Kann es ein Leben ohne Hongkong geben? Nicht für Aguo, den neunmalklugen, stolzen Bürger der Stadt. Mit seiner Schwester Afa lebt er im Haus der Tanten, genannt »die Lotusblumen«. Oder, an ihren übel gelaunten Tagen, »die Lotuswurzeln«. Aguo wundert sich über alles und jeden in der Schule, mutiert zum leidenschaftlichsten Elektroinstallateur der Stadt und lernt auf seinen Streifzügen durch das Hongkong der 70er Jahre die gesamte Bevölkerung kennen: Müllsammler und Telefonistinnen, Seemänner und Tischler. Sie alle sind vom Festland hier gestrandet, mit sehnsüchtigen Herzen und pompösen Plänen. Doch das Leben in der Stadt gestaltet sich reicher an Hindernissen als gedacht. Was Aguo, auf einem Telefonmast sitzend, nicht davon abhält, begeistert vom ewigen Leben Hongkongs zu träumen.
Xi Xi hat Generationen von Leser:innen geprägt – nun endlich kann man sie auch auf Deutsch entdecken. In ihrem Kultroman über Hongkong erzählt sie rasant und fantasievoll die stürmischen 70er Jahre der Metropole, die bis in die Gegenwart weisen – es schafft damit einen wunderschönen, virtuos verspielten Stadtroman.
Xi Xi hat Generationen von Leser:innen geprägt – nun endlich kann man sie auch auf Deutsch entdecken. In ihrem Kultroman über Hongkong erzählt sie rasant und fantasievoll die stürmischen 70er Jahre der Metropole, die bis in die Gegenwart weisen – es schafft damit einen wunderschönen, virtuos verspielten Stadtroman.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Diesen großen Hongkong-Roman kann Rezensent Jakob Strobel y Serra nach mehr als vierzig Jahren jetzt auch auf Deutsch kennenlernen und freut sich, dass die Autorin Xi Xi ihn auf einen wilden Ritt nicht nur durch die Stadt, sondern auch durch alle Facetten des magischen Realismus mitnimmt. Der jugendliche Protagonist Aguo zeigt uns Hongkong als Stadt, in der die Gegensätze von High Society und Elend aufeinanderprallen, in der man Mahjong-Spieler begegnet und Stürme, bei denen es Frösche regnet, erleben kann, schildert Strobel y Serra angeregt. Er räumt zwar ein, dass dieses phantasmagorische Spiel nicht immer ganz einfach ist, versichert aber, dass man die Stadt danach mit anderen Augen sieht, auch wenn man als Nicht-Hongkonger vielleicht nicht jede der geistreichen, mitreißenden Anspielungen versteht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2023Ohren haben keinen Reißverschluss
Hongkong, kubistisch dekonstruiert, phantasmagorisch komponiert: Xi Xis rasanter Roman "Meine Stadt" aus dem Jahr 1979 erscheint endlich auch auf Deutsch.
Wenn man die glamouröse Spitze von Kowloon hinter sich lässt, das ikonische Peninsula Hotel mit seiner Flotte grüner Rolls-Royces, den Pier der Star Ferry mit ihren altehrwürdigen, holzgetäfelten Schiffen, die Promenade mit dem Sensationsblick auf die schillernde Skyline von Hongkong Island, wenn man nur ein paar Straßen weiter in Richtung Norden geht, steht man plötzlich vor ganz anderen, ganz und gar nicht glamourösen Hochhäusern: vor schimmelfleckigen Kolossen mit Balkonen wie Käfigen, auf denen löchrige Wäsche flattert und kümmerliche Kräutertöpfe ein bisschen Sonnenlicht zu ergattern versuchen - und begreift bei diesem Anblick augenblicklich, dass es noch ein ganz anderes Hongkong hinter der glitzernden Fassade gibt. Diesem Hongkong der Maschinisten, die die Traumkulisse am Leben erhalten, der Menschen mit schmutzigen Fingernägeln, zerplatzten Illusionen und unerschütterlichen Hoffnungen hat Xi Xi in ihrem 1979 erschienenen und nun erstmals ins Deutsche übersetzten Roman "Meine Stadt" ein Denkmal voller zärtlicher Verrücktheiten und phantasmagorischer Hingabe gesetzt.
