Weimar - »Ilm-Athen« und »Goethestadt« mit dem Nachbarort Buchenwald. Der berühmte Dirigent, Musikwissenschaftler und Schriftsteller Peter Gülke, Nachfahre der Familie Vulpius, vergegenwärtigt sich in diesem Buch die prägenden Erfahrungen seines Lebens: die Kindheit in einer Stadt, die »der Führer« so gern besuchte; die Jugend in der stalinistischen DDR; der Musikerberuf im gelenkten Staat; 1983 dann der Entschluss, das Land zu verlassen, weil der Druck seitens der Stasi unerträglich geworden war; 1990 Rückkehr in sein »fernes, nahes, geschändetes, geliebtes Weimar«, das eine andere Stadt geworden ist. Immer wieder öffnen sich Aussichten auf vergangene Epochen, treten Goethe, seine Frau Christiane Vulpius, Herder, Schiller, Schopenhauer auf den Plan, aber auch Schubert, Bach, Mendelssohn - wie überhaupt Porträts von Musikern und brillante Musikbeschreibungen einen weiteren Schwerpunkt des Buches bilden. Ein wiederkehrendes Motiv sind die Besuche auf dem Ettersberg und dabei der Versuch, sich »das Unfassliche« des Menschheitsverbrechens zu erklären.
»Vielleicht muss einem die Stadt, in der so viel eigene Vergangenheit hängt, ganz verloren erscheinen, um neu erblickt, neu angenommen zu werden.«
»Vielleicht muss einem die Stadt, in der so viel eigene Vergangenheit hängt, ganz verloren erscheinen, um neu erblickt, neu angenommen zu werden.«
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2019Der Singsang der Schillerstraße und das Lager nebenan
Eine deutsche Stadt, doppelgesichtig: Peter Gülkes Erinnerungsbuch „Mein Weimar“
Als Peter Gülke, der Dirigent und Musik-schriftsteller aus Weimar, 2014 in Mün-chen den hoch dotiert noblen Siemens-Musikpreis überreicht bekam, zitierte er in seiner Rede Thomas Mann. Dieser habe in seiner Weimarer „Schiller-Rede“ 1955 den „Kulturschwund der unheimlichsten Art“ diagnostiziert und, überhaupt, die „von Verdummung trunkene, verwahrloste Menschheit“ beklagt. Gülke widerspricht nicht, doch sind ihm die bis heute angesammelten „Reichtümer und Möglichkeiten der Aneignung“ in den Kulturen der Welt offenbar noch wichtiger. Jetzt hat der 85-Jährige seine Erinnerungen verfasst, in dem Buch erscheint „Mein Weimar“ als die sehr zwiespältig empfundene Heimatstadt – die „Goethe-Stadt“ mit dem Albtraum-Ort Buchenwald gleich nebenan.
Und die Musik steht gar nicht im Vordergrund seiner Erinnerungen. Gülke, der scharfsinnige Intellektuelle, untersucht zunächst das besitzanzeigende Fürwort „mein“ und fragt dann gleich, was es mit dem Phänomen Erinnerung auf sich hat. Ernüchtert stellt er fest: „Im Sinne von Verwurzelung und Prägung besitzt sie mich hundertmal mehr als ich sie.“ Und bohrt weiter: „Insgesamt ist das eine kompliziert verflochtene Erinnerungs-Geographie mit Haupt- und Nebenadern, unterschiedlichen Wärme- und Helligkeitsgraden, leicht oder schwer greifbaren Anhalten.“
Kindheit und Jugend in Weimar ziehen vorüber, die stalinistische DDR und die sozialistische Musikwissenschaft sowie Goethe und Schiller. Es erscheint die Goethe-Ehefrau Christiane aus der Familie Vulpius, zu deren Nachfahren Peter Gülke gehört. Er weiß, warum Goethes praktikable Idee vom Lied hinderlich war, das lyrische Genie Franz Schuberts zu erkennen. Emotional, persönlich, erscheint die Erinnerung an das eigene Musizieren, an Schuberts großes Streichquintett etwa, bei dem der blutjunge Gülke das legendäre zweite Cello spielen durfte.
