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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Der Band "Mein Vaterland war ein Apfelkern" versammelt Gespräche mit Herta Müller, in denen die Nobelpreisträgerin vom Überleben in einer Diktatur erzählt
Wenn man den Band "Mein Vaterland war ein Apfelkern" von Herta Müller nach der Lektüre aus der Hand legt, staunt man vor allem über die Kompromisslosigkeit dieser Autorin. In den versammelten Gesprächen, die die Nobelpreisträgerin mit der Lektorin Angelika Klammer im Dezember 2013 und Januar 2014 in Berlin geführt hat, bekommt man einen unverblümten Einblick in Herta Müllers persönliche Lebens- und Leidensgeschichte und in ihre große Widerstandskraft: Sie erzählt vom Aufwachsen in einer verklemmten Dorfgemeinschaft im despotischen Rumänien, wo "jeder Krallen im Herzen hatte"; vom traurigen Älterwerden in der Ceausescu-Diktatur "am Rand der Welt"; von den Schikanen und Verhören, die sie im Berufsleben als Fabrik-Übersetzerin und Lehrerin durchgestanden hat - und von den Erpressungen, Einschüchterungsversuchen und dem überall lauernden Tod.
Weil sie sich nicht beugen, nicht Duckmaus spielen wollte, musste Herta Müller schon früh die Einsamkeit einer "Nestbeschmutzerin" ertragen. Freunde wandten sich ab; Kollegen distanzierten sich. Sie wurde als Querulantin bezeichnet, als Rebellin, die die Spielregeln des Karrieremachens nicht versteht. Doch Herta Müller verstand sehr wohl: die verlogene Sprache des Apparats, den Opportunismus, die Unterwürfigkeit und das würdelose Anbiedern an die Mächtigen und Dummen eines menschenverachtenden Systems. Es mag paradox klingen, aber genau dieser Mut zur Querköpfigkeit, der Herta Müller in eine beklemmende, lebensverneinende Isolation hineingetrieben hat, war der Auslöser dafür, dass sie sich der Literatur zuwandte: "Man wird von oben schikaniert und von unten diskriminiert. Kurz gesagt, je mehr Schikanen, umso mehr Einsamkeit. Ich habe aus Einsamkeit zu schreiben begonnen."
Im Westen wurde Herta Müller mit Preisen überschüttet; im Osten wiederum wurde sie in zweifacher Weise gedemütigt: sowohl von den kommunistischen Machthabern als auch von den Banat-Schwaben, ihren Landsleuten der deutschen Minderheit, die mit Herta Müllers kritischen Tönen nicht umzugehen wussten. Der Bruch kam spätestens nach der Publikation des Buches "Niederungen", in dem die Schriftstellerin die deprimierende Enge und Verlogenheit der deutsch-rumänischen Dorfgemeinschaft beschreibt - und zudem ihre Unfähigkeit, sich mit dem faschistischen Erbe auseinanderzusetzen.
Was man aus Herta Müllers wie gewohnt auf hohem Niveau verfassten Schilderungen herauszieht, ist nicht nur die Einsicht in ihre persönlichen Strategien des inneren Widerstands. Was man vor allem nicht abzuschütteln vermag, ist dieser alles überschattende, quälend-mahnende Gedanke, dass es in entscheidenden Lebenssituationen einen messerscharfen Unterschied gibt zwischen richtig und falsch. Man wird zurückgeworfen auf die eigene Moral und fragt sich: Was hätte man an Herta Müllers Stelle getan, wenn man vor einem Geheimagenten der "Securitate", des rumänischen Geheimdiensts, gesessen und gesagt bekommen hätte, dass man aus dem Vernehmungsraum nicht lebend herauskommt, wenn man das Dokument zur Zusammenarbeit nicht unterschreibt? Hätte man ebenso unbekümmert auf die innere Stimme gehört und das faule Papier einfach zerrissen?
Dabei muss man bedenken, dass selbst einige der moralisch unverfänglichsten Intellektuellen Rumäniens dem Druck der Staatsapparate nicht standzuhalten vermochten: wie etwa Herta Müllers Freund Oskar Pastior, der nach den Erpressungen durch die "Securitate" das teuflische Dokument zur Zusammenarbeit unterschrieb. Herta Müller kämpft um Verständnis: Sie verweist auf Oskar Pastiors psychisch labilen Zustand, seine aus der Zeit im sowjetischen Arbeitslager mitgenommenen Traumata und seine Homosexualität, die den Autor und Lyriker erpressbar gemacht hatte. Und sie weiß, dass nicht jeder die Kraft aufzubringen vermochte, jene innere Mauer aus Granit aufzubauen, die notwendig war, um sich den Schikanen der Geheimdienstmitarbeiter zu widersetzen. Einige Oppositionelle flüchteten, andere knickten ein, wieder andere begingen Selbstmord.