Aguo heißt der jugendliche Held, der so unbefangen durch sein Hongkong der Siebzigerjahre vagabundiert wie einst Zazie bei Raymond Queneau und Louis Malle durch Paris und seine Métro: mit staunenden Augen und unerschöpflicher Neugier, frei von jedem Dünkel und ganz ohne Angst vor Absurditäten. Er treibt sich auf Nachtmärkten herum, begegnet Beerdigungsprozessionen, trifft Schwerttänzer, quetscht sich mit Mahjong-Spielern in puppenstubenkleine Wohnungen oder flieht vor radikalen Christen mit Handzetteln auf Missionierungsmission in den Straßenschluchten von Downtown. Die Leser lernen mit Aguo Herrn Großfuß kennen, der in einem "Super-Supermarkt" lebt, einem Hochhaus mit hundert Stockwerken, groß wie 31 Fußballfelder, in dem er geboren wird und sein ganzes Leben verbringt, während seine Mutter eine Rundreise auf dem Neptun macht. Dann haben Mike Munter und Harry Harmlos, Züchter von Chilischoten zur Vampirabwehr, auf einem Fußballplatz ihren großen Auftritt, der zum Schauplatz einer Tomatenschlacht wird, und so geht es in einem einzigen rauschhaften, im Wortsinne schwindelerregenden Erzählsog immer fort.
Wie eine multiperspektivische Collage werden Aguos Abenteuer erzählt, in der sich Wirklichkeit und Phantasie, Dadaismus und Surrealismus, politische Verwerfungen und der magische Realismus von Gabriel García Márquez, auf den explizit Bezug genommen wird, untrennbar vermischen und verweben. Zugleich wird Hongkong, dessen Name kein einziges Mal fällt, mit Worten und Lautmalereien so lange kubistisch dekonstruiert, bis es als Touristenstadt nicht mehr sichtbar ist, zerlegt in Gerüche, Geräusche, Farben, Stimmungen, Bizarrerien und immer wieder gespickt mit schönen Lebensweisheiten: "Der Mund hat Lippen, die er schließen kann, wenn er nicht reden oder essen will. Die Augen haben Lider, die sie schließen können, wenn sie nicht sehen wollen. Nur dem armen Ohr fehlt ein Reißverschluss, und es muss sich jeden Unfug anhören."
Nichts in diesem Buch ist nüchtern oder normal, alles kafkaesk verzerrt und quijotesk verfremdet - was die Lektüre mitunter zur schweren Kost werden lässt -, selbst ein tropisches Gewitter wird zum absonderlichen Spektakel. Es hagelt Motten und Insekten, Frösche fallen vom Himmel und schlagen Saltos, Wolken krachen ineinander wie Autos auf der Straße beim Frontalzusammenstoß. Da eine weltweite Energiekrise herrscht, bewaffnen sich die Bewohner mit Äxten und hacken Blitze in handliche Stücke für den Hausgebrauch. Auch unter Wassermangel leiden sie, deswegen wird der Regen nicht nur mit allen Gerätschaften aufgefangen, die man in der Küche findet. Auch die Dächer von Dachwohnungen montieren die Menschen ab und verbarrikadieren die Fenster, um riesige Wassertanks zu schaffen. Und die kaiserliche Enzyklopädie der Qing-Dynastie aus einer großen Privatbibliothek schichten sie zum "kultiviertesten Wassertank, den man sich denken kann" - und der es prompt auf die Titelseiten aller internationalen Kunstmagazine schafft.
