Die personliche Familienchronik der Harnoncourts. Nikolaus Harnoncourts Kindheit und Jugend war von der Not und den Folgen des Zweiten Weltkriegs, dem Erziehungscodex des adeligen Standes seiner Familie und der Liebe zur Musik gepragt. Eine Welt im Umbruch, eine Ara der politischen und gesellschaftlichen Veranderung. Um seinen Kindern und Enkeln diese Zeit naherzubringen, schrieb er seine Erinnerungen und Reflektionen in dem "e;Familienbuch"e; auf. Wie ging seine Familie mit dem okonomischen und politischen Wandel um? Wie lebte es sich nach dem Zusammenbruch des bisher Gewesenen? Und welche Traditionen pragten die Familie Harnoncourt? Die personlichen Aufzeichnungen von Nikolaus Harnoncourt sind eine spannende Spurensuche in die Vergangenheit.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2018Den Csárdás lernte er von seiner wilden Mutter
Schicksalsgegerbt: Die Erinnerungen des Dirigenten Nikolaus Harnoncourt sind die fesselnde Beschreibung einer reichen Kindheit.
Von Jan Brachmann
Streiten möchte man sich sofort wieder mit Nikolaus Harnoncourt, mit dem es sich das herrlich laut und lustig machen ließ; flugs ins Wort fallen will man ihm, wenn man jetzt, da er schon mehr als zwei Jahre lang nicht mehr unter uns ist, gewissermaßen aus dem Jenseits noch Sätze von ihm liest wie diese: "Warum kennt die Kunst kein Ja? Sofort würde es Kitsch. Sie kennt nur das Nein, die große Frage, den tieferen, furchtbaren Einblick. Echte Kunst ist ja auch deshalb immer Opposition."
Das ist, so apodiktisch gesagt, geradezu ein Selbstwiderspruch, weil dieses betonierte Nein seinerseits alle Fragen erstickt und - man schaue sich nur das heutige Kunstgewerbe der Negativität im Regietheater an - zu einem eigenen Kitsch konfektionierter Opposition geführt hat.
Doch Harnoncourt wäre nicht Harnoncourt, der auch als Dirigent die Klangrede nicht ohne Widerrede denken konnte, wenn er sich nicht sofort selbst ins Wort fiele: "Genaugenommen ist natürlich NEIN genauso abschließend wie JA." Letztlich geht es hier auch gar nicht um ästhetische Fragen, sondern um solche des Charakters: Denn Nikolaus Harnoncourt war ein Kind mit rätselhaften, ihm selbst nicht erklärlichen Ausbrüchen der Weltablehnung, die sich in stundenlangem Brüllen Luft machte, das alle Erwachsenen in Ratlosigkeit stürzte. Sein erstes Wort, bezeugte die Mama, war "nein".
Um sich selbst und seine Familie geht es in diesem Erinnerungsbuch. Es ist bereits das zweite, das seine Witwe Alice aus dem Nachlass des Dirigenten, Cellisten und Musikhistorikers herausbringt. Beschäftigte sich das erste, "Wir sind eine Entdeckergemeinschaft", vor allem mit dem Ensemble Concentus Musicus Wien, das durch sein Spiel auf historischen Instrumenten die Interpretationsgeschichte beherzt umgekrempelt hat, so nimmt dieses zweite Buch die Zeit davor in den Blick. Und die reicht über die Kindheit Harnoncourts in Berlin und Graz weit in die Vergangenheit zurück. Zwei Stammbäume im Anhang zeigen die Herkunft als Übersicht: einmal die väterliche Linie der lothringisch-luxemburgischen Grafen d'Harnoncourt-et-Unverzagt und dann die mütterliche, die zu Erzherzog Johann von Österreich, also ins Haus Habsburg führt. Es ist eine Ahnenreihe, zu deren Verwandten auch Moritz Reichsgraf von Fries gehört, der Widmungsträger der siebten Symphonie von Ludwig van Beethoven, oder Franz Graf von Deym, ein Angehöriger jener Familie, in welche Josephine von Brunsvik, Beethovens "Unsterbliche Geliebte", eingeheiratet hatte.