Berührend dann das kurze Porträt, das er dem Dirigenten Hermann Abendroth widmet, dem zweimal, in Köln und Leipzig, Verjagten, der am Pult der Weimarer Staatskapelle Zuflucht fand. Gülke hat „die erwärmende Menschlichkeit des unangestrengt kommunikativen Patriarchen“ zu seinem Glück erlebt.
So erinnert er sich an Abendroths Versi-on der „Sinfonia eroica“ Beethovens, ganz genau an die Takte 114 ff. im zweiten Satz, der Marcia funebre. Die Stelle habe unter Abendroths Leitung „die Schwere einer alle Kräfte sammelnden Verdichtung“ erreicht … Aber „wie sehr ist das“, fragt sich Gülke sofort, „nach mehr als sechzig Jahren zurechterinnert?“ Da kommt ihm Thomas Manns Definition des musikalischen Werks als „schwebendes Angebot“ in den Sinn. Und er denkt weiter: „In Tendenzen und Formen solcher Nachreife kommunizieren die Werke, kein Interpret bezieht seine Vorstellungen ausschließlich aus dem Notentext“.
Nachdem er der späten, 1882 gebore-nen Franz-Liszt-Tochter Ilona Höhnel ein Denkmal gesetzt hat (die Ähnlichkeit mit dem Vater bezeugt ihr Foto vor dem Weimarer Liszt-Denkmal), beschreibt Gülke, wie er in die Netze der Stasi gelangte und im März 1983, als er in Hamburg „Fidelio“ dirigieren durfte, in der Bundesrepublik blieb. Mit allen zwiespältigen Gefühlen der Trennung von der Familie, ohne Siegesgefühl, als er im Winter 1989/90 zurückkehrt. Er fühlt sich nach den sechs Jahren in Weimar als ein Fremder – und auch wieder nicht, denn „auf der Schillerstraße umfing mich der vertraut maulende thüringische Singsang … als ob bestimmte Sprach- und Mundeinstellungen, Vokaltönungen wie das mit hängendem Kiefer in Richtung ‚o‘ verbogene ‚a‘ mit Formulierungen ver-bunden wären“.
Die Wiederbegegnung mit Buchenwald, der Nazi-Vergangenheit auf dem Ettersberg, ruft Erschütterung hervor. Sie be-herrscht Gülkes Buch am Ende mit tief sitzendem Ernst – unter das Motto Johann Gottfried Herders gestellt: „O Menschheit, was solltest du sein, und was bist du geworden.“ Noch einmal, jetzt aber kunstmoralisch zugespitzt, lässt er Schiller und Goethe, Kant und Hegel Revue passieren. Jedoch: „Wie sehr fühlt man sich eingeladen, den Abgrund zwischen der Stadt und dem Lager unüberbrückbar zu finden, vom Grauen eine Idylle geschieden zu sehen, die sich den Luxus klassisch-humanistischer Träume leisten konnte!“
Weimar werde das Synonym für „den Unort, die Anti-Stadt“ nicht mehr los, zieht Peter Gülke am Ende sein Fazit der Bitterkeit. Und doch hat er darüber die Sprache in ihrer „kompliziert verflochtenen Erinnerungs-Geographie“ nicht verloren.
WOLFGANG SCHREIBER
Aber „wie sehr ist das“, fragt er
sich, „nach mehr als
sechzig Jahren zurechterinnert?“
„… kein Interpret bezieht seine
Vorstellungen ausschließlich
aus dem Notentext“
Peter Gülke: Mein Weimar. Insel Verlag, Berlin 2019. 175 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Eine deutsche Stadt, doppelgesichtig: Peter Gülkes Erinnerungsbuch „Mein Weimar“
Als Peter Gülke, der Dirigent und Musik-schriftsteller aus Weimar, 2014 in Mün-chen den hoch dotiert noblen Siemens-Musikpreis überreicht bekam, zitierte er in seiner Rede Thomas Mann. Dieser habe in seiner Weimarer „Schiller-Rede“ 1955 den „Kulturschwund der unheimlichsten Art“ diagnostiziert und, überhaupt, die „von Verdummung trunkene, verwahrloste Menschheit“ beklagt. Gülke widerspricht nicht, doch sind ihm die bis heute angesammelten „Reichtümer und Möglichkeiten der Aneignung“ in den Kulturen der Welt offenbar noch wichtiger. Jetzt hat der 85-Jährige seine Erinnerungen verfasst, in dem Buch erscheint „Mein Weimar“ als die sehr zwiespältig empfundene Heimatstadt – die „Goethe-Stadt“ mit dem Albtraum-Ort Buchenwald gleich nebenan.