Xi Xi ist der "nom de plume" von Zhang Yan, die 1937 in Schanghai geboren wurde, 1950 nach Hongkong floh, bis zu ihrem Tod 2022 der Stadt am Perlfluss treu blieb und deren Bewohnern mit diesem Roman ein ebenso phantastisches wie verschworenes Liebesgeschenk machte. Wir Außenstehende, wir Touristen verstehen nur einen Bruchteil der Andeutungen und Anspielungen, mit denen "Meine Stadt" gespickt ist - den Konformitätsdruck einer kategorischen Konsensgesellschaft, den tyrannischen Lernzwang schon in Grundschulen, die Ressentiments gegen die "Boat People" aus Vietnam, den Rassismus der westlichen Kolonisatoren, das Elend im Angesicht obszönen Reichtums, das Leid der Flüchtlinge vom chinesischen Festland. Die Menschen in Hongkong hingegen verstehen alles und halten "Meine Stadt" als Hymne ihrer Heimat bis heute in höchsten Ehren. Uns bleibt nur, den nächsten Besuch in Hongkong abzuwarten - um zu sehen, wie viel wir dann von dem sehen werden, was wir bisher nicht gesehen haben. JAKOB STROBEL Y SERRA
Xi Xi: "Meine Stadt". Roman.
Aus dem kantonesischen Chinesisch von Karin Betz. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 254 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hongkong, kubistisch dekonstruiert, phantasmagorisch komponiert: Xi Xis rasanter Roman "Meine Stadt" aus dem Jahr 1979 erscheint endlich auch auf Deutsch.
Wenn man die glamouröse Spitze von Kowloon hinter sich lässt, das ikonische Peninsula Hotel mit seiner Flotte grüner Rolls-Royces, den Pier der Star Ferry mit ihren altehrwürdigen, holzgetäfelten Schiffen, die Promenade mit dem Sensationsblick auf die schillernde Skyline von Hongkong Island, wenn man nur ein paar Straßen weiter in Richtung Norden geht, steht man plötzlich vor ganz anderen, ganz und gar nicht glamourösen Hochhäusern: vor schimmelfleckigen Kolossen mit Balkonen wie Käfigen, auf denen löchrige Wäsche flattert und kümmerliche Kräutertöpfe ein bisschen Sonnenlicht zu ergattern versuchen - und begreift bei diesem Anblick augenblicklich, dass es noch ein ganz anderes Hongkong hinter der glitzernden Fassade gibt. Diesem Hongkong der Maschinisten, die die Traumkulisse am Leben erhalten, der Menschen mit schmutzigen Fingernägeln, zerplatzten Illusionen und unerschütterlichen Hoffnungen hat Xi Xi in ihrem 1979 erschienenen und nun erstmals ins Deutsche übersetzten Roman "Meine Stadt" ein Denkmal voller zärtlicher Verrücktheiten und phantasmagorischer Hingabe gesetzt.
Aguo heißt der jugendliche Held, der so unbefangen durch sein Hongkong der Siebzigerjahre vagabundiert wie einst Zazie bei Raymond Queneau und Louis Malle durch Paris und seine Métro: mit staunenden Augen und unerschöpflicher Neugier, frei von jedem Dünkel und ganz ohne Angst vor Absurditäten. Er treibt sich auf Nachtmärkten herum, begegnet Beerdigungsprozessionen, trifft Schwerttänzer, quetscht sich mit Mahjong-Spielern in puppenstubenkleine Wohnungen oder flieht vor radikalen Christen mit Handzetteln auf Missionierungsmission in den Straßenschluchten von Downtown. Die Leser lernen mit Aguo Herrn Großfuß kennen, der in einem "Super-Supermarkt" lebt, einem Hochhaus mit hundert Stockwerken, groß wie 31 Fußballfelder, in dem er geboren wird und sein ganzes Leben verbringt, während seine Mutter eine Rundreise auf dem Neptun macht. Dann haben Mike Munter und Harry Harmlos, Züchter von Chilischoten zur Vampirabwehr, auf einem Fußballplatz ihren großen Auftritt, der zum Schauplatz einer Tomatenschlacht wird, und so geht es in einem einzigen rauschhaften, im Wortsinne schwindelerregenden Erzählsog immer fort.