Doch nicht die dynastische Verästelung macht dieses Buch so fesselnd, sondern die plastische Charakterschilderung der Menschen und ihrer Schicksale. Vater und Mutter heirateten schnell. Der Vater hatte seine erste Frau infolge eines ärztlichen Kunstfehlers jung verloren und war als alleinerziehender Tiefbauingenieur mit zwei kleinen Kindern in Berlin-Wilmersdorf zurückgeblieben. Die Mutter wollte, nachdem ihr Verlobter sich erschossen hatte, nie heiraten und im Wiener Rudolfinerhaus als Krankenschwester arbeiten.
Mit welchem Ernst und welcher Entschlossenheit diese zwei Menschen in die Ehe gingen, hinterlässt beim Leser einen starken Eindruck. Nikolaus war ihr erstes gemeinsames Kind. Er beschreibt seinen Vater als einen viel begabten Menschen, der Musiker hatte werden wollen, es aber nicht werden durfte, zur österreichischen Marine ging, noch mitten im Krieg, teils im U-Boot, Operettenschlager schrieb und nach dem Ersten Weltkrieg als Ingenieur seine Familie ernährte - in aufopferungsvollem Fleiß, aber mit größter Heiterkeit. Nikolaus Harnoncourt war vierzehn Jahre alt, als der Vater ihm während der letzten Kriegstage 1945 für den Fall seines Todes die Verantwortung für die Familie in die Hände legte.
Die Mutter lebte Nächstenliebe und Selbstbeherrschung vor, nahm, obwohl die Familie "an der Armutsgrenze" lebte, in den dreißiger Jahren noch ein fremdes Kind in Graz als Kostgänger ins Haus. Aber in ihrem Innern brodelte ein Vulkan, der jäh ausbrechen konnte. Sie war eine wilde Tänzerin, die in ihrer Jugend beim Getreidedreschen auf der Tenne mit ungarischen Landarbeitern - sie sprach "perfekt Ungarisch" - Csárdás tanzte, wovon ihr Sohn später profitierte, als er den "Zigeunerbaron" von Johann Strauß oder Musik von Béla Bartók dirigierte. Noch als Siebzigjährige soll die begeisterte Fußballfreundin im Grazer Stadion mit ihrem Blindenstock wildfremde Zuschauer verdroschen haben, als die Begeisterung über drei Tore in Folge beim Grazer Athletiksport-Klub mit ihr durchging. Ihren Kindern brachte sie, die "wilde Laja", Gräfin von Meran, mit explodierendem Temperament steirische Lieder bei, so dass sich die Kinder fragten: "Was ist los?! Ist das Mama? Die ruhige, überlegene? Was ist in sie gefahren?"
Während des Krieges, beim Wandern im Gebirge, schloss Harnoncourt Freundschaft mit Michael Kehlmann, dem späteren Regisseur, Schauspieler und Vater des Schriftstellers Daniel Kehlmann. In den letzten Kriegsmonaten, ab Herbst 1944, spielte er mit Louise und Nicole Heesters Marionettentheater und erhielt von Johannes Heesters Sprechunterricht. Viel früher schon hatte Onkel René, ein Bruder des Vaters, der später Direktor des Museum of Modern Art wurde, Partituren von George Gershwin geschickt, so dass Harnoncourt mit "Porgy and Bess" aufwuchs. Unter den Verwandten gab es stramme Nazis und entschiedene Nazi-Gegner, unter den Spielkameraden einen Juden, der sich als harter Hitlerjunge zu tarnen wusste.
Am Ende stehen die Berichte von Tante Renata und Onkel Gerhard, die als deutsches Diplomatenpaar 1945 in Bukarest verhaftet worden waren und mehr als ein Jahrzehnt in sowjetischen Lagern interniert wurden. Es sind Erzählungen von Ungewissheit und Treue, von Schändung und Solidarität und von der Zuneigung zur russischen Sprache und Literatur. Eine Kindheit und Jugend, von elterlicher Liebe getragen, aber niemals überbehütet, reich an Begegnungen, politischen Positionen, Begabungen und Charakteren ersteht hier vor uns. Und es ist dieser Reichtum vorgelebter Überzeugungen, beglaubigter Ansichten, schicksalsgegerbter Sprache, die das Musizieren von Nikolaus Harnoncourt geprägt hat - vermutlich stärker als alle Lektüre von Traktaten und alles Studium des Instrumentenbaus. Wie Harnoncourt der wurde, der er war, das lässt dieses Buch erahnen.
