Innenansichten eines Unrechtssystems. Der soeben aus der Lagerhaft entlassen Michail Chodorkowski schreibt bewegende Portraits seiner Mitgefangenen - und entlarvt das verrottete System der russischen Justiz. Nach über zehn Jahren Inhaftierung kennt Michail Chodorkowski, einst reichster Mann Russlands, das korrupte System der russischen Justiz von innen. In Meine Mitgefangenen porträtiert er Mithäftlinge, die er in den Straf lagern Sibiriens und Kareliens kennenlernte. Erniedrigte und Beleidigte, von einem korrupten System Weggeworfene und Verratene. Menschen, die aufgaben, und solche, die trotz allem ihre Würde bewahrten.Da ist Nikolai, wegen Drogenbesitz verhaftet, aber durch einen inoffiziellen Deal genötigt, eine zweite Straftat auf sich zu nehmen. Doch sich dazu bekennen, einer alten Frau die Handtasche weggenommen zu haben, will er um keinen Preis: einer Oma das Letzte wegnehmen, das würde er nie tun. Nur durch einen Selbstmordversuch kann er sich dem Schuldbekenntnis entziehen. Da ist Arkadi, ein Spitzel, der Neuankömmlinge in der Haftanstalt aushorcht und dafür kleine Vorteile bekommt. Da ist Sergej, der Sonderstatus genießt, weil er mit der Gefängnisleitung kooperiert, da sind gekaufte Zeugen und solche, die sich im entscheidenden Moment doch zur Wahrheit bekennen. Meine Mitgefangenen ist ein Buch über Menschen in extremen Situationen, über die Ruinen eines Systems, das Recht bringen sollte und ein Instrument der Macht geworden ist und ein Buch über Würde an einem Ort, an dem niemand sie vermutet.
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Beim Lesen von Michail Chodorkowskis Buch relativiert sich für Inga Pylypchuk das Bild des russischen Mannes. Was der Putin-Gegner hier nüchtern aufschreibt, sind laut Rezensentin knappe Porträts von Männern, die der Autor in Gefängnissen kennengelernt hat, gebrochene Männer in der Isolation. Dass Chodorkowski trotz aller Nähe im Wesentlichen sachlich bleibt, rechnet die Rezensentin ihm hoch an. Leider erfährt sie über den Autor selbst und seine Gefühle und Gedanken eher wenig. Und das Russland-Bild, das er entwirft, bleibt für sie allenfalls bruchstückhaft.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.06.2014Diebe, Nazis und Unschuldige
Im Lager kann hier jeder enden: Michail Chodorkowskis Porträts seiner Mitgefangenen sind ein Appell gegen Gleichgültigkeit und ein bestürzendes Zeugnis einer korrupten Justiz und Polizei in Russland.
In diesem schmalen Büchlein über die Straflager und Gefängnisse von heute ist halb Russland versammelt, mindestens, jedenfalls könnte man es so sehen. Denn schon in seinem (extrem kurzen) Vorwort deutet Michail Chodorkowskij an, warum: weil es jeden erwischen kann, die oben wie die unten. Weil Willkür herrscht und Erbarmungslosigkeit und sich keiner sicher sein darf, nicht doch unschuldig ins Gefängnis geworfen zu werden, all sein Hab und Gut zu verlieren und schlimmstenfalls das Leben. Darum sei "anständiges Verhalten keine besonders überzeugende Verteidigung" vor Gericht, schreibt Chodorkowskij für russische Leser, die vielleicht doch glauben, ihnen könnte das nie zustoßen, da sie weder klauen noch erpressen.
"Meine Mitgefangenen" versammelt die Kolumnen, die der einstige Oligarch und Putin-Kritiker während seiner Haftjahre für die regierungskritische russische Zeitschrift "The New Times" geschrieben hat. Dass er die Buchpremiere in Freiheit erleben würde, hatte eigentlich niemand erwartet. Im Gegenteil, kurz vor seiner überraschenden Freilassung im Winter verdichteten sich Gerüchte, Moskau bereite einen dritten Prozess gegen ihn vor. Dass ihm seine scharfe Kritik, seine schonungslose Offenheit irgendwie schaden könnten, hat den schreibenden Häftling Chodorkowski offenbar nie umgetrieben. Wer ihm schaden wollte, würde ihm schaden, so oder so. Ob er brav und duldsam alle Zumutungen ertragen würde oder aufbegehrte, das Drehbuch für die nächste Runde im ersten oder letzten Kreis der Hölle oder auch für die Freilassung schrieben andere, ohne ihn, ohne Intervention von außen.
