatur, die ihr das Schreiben als Selbstbehauptung aufzwang und die zu ihrem Lebensthema geworden ist. Doch die magnetische Anziehungskraft, die Worte auf sie ausüben, lassen vermuten, dass es dann einen anderen Anlass gegeben hätte.
Denn der eigentliche Antrieb kommt von innen: „Wenn ich am Schreiben bin, schluckt es mich ganz. Die Sprache hebt die Zeit auf, sie zieht das Erlebte in eine bessere Suche nach Wort, Takt, Klang. Diese Genauigkeit hat ihre Rücksichtslosigkeit, aber auch ihren Sog, aus dem ich nicht mehr herausfinde.“ Das Bedrohliche verwandelt sich, wenn die Sprache denn trifft, in etwas Schönes, und doch lässt sich nichts wegschreiben oder wegdenken. „Literatur heilt gar nichts, ich muss in die Dinge immer wieder anders hineinschauen.“ Dieses Hineinschauen in die Dinge aber geht nur mit den Worten. Damit hat es zu tun, dass Herta Müller eine Wort-Sammlerin geworden ist, die Worte aus Zeitschriften ausschneidet, um sie in Schubladen aufzubewahren wie seltene Insekten. Diese Worte, die sie auf Kartons klebt, sind der Rohstoff ihrer Gedicht-Collagen. Die Wörter sind immer schon da und warten darauf, verwendet zu werden.
Herta Müller erzählt auch von den Gesprächen, die sie mit ihrem Freund Oskar Pastior über seine Jahre im sowjetischen Lager geführt hat, und wie daraus der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Roman „Atemschaukel“ in mühsamer Arbeit entstanden ist. Auch der Schock, den die posthume Entdeckung von Pastiors Abhängigkeit und Zusammenarbeit mit der Securitate auslöste, wird Thema. Als sie mit ihm zusammen das ehemalige Lager in Russland besuchte, erlebte sie ihn als einen glücklichen Menschen und begriff in diesem Moment, „dass auch Beschädigung eine intime Bindung ist“. Der Satz gilt nicht zuletzt auch für Herta Müller selbst, die in all ihrem Schreiben und Denken nicht loskommt von der rumänischen Diktatur und den Beschädigungen, die daraus resultieren. Denn Literatur heilt gar nichts, es sei denn, man macht immer weiter damit, allen Gefährdungen zum Trotz. „Ich würde das Schreiben nicht aushalten, wenn die Hauptsache an den Texten nicht die erfundene Wahrheit der Sprache wäre, in der das Schöne wehtut“, sagt Herta Müller. Diese Schmerz-Schönheit ist der Kern ihrer Poetik, der Apfelkern, der ihr Vaterland ist. Er kommt in diesen Gesprächen zur Geltung wie in jeder großen Literatur.
Herta Müller: Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch. Herausgegeben von Angelika Klammer. Hanser Verlag, München 2014. 240 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Das Bedrohliche verwandelt
sich, wenn denn die Sprache
trifft, in etwas Schönes
Poesie und Entsetzen sind Teil ihrer Existenz . . . Herta Müller bei einer Lesung im Münchner Literaturhaus. Foto: Robert Haas
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2015Je mehr Schikanen, desto größer die Einsamkeit
Der Band "Mein Vaterland war ein Apfelkern" versammelt Gespräche mit Herta Müller, in denen die Nobelpreisträgerin vom Überleben in einer Diktatur erzählt
Wenn man den Band "Mein Vaterland war ein Apfelkern" von Herta Müller nach der Lektüre aus der Hand legt, staunt man vor allem über die Kompromisslosigkeit dieser Autorin. In den versammelten Gesprächen, die die Nobelpreisträgerin mit der Lektorin Angelika Klammer im Dezember 2013 und Januar 2014 in Berlin geführt hat, bekommt man einen unverblümten Einblick in Herta Müllers persönliche Lebens- und Leidensgeschichte und in ihre große Widerstandskraft: Sie erzählt vom Aufwachsen in einer verklemmten Dorfgemeinschaft im despotischen Rumänien, wo "jeder Krallen im Herzen hatte"; vom traurigen Älterwerden in der Ceausescu-Diktatur "am Rand der Welt"; von den Schikanen und Verhören, die sie im Berufsleben als Fabrik-Übersetzerin und Lehrerin durchgestanden hat - und von den Erpressungen, Einschüchterungsversuchen und dem überall lauernden Tod.