Nikolaus Harnoncourt: "Meine Familie".
Herausgegeben von Alice Harnoncourt.
Residenz Verlag, Salzburg / Wien 2018. 240 S., Abb., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schicksalsgegerbt: Die Erinnerungen des Dirigenten Nikolaus Harnoncourt sind die fesselnde Beschreibung einer reichen Kindheit.
Von Jan Brachmann
Streiten möchte man sich sofort wieder mit Nikolaus Harnoncourt, mit dem es sich das herrlich laut und lustig machen ließ; flugs ins Wort fallen will man ihm, wenn man jetzt, da er schon mehr als zwei Jahre lang nicht mehr unter uns ist, gewissermaßen aus dem Jenseits noch Sätze von ihm liest wie diese: "Warum kennt die Kunst kein Ja? Sofort würde es Kitsch. Sie kennt nur das Nein, die große Frage, den tieferen, furchtbaren Einblick. Echte Kunst ist ja auch deshalb immer Opposition."
Das ist, so apodiktisch gesagt, geradezu ein Selbstwiderspruch, weil dieses betonierte Nein seinerseits alle Fragen erstickt und - man schaue sich nur das heutige Kunstgewerbe der Negativität im Regietheater an - zu einem eigenen Kitsch konfektionierter Opposition geführt hat.
Doch Harnoncourt wäre nicht Harnoncourt, der auch als Dirigent die Klangrede nicht ohne Widerrede denken konnte, wenn er sich nicht sofort selbst ins Wort fiele: "Genaugenommen ist natürlich NEIN genauso abschließend wie JA." Letztlich geht es hier auch gar nicht um ästhetische Fragen, sondern um solche des Charakters: Denn Nikolaus Harnoncourt war ein Kind mit rätselhaften, ihm selbst nicht erklärlichen Ausbrüchen der Weltablehnung, die sich in stundenlangem Brüllen Luft machte, das alle Erwachsenen in Ratlosigkeit stürzte. Sein erstes Wort, bezeugte die Mama, war "nein".
Um sich selbst und seine Familie geht es in diesem Erinnerungsbuch. Es ist bereits das zweite, das seine Witwe Alice aus dem Nachlass des Dirigenten, Cellisten und Musikhistorikers herausbringt. Beschäftigte sich das erste, "Wir sind eine Entdeckergemeinschaft", vor allem mit dem Ensemble Concentus Musicus Wien, das durch sein Spiel auf historischen Instrumenten die Interpretationsgeschichte beherzt umgekrempelt hat, so nimmt dieses zweite Buch die Zeit davor in den Blick. Und die reicht über die Kindheit Harnoncourts in Berlin und Graz weit in die Vergangenheit zurück. Zwei Stammbäume im Anhang zeigen die Herkunft als Übersicht: einmal die väterliche Linie der lothringisch-luxemburgischen Grafen d'Harnoncourt-et-Unverzagt und dann die mütterliche, die zu Erzherzog Johann von Österreich, also ins Haus Habsburg führt. Es ist eine Ahnenreihe, zu deren Verwandten auch Moritz Reichsgraf von Fries gehört, der Widmungsträger der siebten Symphonie von Ludwig van Beethoven, oder Franz Graf von Deym, ein Angehöriger jener Familie, in welche Josephine von Brunsvik, Beethovens "Unsterbliche Geliebte", eingeheiratet hatte.
Doch nicht die dynastische Verästelung macht dieses Buch so fesselnd, sondern die plastische Charakterschilderung der Menschen und ihrer Schicksale. Vater und Mutter heirateten schnell. Der Vater hatte seine erste Frau infolge eines ärztlichen Kunstfehlers jung verloren und war als alleinerziehender Tiefbauingenieur mit zwei kleinen Kindern in Berlin-Wilmersdorf zurückgeblieben. Die Mutter wollte, nachdem ihr Verlobter sich erschossen hatte, nie heiraten und im Wiener Rudolfinerhaus als Krankenschwester arbeiten.