Wie eine multiperspektivische Collage werden Aguos Abenteuer erzählt, in der sich Wirklichkeit und Phantasie, Dadaismus und Surrealismus, politische Verwerfungen und der magische Realismus von Gabriel García Márquez, auf den explizit Bezug genommen wird, untrennbar vermischen und verweben. Zugleich wird Hongkong, dessen Name kein einziges Mal fällt, mit Worten und Lautmalereien so lange kubistisch dekonstruiert, bis es als Touristenstadt nicht mehr sichtbar ist, zerlegt in Gerüche, Geräusche, Farben, Stimmungen, Bizarrerien und immer wieder gespickt mit schönen Lebensweisheiten: "Der Mund hat Lippen, die er schließen kann, wenn er nicht reden oder essen will. Die Augen haben Lider, die sie schließen können, wenn sie nicht sehen wollen. Nur dem armen Ohr fehlt ein Reißverschluss, und es muss sich jeden Unfug anhören."
Nichts in diesem Buch ist nüchtern oder normal, alles kafkaesk verzerrt und quijotesk verfremdet - was die Lektüre mitunter zur schweren Kost werden lässt -, selbst ein tropisches Gewitter wird zum absonderlichen Spektakel. Es hagelt Motten und Insekten, Frösche fallen vom Himmel und schlagen Saltos, Wolken krachen ineinander wie Autos auf der Straße beim Frontalzusammenstoß. Da eine weltweite Energiekrise herrscht, bewaffnen sich die Bewohner mit Äxten und hacken Blitze in handliche Stücke für den Hausgebrauch. Auch unter Wassermangel leiden sie, deswegen wird der Regen nicht nur mit allen Gerätschaften aufgefangen, die man in der Küche findet. Auch die Dächer von Dachwohnungen montieren die Menschen ab und verbarrikadieren die Fenster, um riesige Wassertanks zu schaffen. Und die kaiserliche Enzyklopädie der Qing-Dynastie aus einer großen Privatbibliothek schichten sie zum "kultiviertesten Wassertank, den man sich denken kann" - und der es prompt auf die Titelseiten aller internationalen Kunstmagazine schafft.
Xi Xi ist der "nom de plume" von Zhang Yan, die 1937 in Schanghai geboren wurde, 1950 nach Hongkong floh, bis zu ihrem Tod 2022 der Stadt am Perlfluss treu blieb und deren Bewohnern mit diesem Roman ein ebenso phantastisches wie verschworenes Liebesgeschenk machte. Wir Außenstehende, wir Touristen verstehen nur einen Bruchteil der Andeutungen und Anspielungen, mit denen "Meine Stadt" gespickt ist - den Konformitätsdruck einer kategorischen Konsensgesellschaft, den tyrannischen Lernzwang schon in Grundschulen, die Ressentiments gegen die "Boat People" aus Vietnam, den Rassismus der westlichen Kolonisatoren, das Elend im Angesicht obszönen Reichtums, das Leid der Flüchtlinge vom chinesischen Festland. Die Menschen in Hongkong hingegen verstehen alles und halten "Meine Stadt" als Hymne ihrer Heimat bis heute in höchsten Ehren. Uns bleibt nur, den nächsten Besuch in Hongkong abzuwarten - um zu sehen, wie viel wir dann von dem sehen werden, was wir bisher nicht gesehen haben. JAKOB STROBEL Y SERRA
Xi Xi: "Meine Stadt". Roman.
Aus dem kantonesischen Chinesisch von Karin Betz. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 254 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Hongkong, kubistisch dekonstruiert. ... Xi Xis rasanter Roman Meine Stadt aus dem Jahr 1979 erscheint endlich auch auf Deutsch. ... Ein Denkmal voller zärtlicher Verrücktheiten und phantasmagorischer Hingabe ...« Jakob Strobely Y Serra Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230913