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Lesung mit Claudia Rusch
"Ich bin sehr heil aus dieser ganzen Geschichte hervorgegangen", sagt Claudia Rusch am Ende ihrer Lesung, nachdem sie in der Carolus-Buchhandlung Momente aus ihrem Leben geschildert hat, die das nicht unbedingt nahelegen. In ihrem Erstling "Meine freie deutsche Jugend" schildert die in Stralsund geborene Autorin, Jahrgang 1971, in fünfundzwanzig Texten ihre Kindheit und Jugend in der DDR, aber auch Erlebnisse aus der Nachwendezeit. Nur wenige Jahre verbringt die Tochter eines Marineoffiziers der NVA auf Rügen, dann zieht die politisch aktive Mutter mit ihr ins Berliner Umland, zu ihren Freunden Katja und Robert Havemann. Kurz darauf wird Wolf Biermann ausgebürgert, und der Dissident Havemann steht unter Hausarrest.
Die Ladas der Stasi vor der Haustür gehören von da an zu ihrem Alltag. "Kakerlaken" werden sie im Hause Havemann genannt, für das Kind ein ganz normaler Ausdruck, klang ja auch "ein bißchen russisch". Als ihr Jahre später ein Freund erklärt, hinter der Spüle des Studentenwohnheims lebten geschätzte 200 Kakerlaken, denkt sie natürlich nicht an Küchenschaben, sondern an eng zusammengedrängte Männer, die gleichzeitig durch das Loch im Wasserhahn glotzen. Wenn die Normalität von Anfang an auf den Kopf gestellt wurde, wird das Ungewöhnliche eben ganz gewöhnlich. Und der Status des Außenseiters schafft einen besonderen Zusammenhalt: "Ich hatte das Gefühl, zu Hause einen Hort zu haben", sagt Claudia Rusch, und man glaubt ihr das. Gramgeschüttelte Sentimentalität nämlich findet sich nirgends, authentisch, humorvoll und leicht wirken ihre Geschichten, mit meist augenzwinkernden Pointen.
Letztere finden sich, in galgenhumoriger Variante, sogar in ernsten Passagen wie jener, in der "IM Buche" enttarnt wird, die ihre Mutter über dreißig Jahre lang bespitzelt haben soll. Ein Eingriff, der "alles in Frage" stellt, sogar die Großmutter. Als diese, von jedem Verdacht befreit, mit Tochter und Enkelin darauf anstößt, "daß dieser Kelch an uns vorübergegangen ist", wird sich wohl mancher gefragt haben, wie man solche staatlich gesteuerten Vertrauensbrüche "heil" übersteht. Doch im nächsten Moment kann man sich wieder gut vorstellen, wie Claudia Rusch mit ihrer tiefen energischen Stimme in den letzten Tagen der DDR die Abiturientenrede hält, das Zucken in den Gesichtern der Offiziellen genießt und im vollen Bewußtsein ihrer Macht die Freiheit nutzt, die Denunzianten nicht zu denunzieren.
In einer anderen Geschichte besteht die Freiheit in einer von Rügen aus gestarteten Ostseereise ins einst unerreichbare schwedische Trelleborg. In der letzten, die sie liest, bedeutet Freiheit den Kauf von so viel Raider, wie es die Hälfte des Begrüßungsgelds hergibt - jenes Intershop-Juwel, dessen goldenes Papier früher wochenlang aufgehoben wurde. Als Ostalgie will die Autorin das nicht verstanden wissen.
KRISTINA MICHAELIS
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