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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Anna Politkowskaja ist im Westen die wohl bekannteste Journalistin Russlands. 2006 wurde sie ermordet. Nun legt ihre Tochter ein Porträt der Kremlkritikerin vor.
Von Othmara Glas
Von Othmara Glas
Vera Politkowskaja wollte Russland nicht verlassen. Nach dem Großangriff auf die Ukraine nahmen die Angriffe auf sie zu, ihre Tochter erhielt Todesdrohungen. Nun lebt Politkowskaja im Ausland, und in Ungewissheit. Ihre Kreditkarten sind gesperrt, sie bangt um die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis, hat keine Arbeitserlaubnis. Politkowskajas Tochter heißt Anna, wie ihre Großmutter. Nach deren Ermordung 2006 sagte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass der Fall Politkowskaja "symbolhaft für die Pressefreiheit" stehe, und mahnte Russlands Präsidenten Wladimir Putin zur Aufklärung.
Anna Politkowskaja war Reporterin, recherchierte zu den Verbrechen von russischen Sicherheitskräften und tschetschenischen Einheiten im zweiten Tschetschenienkrieg. Am 7. Oktober 2006, Putins 54. Geburtstag, erschoss ein Attentäter sie im Aufzug ihres Wohnhauses. Vier Kugeln trafen sie in die Brust, eine in den Kopf. Die Mordwaffe, eine Makarow, ließ der Täter am Tatort zurück - das Zeichen für einen Auftragsmord. Erst Jahre später wurden vier Tschetschenen und zwei Polizisten für die Ausführung beziehungsweise Planung der Tat verurteilt. Wer jedoch den Auftrag gab, ist bis heute nicht geklärt.
Nun veröffentlicht Vera Politkowskaja mit dem Buch "Meine Mutter hätte es Krieg genannt" erstmals ein Porträt derselben. Geschrieben hat sie es nach ihrer Flucht aus Russland zusammen mit der italienischen Journalistin Sara Giudice. Darin fließen die Kindheitserinnerungen der 1980 geborenen Vera Politkowskaja ebenso ein wie Gespräche mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Ilja. Es ist ein persönliches Buch. Der Leser erfährt, dass Anna Politkowskaja eine strenge Mutter war. Bildung spielte eine große Rolle: Früh schon schickte sie ihre Kinder zum Musikunterricht, gab ihnen auch in den Ferien Hausaufgaben auf. Doch sie kochte auch gern und gärtnerte.
Vera Politkowskajas Erinnerungen beginnen mit dem Geräusch der Schreibmaschine, auf der ihre Mutter abends tippte: "Klack-klack-klack-klack." Als Tochter eines ukrainischen Diplomaten 1958 in New York geboren, studierte Anna Politkowskaja in Moskau Journalismus. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie bei verschiedenen Zeitungen und Verlagen. Ihre ersten Berufsjahre fielen in die Zeit der Perestroika. In den Neunzigern wechselte sie zur Wochenzeitung "Obschtschaja Gaseta". Sie recherchierte zur Privatisierung der Wirtschaft und zu dem Aufstieg von Oligarchen. Später schrieb sie über die Sekten, die in ganz Russland aus dem Boden schossen. Auch Politkowskajas Mann war Journalist, war Teil des bekannten Fernsehmagazins "Wsgljad" und berichtete unter anderem über das Reaktorunglück von Tschernobyl.
Die 21 Kapitel des Buches wechseln sich ab zwischen den Erinnerungen Vera Politkowskajas an ihre Mutter mit denen an politische Ereignisse. In einem Schnellkurs wird der Leser durch die jüngere Geschichte Russlands geführt: den Augustputsch 1991, die Auflösung der Sowjetunion, die Schüsse auf das Parlamentsgebäude 1993, die Machtübernahme Putins, die Festigung seiner Herrschaft, die Niederschlagung von Protesten, die Vergiftung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalnyj.