Und die Musik steht gar nicht im Vordergrund seiner Erinnerungen. Gülke, der scharfsinnige Intellektuelle, untersucht zunächst das besitzanzeigende Fürwort „mein“ und fragt dann gleich, was es mit dem Phänomen Erinnerung auf sich hat. Ernüchtert stellt er fest: „Im Sinne von Verwurzelung und Prägung besitzt sie mich hundertmal mehr als ich sie.“ Und bohrt weiter: „Insgesamt ist das eine kompliziert verflochtene Erinnerungs-Geographie mit Haupt- und Nebenadern, unterschiedlichen Wärme- und Helligkeitsgraden, leicht oder schwer greifbaren Anhalten.“
Kindheit und Jugend in Weimar ziehen vorüber, die stalinistische DDR und die sozialistische Musikwissenschaft sowie Goethe und Schiller. Es erscheint die Goethe-Ehefrau Christiane aus der Familie Vulpius, zu deren Nachfahren Peter Gülke gehört. Er weiß, warum Goethes praktikable Idee vom Lied hinderlich war, das lyrische Genie Franz Schuberts zu erkennen. Emotional, persönlich, erscheint die Erinnerung an das eigene Musizieren, an Schuberts großes Streichquintett etwa, bei dem der blutjunge Gülke das legendäre zweite Cello spielen durfte.
Berührend dann das kurze Porträt, das er dem Dirigenten Hermann Abendroth widmet, dem zweimal, in Köln und Leipzig, Verjagten, der am Pult der Weimarer Staatskapelle Zuflucht fand. Gülke hat „die erwärmende Menschlichkeit des unangestrengt kommunikativen Patriarchen“ zu seinem Glück erlebt.
So erinnert er sich an Abendroths Versi-on der „Sinfonia eroica“ Beethovens, ganz genau an die Takte 114 ff. im zweiten Satz, der Marcia funebre. Die Stelle habe unter Abendroths Leitung „die Schwere einer alle Kräfte sammelnden Verdichtung“ erreicht … Aber „wie sehr ist das“, fragt sich Gülke sofort, „nach mehr als sechzig Jahren zurechterinnert?“ Da kommt ihm Thomas Manns Definition des musikalischen Werks als „schwebendes Angebot“ in den Sinn. Und er denkt weiter: „In Tendenzen und Formen solcher Nachreife kommunizieren die Werke, kein Interpret bezieht seine Vorstellungen ausschließlich aus dem Notentext“.
Nachdem er der späten, 1882 gebore-nen Franz-Liszt-Tochter Ilona Höhnel ein Denkmal gesetzt hat (die Ähnlichkeit mit dem Vater bezeugt ihr Foto vor dem Weimarer Liszt-Denkmal), beschreibt Gülke, wie er in die Netze der Stasi gelangte und im März 1983, als er in Hamburg „Fidelio“ dirigieren durfte, in der Bundesrepublik blieb. Mit allen zwiespältigen Gefühlen der Trennung von der Familie, ohne Siegesgefühl, als er im Winter 1989/90 zurückkehrt. Er fühlt sich nach den sechs Jahren in Weimar als ein Fremder – und auch wieder nicht, denn „auf der Schillerstraße umfing mich der vertraut maulende thüringische Singsang … als ob bestimmte Sprach- und Mundeinstellungen, Vokaltönungen wie das mit hängendem Kiefer in Richtung ‚o‘ verbogene ‚a‘ mit Formulierungen ver-bunden wären“.
