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Christian Bermes formuliert Ansprüche an eine recht verstandene Debattenkultur
Über das Debattieren wird zuweilen gerne debattiert, zumal in deutschen Landen, zumal in Zeiten von Filterblasen und Echoräumen, Hassreden und Entrüstungsstürmen. Gefragt wird dann sorgenvoll nach dem Zustand der "Debattenkultur", wahlweise auch der "Diskussions-" oder "Streitkultur". Fast scheint es, als wirke sich allein das Anhängen des Wortes "Kultur" in magischer Weise kultivierend aus - wie das Aufpfropfen eines Edelreises. Zumindest bringt es die Hoffnung zum Ausdruck, die für eine liberale Demokratie so lebenswichtige Meinungsfreiheit möge nicht nur zu gereizten Schlagabtauschen genutzt werden - obgleich "debattieren" vom französischen "débattre" abstammt und das Niederschlagen oder Um-sich-Schlagen sozusagen zur semantischen Erblast des Wortes gehört.
Den Zustandsbeschreibungen in Sachen Meinungsbildung fügt Christian Bermes eine hübsch paradoxe Variante hinzu. Sie findet sich in seinem Buch "Meinungskrise und Meinungsbildung". Es heißt darin gegen Ende, die gegenwärtige Debattenkultur zeichne "eine gewisse Kulturlosigkeit" aus. Damit zielt der an der Universität Koblenz-Landau tätige Philosoph auf den "fortwährenden Entscheidungsdruck", unter dem Debatten geführt zu werden scheinen - einen Druck, der der Meinungsbildung im eigentlichen Sinne nicht zuträglich sei. In gewisser Weise nimmt der Autor das Wort "Debattenkultur" ernster, als es gemeinhin gemeint wird. Was ihm als veritable Meinungsbildung vorschwebt, weist jedenfalls einige wesentliche Attribute dessen auf, was sich in soziologischer Perspektive als Sphäre der Kultur im Ganzen von derjenigen der Politik oder der Wirtschaft abheben lässt: Es werden nicht (oder nicht primär) Beschlüsse gefasst oder Entscheidungen getroffen und auch keine "abschließenden" Urteile gefällt, es geht nicht um ein schlichtes Entweder-oder und schon gar nicht um die Beschwörung vermeintlicher Alternativlosigkeit, vielmehr um die Vermehrung der Beurteilungsgesichtspunkte, um die Schärfung des Möglichkeitssinns. Ins Blickfeld rückt Bermes also nicht das, was als "öffentliche Meinung" bereits vereinheitlicht erscheint, durch Demoskopie abgefragt oder als politisches Interesse organisiert und in Parlamentsdebatten (unter Entscheidungsdruck) artikuliert wird.
Bei aller Offenheit und Perspektivenvielfalt sollten in einer Debattenkultur, die ihren Namen verdient, das gibt er andererseits zu verstehen, weder Beliebigkeit noch Willkür regieren. Das wiederum wäre ein Ding der Unmöglichkeit, wenn zuträfe, was manche Kritiker der herrschenden Debattenunkultur behaupteten oder unterstellten: dass Meinungen per se willkürlich, weil "bloß subjektiv" seien. Bestenfalls lasse solche Fundamentalkritik Meinungen als defizitäres Provisorium, als unzulängliche Vorform einer "faktenbasierten" Erkenntnis gelten. So zu denken bedeute jedoch, die Schlüsselrolle zu verkennen, die Meinungen spielten: Kein Gespräch, keine Beratung, Erörterung oder Verständigung komme ohne Meinungen aus. Meinungen - so könnte man einen der Gedankengänge zusammenfassen - sind keine Bekundungen subjektiver Befindlichkeiten und keine Pistolen in einem Duell, sondern unentbehrliche Vehikel der Orientierung im alltäglichen Austausch mit anderen. Recht eigentlich, darauf läuft die Ehrenrettung der Meinung hinaus, sei die menschliche Lebenswelt zunächst und zumeist, ja von Grund auf eine Meinungswelt - eine Welt, deren Verständigungsverhältnisse durch eine eigene, wenngleich schwache, Verbindlichkeit charakterisiert seien. Soll unter anderem heißen: Wir können nicht nach Lust und Laune etwas X-Beliebiges meinen, wir können nicht (nicht ernsthaft) meinen, was wir einfach so einmal meinen wollen.
Bermes skizziert Grund- und Fluchtlinien einer Philosophie der Meinung oder - im alteuropäischen Sprachgebrauch - der "Doxa". Dabei nimmt er Anregungen von Husserl, aber auch von Heidegger, Arendt, Wittgenstein, Plessner und nicht zuletzt von Kant auf. Die "wohlfundierte Meinung", die sich als Idealgestalt abzeichnet, ist nachgerade eine Schwester des Geschmacksurteils, wie Kant es in seiner Theorie der reflektierenden Urteilskraft erörtert. Anspruch erhebt, wer eine Meinung in diesem Sinne äußert, auf "exemplarische" Gültigkeit; er fordert von anderen nicht mit Verweis auf Vernunft oder Logik, ihm beizupflichten, er "sinnt" ihnen lediglich an, seine Perspektive probeweise einzunehmen und verlässt sich auf den "Gemeinsinn" als verbindendes Element.
Meinungen, so Bermes, würden - diesseits von Wissensbehauptungen und diesseits auch von dogmatisch fixierten "Meinungsgebilden" - für gewöhnlich nicht einfach geäußert, um eine eigene Ansicht geltend zu machen, sondern überdies in der Absicht, andere dazu zu bewegen, weitere An- und Hinsichten hinzuzufügen. Meinen stelle sich so als eine Art einladendes "In-Szene-Setzen" dar und der Meinungsaustausch als eine szenische Folge "teilnehmender Erprobung" auf "Halbdistanz", auch wenn nicht vorab klar sei, wie eine mehr oder weniger kooperative "Prüfung" des Gemeinten genau aussehen könne. Verbindlichkeit wachse Meinungen zu, wenn sie sich in der jeweiligen Verständigungssituation als stimmig, adäquat, evident bewährten. Zu den Fertigkeiten und Tugenden, die bei einem solchen Meinungsaustausch ins Spiel kämen, zählten Verständigkeit, Offenheit für situative Unentschiedenheit und Takt. - Eine recht verstandene Debattenkultur kultiviert mithin nicht nur Meinungen, sondern auch die, die sich eine Meinung bilden. UWE JUSTUS WENZEL
Christian Bermes: "Meinungskrise und Meinungsbildung". Eine Philosophie der Doxa.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2022. 122 S., br., 14,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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