Im Jahr 1999 kam Anna Politkowskaja zur regierungskritischen Zeitung "Nowaja Gaseta". Dort berichtete sie über ein Altersheim in Grosny, das unter Beschuss geraten war. Zusammen mit der Redaktion organisierte sie dessen Evakuierung. Seither ließ sie Tschetschenien nicht mehr los, irgendwann reiste die zierliche Frau mit den grauen Haaren und den dicken Brillengläsern monatlich in die kriegsversehrte Region. Politkowskaja und die Zeitung wurden zur Anlaufstelle für viele Tschetschenen. "Die einen hatten einen Sohn verloren, die anderen den Ehemann, manche baten um Unterstützung für die in der Heimat gebliebene Familie, wieder andere berichteten von Vorkommnissen, deren Zeugen sie geworden waren", schreibt Vera Politkowskaja. Ihre Mutter habe sie alle empfangen, Trost und Hilfe gespendet.
Das Buch wirft Fragen auf. Wie weit darf Journalismus gehen? Wann wird er zum Aktivismus? Wo sind die Grenzen, in einem System, in dem die Staatsmedien Opfern keine Stimme geben? Eine Antwort findet Vera Politkowskaja nicht. Ihre Mutter hat die Rolle der Journalistin jedenfalls mehr als einmal verlassen. So zum Beispiel im Jahr 2002, als Terroristen die Besucher des Theaterstücks Nordost als Geiseln nahmen. Die Tschetschenen forderten ein Ende des Krieges, und sie wollten mit Anna Politkowskaja sprechen. Diese verhandelte mit den Geiselnehmern, zum offensichtlichen Missfallen der Sicherheitsbehörden vor Ort. Nach drei Tagen wurde Gas in das Theater geleitet, Sicherheitskräfte stürmten das Gebäude. 130 Geiseln kamen dabei ums Leben ebenso wie fast 50 Tschetschenen.
2004 wollte Anna Politkowskaja in der Stadt Beslan abermals vermitteln. Terroristen hatten zum Schulanfang mehr als 1100 Geiseln in einer Schule genommen. Auch diese Geiselnahme endete in einem Massaker. Politkowskaja kam nie in Beslan an, sondern wurde mit Vergiftungssymptomen in ein Krankenhaus in Südrussland eingeliefert.
Anna Politkowskaja, so viel wird aus den Beschreibungen ihrer Tochter klar, war durchaus kein einfacher Mensch. Sie verlor sich in ihrer Arbeit, stellte die Familie hintenan. Andere Journalisten kritisierten sie für ihre Reportagen, glaubten nicht die Gräuel, die sie aus Tschetschenien beschrieb. "Mittlerweile nennen sie mich die Irre von Moskau", soll Anna Politkowskaja einmal gesagt haben.
Vera Politkowskaja wird trotz ihrer musischen Ausbildung später ebenfalls Journalistin, arbeitet fast neun Jahre lang, bis März 2022, bei einem Fernsehsender. Zum Krieg gegen die Ukraine hat sie eine klare Haltung. "Der blinde Nationalismus und der Pseudopatriotismus, die in meinem Land befeuert werden, widern mich an", schreibt sie. "Ich denke, es ist richtig, dass der Westen die Ukraine bei der Verteidigung aktiv unterstützt."
Ihr Buch ist auch eine Anklage gegen die Männer, die schon 2006 an der Macht waren, es noch immer sind und um Anna Politkowskaja nicht getrauert haben dürften: Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow und Wladimir Putin. Dessen Aufstieg ist eng mit dem zweiten Tschetschenienkrieg verbunden. Es war nicht sein letzter Krieg, weitere folgten, nur hießen sie nie so. Es waren "Anti-Terror-Operationen" oder "Spezialoperationen". So wie in der Ukraine. Vera Politkowskaja sagt, ihre Mutter hätte es Krieg genannt. Sie selbst nennt es: Genozid.
Vera Politkowskaja mit Sara Giudice:
"Meine Mutter hätte es Krieg genannt".
Tropen Verlag, Stuttgart 2023.
192 S., geb., 22,- Euro.
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