Die Wiederbegegnung mit Buchenwald, der Nazi-Vergangenheit auf dem Ettersberg, ruft Erschütterung hervor. Sie be-herrscht Gülkes Buch am Ende mit tief sitzendem Ernst – unter das Motto Johann Gottfried Herders gestellt: „O Menschheit, was solltest du sein, und was bist du geworden.“ Noch einmal, jetzt aber kunstmoralisch zugespitzt, lässt er Schiller und Goethe, Kant und Hegel Revue passieren. Jedoch: „Wie sehr fühlt man sich eingeladen, den Abgrund zwischen der Stadt und dem Lager unüberbrückbar zu finden, vom Grauen eine Idylle geschieden zu sehen, die sich den Luxus klassisch-humanistischer Träume leisten konnte!“
Weimar werde das Synonym für „den Unort, die Anti-Stadt“ nicht mehr los, zieht Peter Gülke am Ende sein Fazit der Bitterkeit. Und doch hat er darüber die Sprache in ihrer „kompliziert verflochtenen Erinnerungs-Geographie“ nicht verloren.
WOLFGANG SCHREIBER
Aber „wie sehr ist das“, fragt er
sich, „nach mehr als
sechzig Jahren zurechterinnert?“
„… kein Interpret bezieht seine
Vorstellungen ausschließlich
aus dem Notentext“
Peter Gülke: Mein Weimar. Insel Verlag, Berlin 2019. 175 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2019Dank und Erinnern
Individuelles im Blick: Peter Gülke über seine Heimatstadt Weimar
In Deutschland, dem geographisch, politisch, kulturell so buntscheckigen, weil eng gekammerten Land, ist Weimar ein besonderer Fall. Seine Bürger haben ein ganz eigenes, persönliches, fast intimes Verhältnis zu ihrer Stadt und deren kulturgeschichtlicher Größe, auf das man in Wittenberg etwa, das doch vergleichbar sein sollte - auch darin, dass die vergangene Größe sich nicht vorrangig in Bauten oder Kunstbesitz materialisiert hat - nicht trifft.
In seinem neuen Buch "Mein Weimar" gibt Peter Gülke, der Dirigent und Musikwissenschaftler, ein Beispiel dieser Art des Denkens und Fühlens. Schon auf der ersten Seite legt er es offen: Um "mich weimarisch, als Sohn der Stadt zu definieren, schreibe ich hier - und um Dank zu sagen". Es ist ein sehr persönliches Buch geworden, darin liegt seine Stärke. Das betrifft auch, was Gülke über die DDR zu sagen hat. Viel Sympathie bringt er Partei und Staat nicht entgegen, was nicht erstaunt, 1983 war er nach einem Auftritt in Hamburg im Westen geblieben.
Er beschreibt, wie er und die anderen Studenten 1953 in der Aula der Musikhochschule die Hand zur Exmatrikulation von acht Kommilitonen hoben; noch Tage danach habe man sich "wie unter Drogen befunden", kaum miteinander sprechen können. "Später dann, nie mehr beschwichtigt, die Frage: Wer waren wir an diesem Abend? Jedenfalls nicht wir selbst. Das haben sie gekonnt." Und rund drei Jahrzehnte später eine Erfahrung, die er als Generalmusikdirektor in Weimar machte: Vor eine Aufführung der Neunten Sinfonie Beethovens hatte er Schönbergs "Ein Überlebender von Warschau" stellen wollen, die SED aber verhinderte das: "Wir sind das bessere Deutschland, wir haben das nicht nötig."
Allerdings habe sich im Willen, dem Druck von oben standzuhalten, auch eine verschwörerische Atmosphäre entwickelt; in dieser "Verschwörer-Verbundenheit" sei vieles entstanden, hervorragende Inszenierungen wie gründliche editorische Arbeiten. Und Borniertheiten findet der Autor auch im Westen, vor allem in dessen "monolithischem Bild" der DDR-Gesellschaft. Das Monolithische ist ihm in allen Zusammenhängen zuwider, er will ein Mann des individualisierenden Blickes sein.
Dieses Interesse für den einzelnen Fall ist der schönste Zug des Buches, darin liegt eine unprogrammatische Humanität. Gülke erinnert sich an ein Mädchen aus dem Kindergarten, Anneliese Mellinger, die wohl behindert war. Als 1939/40 "sachkundige Herren" kamen, um die Kinder zu inspizieren, mussten diese sich halb ausziehen, Anneliese Mellinger aber vollständig. Was ist mit ihr geschehen? Ist sie umgebracht worden? Gülke weiß es nicht, aber er erinnert sich an die Situation, die Peinlichkeit, das Mitleid, das die Kinder empfanden, das "entsetzte Gesicht der Kindergärtnerinnen".