Weil sie sich nicht beugen, nicht Duckmaus spielen wollte, musste Herta Müller schon früh die Einsamkeit einer "Nestbeschmutzerin" ertragen. Freunde wandten sich ab; Kollegen distanzierten sich. Sie wurde als Querulantin bezeichnet, als Rebellin, die die Spielregeln des Karrieremachens nicht versteht. Doch Herta Müller verstand sehr wohl: die verlogene Sprache des Apparats, den Opportunismus, die Unterwürfigkeit und das würdelose Anbiedern an die Mächtigen und Dummen eines menschenverachtenden Systems. Es mag paradox klingen, aber genau dieser Mut zur Querköpfigkeit, der Herta Müller in eine beklemmende, lebensverneinende Isolation hineingetrieben hat, war der Auslöser dafür, dass sie sich der Literatur zuwandte: "Man wird von oben schikaniert und von unten diskriminiert. Kurz gesagt, je mehr Schikanen, umso mehr Einsamkeit. Ich habe aus Einsamkeit zu schreiben begonnen."
Im Westen wurde Herta Müller mit Preisen überschüttet; im Osten wiederum wurde sie in zweifacher Weise gedemütigt: sowohl von den kommunistischen Machthabern als auch von den Banat-Schwaben, ihren Landsleuten der deutschen Minderheit, die mit Herta Müllers kritischen Tönen nicht umzugehen wussten. Der Bruch kam spätestens nach der Publikation des Buches "Niederungen", in dem die Schriftstellerin die deprimierende Enge und Verlogenheit der deutsch-rumänischen Dorfgemeinschaft beschreibt - und zudem ihre Unfähigkeit, sich mit dem faschistischen Erbe auseinanderzusetzen.
Was man aus Herta Müllers wie gewohnt auf hohem Niveau verfassten Schilderungen herauszieht, ist nicht nur die Einsicht in ihre persönlichen Strategien des inneren Widerstands. Was man vor allem nicht abzuschütteln vermag, ist dieser alles überschattende, quälend-mahnende Gedanke, dass es in entscheidenden Lebenssituationen einen messerscharfen Unterschied gibt zwischen richtig und falsch. Man wird zurückgeworfen auf die eigene Moral und fragt sich: Was hätte man an Herta Müllers Stelle getan, wenn man vor einem Geheimagenten der "Securitate", des rumänischen Geheimdiensts, gesessen und gesagt bekommen hätte, dass man aus dem Vernehmungsraum nicht lebend herauskommt, wenn man das Dokument zur Zusammenarbeit nicht unterschreibt? Hätte man ebenso unbekümmert auf die innere Stimme gehört und das faule Papier einfach zerrissen?
Dabei muss man bedenken, dass selbst einige der moralisch unverfänglichsten Intellektuellen Rumäniens dem Druck der Staatsapparate nicht standzuhalten vermochten: wie etwa Herta Müllers Freund Oskar Pastior, der nach den Erpressungen durch die "Securitate" das teuflische Dokument zur Zusammenarbeit unterschrieb. Herta Müller kämpft um Verständnis: Sie verweist auf Oskar Pastiors psychisch labilen Zustand, seine aus der Zeit im sowjetischen Arbeitslager mitgenommenen Traumata und seine Homosexualität, die den Autor und Lyriker erpressbar gemacht hatte. Und sie weiß, dass nicht jeder die Kraft aufzubringen vermochte, jene innere Mauer aus Granit aufzubauen, die notwendig war, um sich den Schikanen der Geheimdienstmitarbeiter zu widersetzen. Einige Oppositionelle flüchteten, andere knickten ein, wieder andere begingen Selbstmord.
Auch Herta Müller zog, in Momenten der absoluten Trostlosigkeit, den allerschlimmsten aller möglichen Auswege in Erwägung: "Viele Jahre danach, in der Verleumdungszeit der Fabrik, habe auch ich an Suizid gedacht. Ich habe den richtigen Ort gesucht, am Fenster oben im Wohnblock, die richtigen Steine für die Manteltasche und die richtige Stelle am Fluss." Doch sie hat nicht aufgegeben. Nicht unbedingt aus Selbstschutz oder ungebrochenem Lebenswillen, sondern weil es für die Ceausescu-Schergen eine Genugtuung gewesen wäre, wenn Herta Müllers Stimme geschwiegen hätte. Die Konsequenz war ein Leben in Angst, die "sichtbar von der Stirn bis zu den Fußspitzen hing".