Michail Chodorkowskijs kurze, präzise Porträts über seine Mithäftlinge - Spitzel, Bauern, Unternehmer, Banditen, Junkies, Diebe, Nazis und Unschuldige - sind Parabeln des Schreckens und des Mitgefühls aus den Straflagern Sibiriens und Kareliens. Rechtsfreie Räume, die entweder von Kriminellen beherrscht werden oder, was noch furchtbarer sei, von der bürokratischen Gesetzlosigkeit. Es ist eine real existierende parallele Welt, aus der selten Nachrichten dringen, in der Wahnsinn und Willkür hingenommen werden als das scheinbar Normale, das nur so zu ertragen ist und nur so Hoffnung zulässt. Über sich selbst gibt Chodorkowski kaum etwas preis, allenfalls sein klarer, unbestechlicher Blick auf die Verhältnisse und seine Mitmenschen verraten einen sensiblen Beobachter und brillanten Analytiker sozialer Zustände. Nur hier und da streut er in seine Miniaturen auch moralische Appelle an die russischen Leser ein, weil er den Zusammenbruch der ruinierten Gesellschaft fürchtet, in der "Gleichgültigkeit zur Norm geworden ist".
Wo es möglich ist, dass ein sehr junger, einfacher Mann eingesperrt wird, weil seine Freundin minderjährig ist, eine von deren Eltern geduldete, beschützte Liebe. Doch gleichzeitig läuft eine "Kampagne gegen Pädophilie", die Miliz muss Erfolge melden, da nimmt man, was man kriegt, und weder die verhinderte Braut noch die Eltern, nicht einmal die Richterin können den Wahnsinn aufhalten. Nach zwei Lagerjahren gibt Alexej das Mädchen frei: "Warte nicht mehr auf mich." Er fügt sich in sein russisches Schicksal, "in seinem Blick hat die Verzweiflung feste Wurzeln geschlagen".
Die alltägliche Korruption ist ein bekanntes Phänomen. In Chodorkowskis Porträts bekommt sie menschliche Züge, schockiert, weil er uns in einer ruhigen, genauen Sprache vorführt, was das für einen Menschen bedeutet, der unversehens in deren Strudel gerät, aber kein Geld für Bestechungen hat. Artjom zum Beispiel, ein Bauingenieur, wurde gebeten, seine Chefs zu vertreten, als diese urplötzlich "verreisen". Er ahnt nicht, dass die beiden Schurken auch das Investorengeld mitgehen ließen. Arglos geht er zur Polizei, zeigt sie an, wird weggeschickt und ist wenig später der einzige, der Hauptschuldige vor Gericht. Hätte er selbst etwas abgezweigt, die Miliz wäre zu bestechen gewesen. Aber er beharrt auf seiner Unschuld, was die Strafe noch erhöht.
Im Gefängnis will Artjom die anderen überzeugen, aber die, schreibt der Autor, haben dafür weder Zeit noch Kraft, denn "hier hat jeder Zweite so eine Geschichte". Eines Nachts versucht Artjom, sich das Leben zu nehmen. Chodorkowskij beschreibt, wie er ihn findet und am Strick hochzuheben versucht, bis ihm andere helfen. Artjom gerettet? Die Anstaltsleitung mag Selbstmörder nicht, schlecht für die Statistik. Darum heften sie Artjom das Stigma "Suizident" auf die Brust, stecken ihn in den Karzer und verweigern die vorzeitige Entlassung.