Mit welchem Ernst und welcher Entschlossenheit diese zwei Menschen in die Ehe gingen, hinterlässt beim Leser einen starken Eindruck. Nikolaus war ihr erstes gemeinsames Kind. Er beschreibt seinen Vater als einen viel begabten Menschen, der Musiker hatte werden wollen, es aber nicht werden durfte, zur österreichischen Marine ging, noch mitten im Krieg, teils im U-Boot, Operettenschlager schrieb und nach dem Ersten Weltkrieg als Ingenieur seine Familie ernährte - in aufopferungsvollem Fleiß, aber mit größter Heiterkeit. Nikolaus Harnoncourt war vierzehn Jahre alt, als der Vater ihm während der letzten Kriegstage 1945 für den Fall seines Todes die Verantwortung für die Familie in die Hände legte.
Die Mutter lebte Nächstenliebe und Selbstbeherrschung vor, nahm, obwohl die Familie "an der Armutsgrenze" lebte, in den dreißiger Jahren noch ein fremdes Kind in Graz als Kostgänger ins Haus. Aber in ihrem Innern brodelte ein Vulkan, der jäh ausbrechen konnte. Sie war eine wilde Tänzerin, die in ihrer Jugend beim Getreidedreschen auf der Tenne mit ungarischen Landarbeitern - sie sprach "perfekt Ungarisch" - Csárdás tanzte, wovon ihr Sohn später profitierte, als er den "Zigeunerbaron" von Johann Strauß oder Musik von Béla Bartók dirigierte. Noch als Siebzigjährige soll die begeisterte Fußballfreundin im Grazer Stadion mit ihrem Blindenstock wildfremde Zuschauer verdroschen haben, als die Begeisterung über drei Tore in Folge beim Grazer Athletiksport-Klub mit ihr durchging. Ihren Kindern brachte sie, die "wilde Laja", Gräfin von Meran, mit explodierendem Temperament steirische Lieder bei, so dass sich die Kinder fragten: "Was ist los?! Ist das Mama? Die ruhige, überlegene? Was ist in sie gefahren?"
Während des Krieges, beim Wandern im Gebirge, schloss Harnoncourt Freundschaft mit Michael Kehlmann, dem späteren Regisseur, Schauspieler und Vater des Schriftstellers Daniel Kehlmann. In den letzten Kriegsmonaten, ab Herbst 1944, spielte er mit Louise und Nicole Heesters Marionettentheater und erhielt von Johannes Heesters Sprechunterricht. Viel früher schon hatte Onkel René, ein Bruder des Vaters, der später Direktor des Museum of Modern Art wurde, Partituren von George Gershwin geschickt, so dass Harnoncourt mit "Porgy and Bess" aufwuchs. Unter den Verwandten gab es stramme Nazis und entschiedene Nazi-Gegner, unter den Spielkameraden einen Juden, der sich als harter Hitlerjunge zu tarnen wusste.
Am Ende stehen die Berichte von Tante Renata und Onkel Gerhard, die als deutsches Diplomatenpaar 1945 in Bukarest verhaftet worden waren und mehr als ein Jahrzehnt in sowjetischen Lagern interniert wurden. Es sind Erzählungen von Ungewissheit und Treue, von Schändung und Solidarität und von der Zuneigung zur russischen Sprache und Literatur. Eine Kindheit und Jugend, von elterlicher Liebe getragen, aber niemals überbehütet, reich an Begegnungen, politischen Positionen, Begabungen und Charakteren ersteht hier vor uns. Und es ist dieser Reichtum vorgelebter Überzeugungen, beglaubigter Ansichten, schicksalsgegerbter Sprache, die das Musizieren von Nikolaus Harnoncourt geprägt hat - vermutlich stärker als alle Lektüre von Traktaten und alles Studium des Instrumentenbaus. Wie Harnoncourt der wurde, der er war, das lässt dieses Buch erahnen.
Nikolaus Harnoncourt: "Meine Familie".
Herausgegeben von Alice Harnoncourt.
Residenz Verlag, Salzburg / Wien 2018. 240 S., Abb., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main