Tiefen Eindruck muss auf ihn die Kindergärtnerin Käte Michael gemacht haben, die eine Atmosphäre von Fröhlichkeit, kindlichem Selbstvertrauen und Behauptungswillen schuf. "Dennoch, trotz aller wuseligen Lebendigkeit, kein Summerhill! Hier musste gehorcht werden (...), ein beschwingtes wie strenges Regiment." Es klingt wie der Sinnspruch des Leipziger Gewandhauses: "Res severa verum gaudium". An solchen Stellen bekommt der Leser zu fassen, was für Gülke die Eigenart Weimars ausmacht: das "existentielle, auf Identifikation drängende Verhältnis" zur Kunst. Sein Ideal ist Hermann Abendroths Arbeit mit dem Weimarer Orchester: "In Weimar gab es eine besondere, bis aufs spieltechnische Niveau durchschlagende Nähe." Das ging und geht wohl bis heute mit Konservatismus, einer gewissen Betulichkeit einher. Und es kennzeichnet Gülke, dass ihm dieser Konservatismus so bedenklich ist wie umgekehrt das aktuell sich rasch einstellende "Odium des Schon-Dagewesenen".
Aber vielleicht hat Weimars große, auch lastende Tradition mehr als nur ästhetischen Konservatismus zur Folge gehabt. Gülke beendet sein Buch mit Gedanken zum Konzentrationslager Buchenwald, ruft dabei die Klassiker zum Thema auf, sein Blickwinkel ist ein anthropologischer. Aber was, wenn nicht am KZ Buchenwald, so doch an den frühen großen Erfolgen des Nationalsozialismus in Thüringen und Weimar ortstypisch gewesen sein könnte, das wäre auch eine Überlegung wert gewesen.
STEPHAN SPEICHER
Peter Gülke: "Mein Weimar".
Insel Verlag, Berlin 2019. 176 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Individuelles im Blick: Peter Gülke über seine Heimatstadt Weimar
In Deutschland, dem geographisch, politisch, kulturell so buntscheckigen, weil eng gekammerten Land, ist Weimar ein besonderer Fall. Seine Bürger haben ein ganz eigenes, persönliches, fast intimes Verhältnis zu ihrer Stadt und deren kulturgeschichtlicher Größe, auf das man in Wittenberg etwa, das doch vergleichbar sein sollte - auch darin, dass die vergangene Größe sich nicht vorrangig in Bauten oder Kunstbesitz materialisiert hat - nicht trifft.
In seinem neuen Buch "Mein Weimar" gibt Peter Gülke, der Dirigent und Musikwissenschaftler, ein Beispiel dieser Art des Denkens und Fühlens. Schon auf der ersten Seite legt er es offen: Um "mich weimarisch, als Sohn der Stadt zu definieren, schreibe ich hier - und um Dank zu sagen". Es ist ein sehr persönliches Buch geworden, darin liegt seine Stärke. Das betrifft auch, was Gülke über die DDR zu sagen hat. Viel Sympathie bringt er Partei und Staat nicht entgegen, was nicht erstaunt, 1983 war er nach einem Auftritt in Hamburg im Westen geblieben.
Er beschreibt, wie er und die anderen Studenten 1953 in der Aula der Musikhochschule die Hand zur Exmatrikulation von acht Kommilitonen hoben; noch Tage danach habe man sich "wie unter Drogen befunden", kaum miteinander sprechen können. "Später dann, nie mehr beschwichtigt, die Frage: Wer waren wir an diesem Abend? Jedenfalls nicht wir selbst. Das haben sie gekonnt." Und rund drei Jahrzehnte später eine Erfahrung, die er als Generalmusikdirektor in Weimar machte: Vor eine Aufführung der Neunten Sinfonie Beethovens hatte er Schönbergs "Ein Überlebender von Warschau" stellen wollen, die SED aber verhinderte das: "Wir sind das bessere Deutschland, wir haben das nicht nötig."