Ein anderer wird zum Mörder gemacht, weil sie gerade einen brauchen. Ein Häftling wurde zu Tode geprügelt vom Anstaltspersonal, ein ehemaliger "Finanzberater", der Bestechungsgelder von Polizistenschwarzkonten auf sein eigenes umgeleitet hatte, kommt da gerade recht. Und obwohl der Angeklagte in einem anderen Lager weit weg saß, als der Mord geschah, wird er schuldig gesprochen. Alles, was für ihn spricht, wird ignoriert, Indizien wie Gutachten. Nur zwei bestochene Zeugen zählen für den Richter, der das weiß, und "fertig ist der Schuldspruch".
Korrupte Polizisten und Ankläger, Gefängnisverwaltungen, die selbst urteilen und Entlassungen verhindern oder sie genauso willkürlich unvermutet zulassen - das ist Chodorkowskijs Welt gewesen bis vor kurzem. Er behauptet nicht, sich moralisch verpflichtet gefühlt zu haben, diese Geschichten aufzuschreiben. Es war wohl eher ein Akt der Selbstvergewisserung, dass er noch fühlte, was er sah. Und da draußen, in der anderen, der gleichgültigen russischen Welt, gab es seiner Ansicht nach immer noch zu viele Menschen, die an das ehrlose System der russischen Justiz glauben.
REGINA MÖNCH.
Michail Chodorkowski: "Meine Mitgefangenen" Aus dem Russischen von Vlada Philipp und Anselm Bühling. Galiani Verlag, Berlin 2014. 106 S., geb., 16,99 [Euro].
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Im Lager kann hier jeder enden: Michail Chodorkowskis Porträts seiner Mitgefangenen sind ein Appell gegen Gleichgültigkeit und ein bestürzendes Zeugnis einer korrupten Justiz und Polizei in Russland.
In diesem schmalen Büchlein über die Straflager und Gefängnisse von heute ist halb Russland versammelt, mindestens, jedenfalls könnte man es so sehen. Denn schon in seinem (extrem kurzen) Vorwort deutet Michail Chodorkowskij an, warum: weil es jeden erwischen kann, die oben wie die unten. Weil Willkür herrscht und Erbarmungslosigkeit und sich keiner sicher sein darf, nicht doch unschuldig ins Gefängnis geworfen zu werden, all sein Hab und Gut zu verlieren und schlimmstenfalls das Leben. Darum sei "anständiges Verhalten keine besonders überzeugende Verteidigung" vor Gericht, schreibt Chodorkowskij für russische Leser, die vielleicht doch glauben, ihnen könnte das nie zustoßen, da sie weder klauen noch erpressen.
"Meine Mitgefangenen" versammelt die Kolumnen, die der einstige Oligarch und Putin-Kritiker während seiner Haftjahre für die regierungskritische russische Zeitschrift "The New Times" geschrieben hat. Dass er die Buchpremiere in Freiheit erleben würde, hatte eigentlich niemand erwartet. Im Gegenteil, kurz vor seiner überraschenden Freilassung im Winter verdichteten sich Gerüchte, Moskau bereite einen dritten Prozess gegen ihn vor. Dass ihm seine scharfe Kritik, seine schonungslose Offenheit irgendwie schaden könnten, hat den schreibenden Häftling Chodorkowski offenbar nie umgetrieben. Wer ihm schaden wollte, würde ihm schaden, so oder so. Ob er brav und duldsam alle Zumutungen ertragen würde oder aufbegehrte, das Drehbuch für die nächste Runde im ersten oder letzten Kreis der Hölle oder auch für die Freilassung schrieben andere, ohne ihn, ohne Intervention von außen.
Michail Chodorkowskijs kurze, präzise Porträts über seine Mithäftlinge - Spitzel, Bauern, Unternehmer, Banditen, Junkies, Diebe, Nazis und Unschuldige - sind Parabeln des Schreckens und des Mitgefühls aus den Straflagern Sibiriens und Kareliens. Rechtsfreie Räume, die entweder von Kriminellen beherrscht werden oder, was noch furchtbarer sei, von der bürokratischen Gesetzlosigkeit. Es ist eine real existierende parallele Welt, aus der selten Nachrichten dringen, in der Wahnsinn und Willkür hingenommen werden als das scheinbar Normale, das nur so zu ertragen ist und nur so Hoffnung zulässt. Über sich selbst gibt Chodorkowski kaum etwas preis, allenfalls sein klarer, unbestechlicher Blick auf die Verhältnisse und seine Mitmenschen verraten einen sensiblen Beobachter und brillanten Analytiker sozialer Zustände. Nur hier und da streut er in seine Miniaturen auch moralische Appelle an die russischen Leser ein, weil er den Zusammenbruch der ruinierten Gesellschaft fürchtet, in der "Gleichgültigkeit zur Norm geworden ist".