Moralische Standhaftigkeit ist aber, und das macht Herta Müller unmissverständlich deutlich, nicht nur in Diktaturen von größter Wichtigkeit. Sie ist auch und gerade in demokratischen Gesellschaften vonnöten. Durch diesen Verweis bekommt das Buch eine aktuelle, politisch konturierte Schärfe: Wenn Herta Müller über ihre Einreise nach Deutschland, den Zorn und das Unverständnis der BND-Beamten erzählt, dann denkt man an all die Flüchtlinge aus Syrien, die heute in Deutschland auf systematische Ignoranz und individuelle Ausgrenzung stoßen. Man denkt an die erstarkende, salonfähige Fremdenfeindlichkeit, die sich bei den Pegida-Demonstrationen kundtut, und an die fehlenden Antworten der deutschen Politik nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine. Wie kann es sein, dass Menschen in Diktaturen in akuter Lebensgefahr ein "Nein" auszusprechen wagen und wir, die wir in Freiheit leben, nicht imstande sind, Menschen in Not beim nackten Überleben zu helfen? "Die Freiheit macht gedankenlos", heißt es bei Herta Müller, "das ist ja auch ein Glück." Aber wenn Freiheit in Ignoranz umschlägt, ist die Chance auf eine bessere Gesellschaft vertan.
Herta Müllers Essays, entstanden von 1990 bis 1995, die der Hanser Verlag unter dem Titel "Hunger und Seide" jetzt neu aufgelegt hat und die man als Begleitbändchen zu den aktuellen Gesprächen verstehen könnte, schlagen in eine ähnliche Kerbe. Sie verbinden Herta Müllers Erfahrungen aus der Diktatur mit ihrem Blick auf die politischen Konflikte der neunziger Jahre: etwa auf die Jugoslawien-Kriege oder die Anschläge auf die Asylbewerberheime in Hoyerswerda von 1991 und in Rostock-Lichtenhagen von 1992. Auch hier sind die Parallelen zur Gegenwart leicht gezogen. Sie erinnern daran, dass Geschichte von Menschenhand gemacht wird. "Das Gedächtnis verlässt die Wahrheit nicht. Die Wahrheit verlassen kann im Kalkül der Täuschung nur der Mund."
Herta Müller fordert in jenen Texten, die mehr Pamphlete als Essays sind, zum Handeln auf. Sie ringt uns einen Standpunkt ab; die Fähigkeit zur moralischen Tat. Dabei argumentiert sie mit dem Blick von außen, mit den Augen einer Banat-Schwäbin, die im rumänischen Nitzkydorf aufgewachsen und 1987 nach West-Berlin ausgewandert ist, ohne wirklich eine Heimat zu finden. Durch diese Doppelperspektive der Getriebenen ist sie imstande, die Feigheit politischer Akteure sowohl im Ausland als auch im freiheitlich-demokratischen Westen gleichermaßen anzuprangern.
Damit trifft sie beizeiten auf Unverständnis: "Meine Bücher stoßen hier in Deutschland auf zwei immer wiederkehrende Fragen. Die eine: Wann ich endlich über Deutschland schreibe. Die andere: Weshalb ich über Deutschland schreibe. Diese zweite hält meine Sicht auf dieses Land für falsch, weil sie mit der gewohnten Sicht nicht übereinstimmt. Das Fremde daran irritiert, man wittert die illegitime Einmischung. Die zweite Frage verweist mich ins Abgezirkelte: wo ich herkomme, darüber habe ich zu schreiben. In meinem zweiten, besseren Leben hier an der deutschen Brotkante habe ich das Recht, zu beißen und zu schlucken. Doch in diesem damals leeren und jetzt vollen, aber fremd gebliebenen Mund gebührt es sich, beim Essen wenigstens zu schweigen." Man kann nur protestieren und muss Herta Müller mehr denn je dazu auffordern, nicht stillzuhalten, sondern im Hier und Jetzt, in Zeiten der Ungerechtigkeit zu sprechen, zu mahnen und vor allem: zu schreiben.
TOMASZ KURIANOWICZ
Herta Müller: "Mein Vaterland war ein Apfelkern". Herausgegeben von Angelika Klammer.