Auch Herta Müller zog, in Momenten der absoluten Trostlosigkeit, den allerschlimmsten aller möglichen Auswege in Erwägung: "Viele Jahre danach, in der Verleumdungszeit der Fabrik, habe auch ich an Suizid gedacht. Ich habe den richtigen Ort gesucht, am Fenster oben im Wohnblock, die richtigen Steine für die Manteltasche und die richtige Stelle am Fluss." Doch sie hat nicht aufgegeben. Nicht unbedingt aus Selbstschutz oder ungebrochenem Lebenswillen, sondern weil es für die Ceausescu-Schergen eine Genugtuung gewesen wäre, wenn Herta Müllers Stimme geschwiegen hätte. Die Konsequenz war ein Leben in Angst, die "sichtbar von der Stirn bis zu den Fußspitzen hing".
Moralische Standhaftigkeit ist aber, und das macht Herta Müller unmissverständlich deutlich, nicht nur in Diktaturen von größter Wichtigkeit. Sie ist auch und gerade in demokratischen Gesellschaften vonnöten. Durch diesen Verweis bekommt das Buch eine aktuelle, politisch konturierte Schärfe: Wenn Herta Müller über ihre Einreise nach Deutschland, den Zorn und das Unverständnis der BND-Beamten erzählt, dann denkt man an all die Flüchtlinge aus Syrien, die heute in Deutschland auf systematische Ignoranz und individuelle Ausgrenzung stoßen. Man denkt an die erstarkende, salonfähige Fremdenfeindlichkeit, die sich bei den Pegida-Demonstrationen kundtut, und an die fehlenden Antworten der deutschen Politik nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine. Wie kann es sein, dass Menschen in Diktaturen in akuter Lebensgefahr ein "Nein" auszusprechen wagen und wir, die wir in Freiheit leben, nicht imstande sind, Menschen in Not beim nackten Überleben zu helfen? "Die Freiheit macht gedankenlos", heißt es bei Herta Müller, "das ist ja auch ein Glück." Aber wenn Freiheit in Ignoranz umschlägt, ist die Chance auf eine bessere Gesellschaft vertan.
Herta Müllers Essays, entstanden von 1990 bis 1995, die der Hanser Verlag unter dem Titel "Hunger und Seide" jetzt neu aufgelegt hat und die man als Begleitbändchen zu den aktuellen Gesprächen verstehen könnte, schlagen in eine ähnliche Kerbe. Sie verbinden Herta Müllers Erfahrungen aus der Diktatur mit ihrem Blick auf die politischen Konflikte der neunziger Jahre: etwa auf die Jugoslawien-Kriege oder die Anschläge auf die Asylbewerberheime in Hoyerswerda von 1991 und in Rostock-Lichtenhagen von 1992. Auch hier sind die Parallelen zur Gegenwart leicht gezogen. Sie erinnern daran, dass Geschichte von Menschenhand gemacht wird. "Das Gedächtnis verlässt die Wahrheit nicht. Die Wahrheit verlassen kann im Kalkül der Täuschung nur der Mund."
Herta Müller fordert in jenen Texten, die mehr Pamphlete als Essays sind, zum Handeln auf. Sie ringt uns einen Standpunkt ab; die Fähigkeit zur moralischen Tat. Dabei argumentiert sie mit dem Blick von außen, mit den Augen einer Banat-Schwäbin, die im rumänischen Nitzkydorf aufgewachsen und 1987 nach West-Berlin ausgewandert ist, ohne wirklich eine Heimat zu finden. Durch diese Doppelperspektive der Getriebenen ist sie imstande, die Feigheit politischer Akteure sowohl im Ausland als auch im freiheitlich-demokratischen Westen gleichermaßen anzuprangern.
Damit trifft sie beizeiten auf Unverständnis: "Meine Bücher stoßen hier in Deutschland auf zwei immer wiederkehrende Fragen. Die eine: Wann ich endlich über Deutschland schreibe. Die andere: Weshalb ich über Deutschland schreibe. Diese zweite hält meine Sicht auf dieses Land für falsch, weil sie mit der gewohnten Sicht nicht übereinstimmt. Das Fremde daran irritiert, man wittert die illegitime Einmischung. Die zweite Frage verweist mich ins Abgezirkelte: wo ich herkomme, darüber habe ich zu schreiben. In meinem zweiten, besseren Leben hier an der deutschen Brotkante habe ich das Recht, zu beißen und zu schlucken. Doch in diesem damals leeren und jetzt vollen, aber fremd gebliebenen Mund gebührt es sich, beim Essen wenigstens zu schweigen." Man kann nur protestieren und muss Herta Müller mehr denn je dazu auffordern, nicht stillzuhalten, sondern im Hier und Jetzt, in Zeiten der Ungerechtigkeit zu sprechen, zu mahnen und vor allem: zu schreiben.
TOMASZ KURIANOWICZ
Herta Müller: "Mein Vaterland war ein Apfelkern". Herausgegeben von Angelika Klammer.
Carl Hanser Verlag, München 2014. 240 S., geb., 19,90 [Euro].
Herta Müller: "Hunger und Seide". Essays.
Carl Hanser Verlag, München 2015. 192 S., geb., 18,90 [Euro].
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