Allerdings habe sich im Willen, dem Druck von oben standzuhalten, auch eine verschwörerische Atmosphäre entwickelt; in dieser "Verschwörer-Verbundenheit" sei vieles entstanden, hervorragende Inszenierungen wie gründliche editorische Arbeiten. Und Borniertheiten findet der Autor auch im Westen, vor allem in dessen "monolithischem Bild" der DDR-Gesellschaft. Das Monolithische ist ihm in allen Zusammenhängen zuwider, er will ein Mann des individualisierenden Blickes sein.
Dieses Interesse für den einzelnen Fall ist der schönste Zug des Buches, darin liegt eine unprogrammatische Humanität. Gülke erinnert sich an ein Mädchen aus dem Kindergarten, Anneliese Mellinger, die wohl behindert war. Als 1939/40 "sachkundige Herren" kamen, um die Kinder zu inspizieren, mussten diese sich halb ausziehen, Anneliese Mellinger aber vollständig. Was ist mit ihr geschehen? Ist sie umgebracht worden? Gülke weiß es nicht, aber er erinnert sich an die Situation, die Peinlichkeit, das Mitleid, das die Kinder empfanden, das "entsetzte Gesicht der Kindergärtnerinnen".
Tiefen Eindruck muss auf ihn die Kindergärtnerin Käte Michael gemacht haben, die eine Atmosphäre von Fröhlichkeit, kindlichem Selbstvertrauen und Behauptungswillen schuf. "Dennoch, trotz aller wuseligen Lebendigkeit, kein Summerhill! Hier musste gehorcht werden (...), ein beschwingtes wie strenges Regiment." Es klingt wie der Sinnspruch des Leipziger Gewandhauses: "Res severa verum gaudium". An solchen Stellen bekommt der Leser zu fassen, was für Gülke die Eigenart Weimars ausmacht: das "existentielle, auf Identifikation drängende Verhältnis" zur Kunst. Sein Ideal ist Hermann Abendroths Arbeit mit dem Weimarer Orchester: "In Weimar gab es eine besondere, bis aufs spieltechnische Niveau durchschlagende Nähe." Das ging und geht wohl bis heute mit Konservatismus, einer gewissen Betulichkeit einher. Und es kennzeichnet Gülke, dass ihm dieser Konservatismus so bedenklich ist wie umgekehrt das aktuell sich rasch einstellende "Odium des Schon-Dagewesenen".
Aber vielleicht hat Weimars große, auch lastende Tradition mehr als nur ästhetischen Konservatismus zur Folge gehabt. Gülke beendet sein Buch mit Gedanken zum Konzentrationslager Buchenwald, ruft dabei die Klassiker zum Thema auf, sein Blickwinkel ist ein anthropologischer. Aber was, wenn nicht am KZ Buchenwald, so doch an den frühen großen Erfolgen des Nationalsozialismus in Thüringen und Weimar ortstypisch gewesen sein könnte, das wäre auch eine Überlegung wert gewesen.
STEPHAN SPEICHER
Peter Gülke: "Mein Weimar".
Insel Verlag, Berlin 2019. 176 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Stephan Speicher verdankt dem Dirigenten und Musikwissenschaftler Peter Gülke einen "intimen" Blick auf Weimar. Von der "verschwörerischen Atmosphäre" und besonderen Inszenierungen in der DDR berichtet ihm Gülke, der 1983 nach einem Auftritt in Hamburg im Westen blieb, ebenso, wie er das "monolithische Bild" des Westen auf die DDR-Gesellschaft kritisiert. Es ist denn auch Gülke Blick auf Einzelfälle, das dieses Buch für Speicher einzigartig macht: Er liest hier etwa von Gülkes Kindergärtnerin, die in jenen Jahren, als die Nazis in den Kindergarten kamen, um die Kinder zu inspizieren, eine Atmosphäre von "Fröhlichkeit und Selbstvertrauen" verbreitete. Mit Interesse liest der Rezensent auch Gülkes Gedanken zum ästhetischen Konservatismus in Weimar, gern hätte er allerdings etwas über die frühen Erfolge des Nationalsozialismus in Thüringen und Weimar erfahren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Dieses Interesse für den einzelnen Fall ist der schönste Zug des Buches, darin liegt eine unprogrammatische Humanität.« Stephan Speicher Frankfurter Allgemeine Zeitung 20191203