Carl Hanser Verlag, München 2014. 240 S., geb., 19,90 [Euro].
Herta Müller: "Hunger und Seide". Essays.
Carl Hanser Verlag, München 2015. 192 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Band "Mein Vaterland war ein Apfelkern" versammelt Gespräche mit Herta Müller, in denen die Nobelpreisträgerin vom Überleben in einer Diktatur erzählt
Wenn man den Band "Mein Vaterland war ein Apfelkern" von Herta Müller nach der Lektüre aus der Hand legt, staunt man vor allem über die Kompromisslosigkeit dieser Autorin. In den versammelten Gesprächen, die die Nobelpreisträgerin mit der Lektorin Angelika Klammer im Dezember 2013 und Januar 2014 in Berlin geführt hat, bekommt man einen unverblümten Einblick in Herta Müllers persönliche Lebens- und Leidensgeschichte und in ihre große Widerstandskraft: Sie erzählt vom Aufwachsen in einer verklemmten Dorfgemeinschaft im despotischen Rumänien, wo "jeder Krallen im Herzen hatte"; vom traurigen Älterwerden in der Ceausescu-Diktatur "am Rand der Welt"; von den Schikanen und Verhören, die sie im Berufsleben als Fabrik-Übersetzerin und Lehrerin durchgestanden hat - und von den Erpressungen, Einschüchterungsversuchen und dem überall lauernden Tod.
Weil sie sich nicht beugen, nicht Duckmaus spielen wollte, musste Herta Müller schon früh die Einsamkeit einer "Nestbeschmutzerin" ertragen. Freunde wandten sich ab; Kollegen distanzierten sich. Sie wurde als Querulantin bezeichnet, als Rebellin, die die Spielregeln des Karrieremachens nicht versteht. Doch Herta Müller verstand sehr wohl: die verlogene Sprache des Apparats, den Opportunismus, die Unterwürfigkeit und das würdelose Anbiedern an die Mächtigen und Dummen eines menschenverachtenden Systems. Es mag paradox klingen, aber genau dieser Mut zur Querköpfigkeit, der Herta Müller in eine beklemmende, lebensverneinende Isolation hineingetrieben hat, war der Auslöser dafür, dass sie sich der Literatur zuwandte: "Man wird von oben schikaniert und von unten diskriminiert. Kurz gesagt, je mehr Schikanen, umso mehr Einsamkeit. Ich habe aus Einsamkeit zu schreiben begonnen."
Im Westen wurde Herta Müller mit Preisen überschüttet; im Osten wiederum wurde sie in zweifacher Weise gedemütigt: sowohl von den kommunistischen Machthabern als auch von den Banat-Schwaben, ihren Landsleuten der deutschen Minderheit, die mit Herta Müllers kritischen Tönen nicht umzugehen wussten. Der Bruch kam spätestens nach der Publikation des Buches "Niederungen", in dem die Schriftstellerin die deprimierende Enge und Verlogenheit der deutsch-rumänischen Dorfgemeinschaft beschreibt - und zudem ihre Unfähigkeit, sich mit dem faschistischen Erbe auseinanderzusetzen.
Was man aus Herta Müllers wie gewohnt auf hohem Niveau verfassten Schilderungen herauszieht, ist nicht nur die Einsicht in ihre persönlichen Strategien des inneren Widerstands. Was man vor allem nicht abzuschütteln vermag, ist dieser alles überschattende, quälend-mahnende Gedanke, dass es in entscheidenden Lebenssituationen einen messerscharfen Unterschied gibt zwischen richtig und falsch. Man wird zurückgeworfen auf die eigene Moral und fragt sich: Was hätte man an Herta Müllers Stelle getan, wenn man vor einem Geheimagenten der "Securitate", des rumänischen Geheimdiensts, gesessen und gesagt bekommen hätte, dass man aus dem Vernehmungsraum nicht lebend herauskommt, wenn man das Dokument zur Zusammenarbeit nicht unterschreibt? Hätte man ebenso unbekümmert auf die innere Stimme gehört und das faule Papier einfach zerrissen?
