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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Martin Suters neuer Roman "Melody" stellt die Frage nach dem Unterschied zwischen Sein und Schein und ob es ihn überhaupt gibt.
Von Rose-Maria Gropp
Er ist mit Leib und Seele ein Geschichtenerzähler. Das hat Martin Suter seit 1997, als sein erster Roman "Small World" erschien, die Geschichte von Konrad Lang, den die Altersdemenz ereilt zu haben schien, immer wieder bewiesen. Mit dem aktuellen Buch "Melody" ist ihm ein wahres Glanzstück seiner Erzählkunst gelungen. Nichts Menschliches ist Suter fremd, so viele Spielarten des Humanum sind ihm vertraut, weil er ein unerhört scharfsinniger Beobachter ist. Das ermöglicht es ihm, die Ablagerungen unter dem an der Oberfläche Sichtbaren zu erkunden, sie im Erzählen ans Licht zu bringen. In "Melody" sind Schein und Sein eines Menschen leitendes Thema. Es geht um Fiktion und Wirklichkeit, Wahrheit und Lüge, diesmal auch um Schuld und eine ungewöhnliche Form selbst auferlegter Sühne. Suter ist nicht an Moral interessiert, dafür umso mehr an den Folgen der Handlungen seines Personals. Im Zentrum steht Dr. Peter Stotz, der in seiner Zürcher Villa lebt, deren Giebelinschrift lautet "Tempus fugit, amor manet". Dass die Zeit dahinflieht, weiß Stotz, er ist 84 Jahre alt und zum Tode krank. Er hat keinen Magen mehr, die Maßanzüge sind zu weit geworden für den ausgemergelten Leib. Doch die Haltung, die seine Karriere ihm implantiert hat, ist noch da. Stotz war ein enorm einflussreicher Mann, Unternehmensberater, Nationalrat, Strippenzieher der liberalen Wirtschaftspartei, Königsmacher und Geldgeber, Mitglied des Verwaltungsrats der Oper. Er alimentiert seit Jahrzehnten einen versoffenen Schriftsteller als Gesprächsgegenüber, der sich als klarsichtig in Bezug auf seinen Wohltäter entpuppen wird. Stotz' noch immer nicht ganz erloschene Macht wird erkennbar, wenn es heißt, "dass es in der Businesswelt den Fachausdruck ,stotzen' gibt: 'Das bedeutet, aus dem Hintergrund Einfluss nehmen, sein Beziehungsnetz aktivieren, um etwas in deinem Sinn zu beeinflussen.'" Eine klassische Suter-Sentenz, die mehr sagt als seitenlange Beschreibungen. Dieser moribunde Tycoon ohne eigene Nachkommen hat eine Anzeige aufgegeben, aus der Gegenwart gefallen analog, unter Chiffre: "Gesucht: Vertrauenswürdiger, gebildeter jüngerer Mann für Nachlassordnung. Juristische Vorkenntnisse erwünscht. Vollzeit. Faire Bezahlung." Es meldet sich Tom Elmer, in seinen Dreißigern, "mit Double Degree, einem Master of Law in der Schweiz und einem aus London", arbeitslos. Er nimmt das merkwürdige Angebot für exorbitanten Lohn an, die Arbeitsplatzbeschreibung lautet, "der Nachwelt ein bestimmtes Bild von mir zu vermitteln. Ihre Aufgabe besteht darin, dieses auch für die Nachwelt zu bewahren." Was bedeutet, die zahlreichen Kartons, in denen Stotz' Vita bewahrt ist, zu sichten - und vom Inhalt zu schreddern, was nicht passt für ein angemessenes Erinnern in der Öffentlichkeit. Da ist noch der zweite Teil des lateinischen Satzes über dem Türsturz der Villa: "amor manet". Dass die Liebe bleibe, ist so etwas wie der Markenkern des Dr. Peter Stotz, den es zu erhalten gilt. Tom begreift bald, dass er in Wahrheit engagiert wurde, um der Geschichte einer verlorenen Liebe zuzuhören, in Etappen jeden Tag. Dabei muss er mit Stotz die teuersten Weine und die kostbarsten Armagnacs aus dessen Keller trinken, kredenzt von dem Faktotum Roberto, und er bekommt die köstlichen italienischen Speisen der treuen Köchin Mariella vorgesetzt. Stotz' Erzählung kreist um eine Frau, die sich "Melody" nennt, eigentlich heißt sie Tarana Alaoui und entstammt einer muslimischen Familie aus Marokko, die in Zürich lebte. Sie war Buchhändlerin, zwanzig Jahre jünger als Stotz. Vor der geplanten Hochzeit mit ihm verschwand sie. Fortan war er nicht nur prominent, sondern zugleich jener Mann der Zürcher Gesellschaft, der um seine wahre große Liebe gebracht wurde. Um die Umstände von Melodys Verschwinden zu erkunden, verfolgte Stotz fortan ihre Spuren in vielen Ländern - erfolglos. Überall in der Villa hängen Bilder von Melody, veritable Altäre sind für sie errichtet, beinahe religiöse Zeichen einer ersehnten Präsenz. Oben im Haus, wo Tom nun wohnt, gibt es ein Zimmer, in dem die Zeit stillgestellt scheint, Melodys Stickzeug liegt dort, als habe sie grade erst den Raum verlassen. Dieses Motiv der angehaltenen, sogar rückgängig gemachten Zeit mit dem Ziel der leibhaftigen Vergegenwärtigung einer Person hat Suter schon 2012 in "Die Zeit, die Zeit" beschäftigt - seine bis heute weitest gehende Probe aufs Exempel des Wahrscheinlichen. Diesmal interessiert ihn etwas anderes noch wesentlich stärker. Und das ist der Selbstentwurf seines Protagonisten - als tragisch Liebender - im fortwährenden Erzählen. Suter gibt ihm dafür eine eigene Sprache, wie sie einem Mann von Stotz' Kaliber zur Verfügung steht. So wird "Melody" unter der Hand zu einer mit feiner Melancholie eingefärbten Liebeserklärung ans Geschichtenerzählen bis in die Nähe des Todes, der Name der Geliebten zum Leitmotiv wie in der Musik, von Variationen umspielt. Suter ist damit zurückgekehrt zu seiner genuinen Domäne, die tiefer gründet als zuletzt beim leichthändigen Intermezzo seiner "Allmen"-Romane. Dabei entspricht es der Ökonomie seines Schreibens, den Bogen des Geschehens sukzessive straffer zu spannen. Einmal, bei schon ziemlich weit fortgeschrittener Handlung, sagt der in seinem Metier eher glücklose Schriftstellerfreund von Stotz: "Es geht ja letztlich immer um die Frage: Will man sich das Leben nach dem einrichten, was man glaubt, oder will man das, was man glaubt, nach dem einrichten, wie man lebt?" Jedoch die wahre Frage muss lauten, ob sich das Leben selbst überhaupt um diese Unterscheidung schert. Was also bleibt, am Ende aller Tage? Martin Suter hat keine Antwort. Aber er hat darüber einen großartigen Roman geschrieben. Martin Suter: "Melody". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2023. 331 S., geb., 26,- Euro.
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