Wo es möglich ist, dass ein sehr junger, einfacher Mann eingesperrt wird, weil seine Freundin minderjährig ist, eine von deren Eltern geduldete, beschützte Liebe. Doch gleichzeitig läuft eine "Kampagne gegen Pädophilie", die Miliz muss Erfolge melden, da nimmt man, was man kriegt, und weder die verhinderte Braut noch die Eltern, nicht einmal die Richterin können den Wahnsinn aufhalten. Nach zwei Lagerjahren gibt Alexej das Mädchen frei: "Warte nicht mehr auf mich." Er fügt sich in sein russisches Schicksal, "in seinem Blick hat die Verzweiflung feste Wurzeln geschlagen".
Die alltägliche Korruption ist ein bekanntes Phänomen. In Chodorkowskis Porträts bekommt sie menschliche Züge, schockiert, weil er uns in einer ruhigen, genauen Sprache vorführt, was das für einen Menschen bedeutet, der unversehens in deren Strudel gerät, aber kein Geld für Bestechungen hat. Artjom zum Beispiel, ein Bauingenieur, wurde gebeten, seine Chefs zu vertreten, als diese urplötzlich "verreisen". Er ahnt nicht, dass die beiden Schurken auch das Investorengeld mitgehen ließen. Arglos geht er zur Polizei, zeigt sie an, wird weggeschickt und ist wenig später der einzige, der Hauptschuldige vor Gericht. Hätte er selbst etwas abgezweigt, die Miliz wäre zu bestechen gewesen. Aber er beharrt auf seiner Unschuld, was die Strafe noch erhöht.
Im Gefängnis will Artjom die anderen überzeugen, aber die, schreibt der Autor, haben dafür weder Zeit noch Kraft, denn "hier hat jeder Zweite so eine Geschichte". Eines Nachts versucht Artjom, sich das Leben zu nehmen. Chodorkowskij beschreibt, wie er ihn findet und am Strick hochzuheben versucht, bis ihm andere helfen. Artjom gerettet? Die Anstaltsleitung mag Selbstmörder nicht, schlecht für die Statistik. Darum heften sie Artjom das Stigma "Suizident" auf die Brust, stecken ihn in den Karzer und verweigern die vorzeitige Entlassung.
Ein anderer wird zum Mörder gemacht, weil sie gerade einen brauchen. Ein Häftling wurde zu Tode geprügelt vom Anstaltspersonal, ein ehemaliger "Finanzberater", der Bestechungsgelder von Polizistenschwarzkonten auf sein eigenes umgeleitet hatte, kommt da gerade recht. Und obwohl der Angeklagte in einem anderen Lager weit weg saß, als der Mord geschah, wird er schuldig gesprochen. Alles, was für ihn spricht, wird ignoriert, Indizien wie Gutachten. Nur zwei bestochene Zeugen zählen für den Richter, der das weiß, und "fertig ist der Schuldspruch".
Korrupte Polizisten und Ankläger, Gefängnisverwaltungen, die selbst urteilen und Entlassungen verhindern oder sie genauso willkürlich unvermutet zulassen - das ist Chodorkowskijs Welt gewesen bis vor kurzem. Er behauptet nicht, sich moralisch verpflichtet gefühlt zu haben, diese Geschichten aufzuschreiben. Es war wohl eher ein Akt der Selbstvergewisserung, dass er noch fühlte, was er sah. Und da draußen, in der anderen, der gleichgültigen russischen Welt, gab es seiner Ansicht nach immer noch zu viele Menschen, die an das ehrlose System der russischen Justiz glauben.
REGINA MÖNCH.
Michail Chodorkowski: "Meine Mitgefangenen" Aus dem Russischen von Vlada Philipp und Anselm Bühling. Galiani Verlag, Berlin 2014. 106 S., geb., 16,99 [Euro].
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