Dabei muss man bedenken, dass selbst einige der moralisch unverfänglichsten Intellektuellen Rumäniens dem Druck der Staatsapparate nicht standzuhalten vermochten: wie etwa Herta Müllers Freund Oskar Pastior, der nach den Erpressungen durch die "Securitate" das teuflische Dokument zur Zusammenarbeit unterschrieb. Herta Müller kämpft um Verständnis: Sie verweist auf Oskar Pastiors psychisch labilen Zustand, seine aus der Zeit im sowjetischen Arbeitslager mitgenommenen Traumata und seine Homosexualität, die den Autor und Lyriker erpressbar gemacht hatte. Und sie weiß, dass nicht jeder die Kraft aufzubringen vermochte, jene innere Mauer aus Granit aufzubauen, die notwendig war, um sich den Schikanen der Geheimdienstmitarbeiter zu widersetzen. Einige Oppositionelle flüchteten, andere knickten ein, wieder andere begingen Selbstmord.
Auch Herta Müller zog, in Momenten der absoluten Trostlosigkeit, den allerschlimmsten aller möglichen Auswege in Erwägung: "Viele Jahre danach, in der Verleumdungszeit der Fabrik, habe auch ich an Suizid gedacht. Ich habe den richtigen Ort gesucht, am Fenster oben im Wohnblock, die richtigen Steine für die Manteltasche und die richtige Stelle am Fluss." Doch sie hat nicht aufgegeben. Nicht unbedingt aus Selbstschutz oder ungebrochenem Lebenswillen, sondern weil es für die Ceausescu-Schergen eine Genugtuung gewesen wäre, wenn Herta Müllers Stimme geschwiegen hätte. Die Konsequenz war ein Leben in Angst, die "sichtbar von der Stirn bis zu den Fußspitzen hing".
Moralische Standhaftigkeit ist aber, und das macht Herta Müller unmissverständlich deutlich, nicht nur in Diktaturen von größter Wichtigkeit. Sie ist auch und gerade in demokratischen Gesellschaften vonnöten. Durch diesen Verweis bekommt das Buch eine aktuelle, politisch konturierte Schärfe: Wenn Herta Müller über ihre Einreise nach Deutschland, den Zorn und das Unverständnis der BND-Beamten erzählt, dann denkt man an all die Flüchtlinge aus Syrien, die heute in Deutschland auf systematische Ignoranz und individuelle Ausgrenzung stoßen. Man denkt an die erstarkende, salonfähige Fremdenfeindlichkeit, die sich bei den Pegida-Demonstrationen kundtut, und an die fehlenden Antworten der deutschen Politik nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine. Wie kann es sein, dass Menschen in Diktaturen in akuter Lebensgefahr ein "Nein" auszusprechen wagen und wir, die wir in Freiheit leben, nicht imstande sind, Menschen in Not beim nackten Überleben zu helfen? "Die Freiheit macht gedankenlos", heißt es bei Herta Müller, "das ist ja auch ein Glück." Aber wenn Freiheit in Ignoranz umschlägt, ist die Chance auf eine bessere Gesellschaft vertan.
Herta Müllers Essays, entstanden von 1990 bis 1995, die der Hanser Verlag unter dem Titel "Hunger und Seide" jetzt neu aufgelegt hat und die man als Begleitbändchen zu den aktuellen Gesprächen verstehen könnte, schlagen in eine ähnliche Kerbe. Sie verbinden Herta Müllers Erfahrungen aus der Diktatur mit ihrem Blick auf die politischen Konflikte der neunziger Jahre: etwa auf die Jugoslawien-Kriege oder die Anschläge auf die Asylbewerberheime in Hoyerswerda von 1991 und in Rostock-Lichtenhagen von 1992. Auch hier sind die Parallelen zur Gegenwart leicht gezogen. Sie erinnern daran, dass Geschichte von Menschenhand gemacht wird. "Das Gedächtnis verlässt die Wahrheit nicht. Die Wahrheit verlassen kann im Kalkül der Täuschung nur der Mund."
Herta Müller fordert in jenen Texten, die mehr Pamphlete als Essays sind, zum Handeln auf. Sie ringt uns einen Standpunkt ab; die Fähigkeit zur moralischen Tat. Dabei argumentiert sie mit dem Blick von außen, mit den Augen einer Banat-Schwäbin, die im rumänischen Nitzkydorf aufgewachsen und 1987 nach West-Berlin ausgewandert ist, ohne wirklich eine Heimat zu finden. Durch diese Doppelperspektive der Getriebenen ist sie imstande, die Feigheit politischer Akteure sowohl im Ausland als auch im freiheitlich-demokratischen Westen gleichermaßen anzuprangern.
Damit trifft sie beizeiten auf Unverständnis: "Meine Bücher stoßen hier in Deutschland auf zwei immer wiederkehrende Fragen. Die eine: Wann ich endlich über Deutschland schreibe. Die andere: Weshalb ich über Deutschland schreibe. Diese zweite hält meine Sicht auf dieses Land für falsch, weil sie mit der gewohnten Sicht nicht übereinstimmt. Das Fremde daran irritiert, man wittert die illegitime Einmischung. Die zweite Frage verweist mich ins Abgezirkelte: wo ich herkomme, darüber habe ich zu schreiben. In meinem zweiten, besseren Leben hier an der deutschen Brotkante habe ich das Recht, zu beißen und zu schlucken. Doch in diesem damals leeren und jetzt vollen, aber fremd gebliebenen Mund gebührt es sich, beim Essen wenigstens zu schweigen." Man kann nur protestieren und muss Herta Müller mehr denn je dazu auffordern, nicht stillzuhalten, sondern im Hier und Jetzt, in Zeiten der Ungerechtigkeit zu sprechen, zu mahnen und vor allem: zu schreiben.
TOMASZ KURIANOWICZ
Herta Müller: "Mein Vaterland war ein Apfelkern". Herausgegeben von Angelika Klammer.
Carl Hanser Verlag, München 2014. 240 S., geb., 19,90 [Euro].
Herta Müller: "Hunger und Seide". Essays.
Carl Hanser Verlag, München 2015. 192 S., geb., 18,90 [Euro].
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"Es ist, wie in den erzählenden Büchern Herta Müllers, auch hier ihre Sprache mit den eigenwilligen, genauen Formulierungen und Bilder, in denen Vorstellung und Realität eins sind." Samuel Moser, Neue Zürcher Zeitung, 11.12.14 "[Sie] formuliert so eindringlich die und brillant die Grundlagen ihres Schreibens, dass man vor Freude in die Hände klatschen möchte." Denis Scheck, Druckfrisch, 05.12.14 "Herta Müller gibt Auskunft in eigener Sache, sehr direkt, intim, persönlich. Damit holt sie den literarischen Stoff ihres Lebens ins unmittelbar Biografische zurück. ... 'Ich würde das Schreiben nicht aushalten, wenn die Hauptsache an den Texten nicht die erfundene Wahrheit der Sprache wäre, in der das Schöne wehtut', sagt Herta Müller. Diese Schmerz-Schönheit ist der Kern ihrer Poetik, der Apfelkern, der ihr Vaterland ist. Er kommt in diesen Gesprächen zur Geltung wie in jeder großen Literatur." Jörg Magenau, Süddeutsche Zeitung, 13.11.14 "Herta Müller erzählt im Interview-Buch berührend, verstörend. Sie hat eben doch ein Stück Literatur geschaffen, ein großes." Susanne Beyer, KulturSPIEGEL, 29.09.14 "Den neuen Gesprächsband liest man mit schnell entflammten Interesse und anhaltender Faszination." Martin Oehlen, Kölner Stadt-Anzeiger, 01.10.14 "Eine solche feinfühlige und zugleich wirklichkeitswache Dichterin wie Herta Müller haben wir in der deutschen Sprache sonst weit und breit nicht." Oliver vom Hove, Die Presse, 04.10.14 "Der sogenannte fremde Blick, der ihr attestiert werde, sei allerdings nicht geografisch, sondern biografisch bedingt. Er komme vom Verlust der Selbstgewissheit, den sie in Rumänien erlebt habe. Und dieser fremde Blick ist es, der ihre Romane und Wort-Collagen so einzigartig macht." Sandra Leis, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 28.09.14 "Eine fesselnde Gesprächserzählung von ihrem Leben im Ceausescu-Rumänien." Hans-Ulrich Probst, WOZ, 20.11.14 "'Mein Vaterland war ein Apfelkern' zeigt, wie biografisch alle Bücher von Müller sind. Das Buch zeigt genauso, wie viele poetische Funken diese Biografie geschlagen hat." Gerrit Bartels, Der Tagesspiegel, 19.11.14 "Herta Müller erzählt ihre Autobiografie - eine poetische Konzentration auf die Kraft, Nein zu sagen." Frauke Meyer-Gosau, Cicero, 1/2015