Ein Schweizer Banksafe, Josef Mengele, geheimnisvolle Dokumente aus dem Lager Auschwitz-Birkenau, wo die berüchtigten medizinischen Versuche an Häftlingen vorgenommen wurden – verfasst von einem daran beteiligten jüdischen Häftlingsarzt. Das ist der Ausgangspunkt einer Geschichte, die auf eines der zynischsten NS-Verbrechen verweist. Wer waren diese Ärzte, die gezwungen wurden, an der Seite Mengeles Menschenversuche durchzuführen? Doch was zunächst nach einer historischen Sensation aussieht, entwickelt sich zu einem regelrechten Wissenschaftskrimi. Denn die Dokumente, die Bogdan Musial von – wie er glaubt – vertrauenswürdiger Seite angeboten werden, entpuppen sich als Fälschung. Von der Anatomie dieses Betrugsversuchs erzählt dieses Buch: vom Erstkontakt und der Aufregung, auf eine historische Sensation gestoßen zu sein; von aufkeimenden Zweifeln und deren Beschwichtigung; von Hindernissen und Sackgassen; von Querschüssen und Zeitdruck, als die Nachricht über neu aufgetauchte Dokumente aus dem Versuchslabor der NS-Medizin durchsickert; von fingierten Indizien, raffinierten falschen Fährten und vermeintlichen Forschungserfolgen; von einer Spurensuche, die zu einem fundierten Forschungsvorhaben und schließlich zur Aufdeckung der Täuschung führt. Und zur Enttarnung der Fälscherin, die in ihrer Dreistigkeit an Konrad Kujau, der die Hitler-Tagebücher fabrizierte, erinnert. Im Mai 2018 wird sie wegen Betrugs in 22 anderen Fällen verurteilt. Doch warum konnte sie überhaupt so weit kommen? Und weshalb haben insbesondere Hochstapler, die sich mit dem Holocaust in Verbindung bringen, so großen Erfolg? Was sagt das über uns, unsere Gesellschaft als Publikum aus, das ihnen erst die Bühne bereitet? Auch diesen Fragen geht Musial in seiner packend erzählten Darstellung nach.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.11.2019Die Sensation, die eine Fälschung war
Bogdan Musial erzählt, wie ihm Dokumente über Josef Mengele angeboten wurden, und verwebt seinen Werkstattbericht mit einer Biografie des KZ-Arztes
Mit dem Namen Dr. Mengele verbinden sich Schreckensbilder: Auschwitz, Menschenversuche im Namen einer wahnsinnigen Rassentheorie, brutalster Zynismus, grenzenlose Grausamkeit. Josef Mengele gehörte zu den NS-Verbrechern, die nach dem Krieg über die sogenannte Rattenlinie untertauchten, ein von Nazihelfern, unter ihnen auch katholische Priester, organisierter Fluchtweg nach Südamerika. Er wechselte mehrmals den Wohnsitz und starb 1979 beim Baden an einem brasilianischen Strand, was aber erst Jahre später bekannt wurde. Seit Langem war das Gerücht im Umlauf, Mengele habe Memoiren verfasst und diese mit anderen Materialien über seine verbrecherische Tätigkeit in einem Koffer aufbewahrt.
So zeigte sich der deutsch-polnische Historiker Bogdan Musial, zu dessen Forschungsgebieten die deutsche Besatzung in Polen gehört, sofort interessiert, als er von sensationellen Dokumenten über die Menschenversuche in Auschwitz erfuhr, die in einem Zürcher Bankschließfach liegen sollten. Sie stammten zwar nicht von Mengele selbst, doch aus seiner unmittelbaren Nähe, nämlich von einem jüdischen Medizinprofessor aus Budapest, den Mengele zu seinem Assistenten gemacht und so vor dem Holocaust gerettet hatte. Die Informationen hatte Musial von der Enkelin des Professors bekommen, die in eine angesehene ungarische Adelsdynastie eingeheiratet hatte, selbst Medizinprofessorin geworden war und es sogar zur Leibärztin des Papstes Johannes Paul II. und seines Nachfolgers Benedikt XVI. gebracht hatte.
Das Tagebuch des Professors, nun in Auszügen bei Musial abgedruckt, enthält in der Tat zahlreiche bemerkenswerte Informationen über Mengele; sein Verfasser litt darunter, dass auch er selbst an unschuldigen Häftlingen, vor allem jüdischen Glaubensbrüdern, Grausamkeiten verübte, um sein eigenes Leben zu retten. Die Gräfin liefert noch mehr Dokumente, auf vergilbtem Papier mit Bleistift geschrieben. Doch Musial stolpert über eine Kleinigkeit: In den angeblich aus den ersten Nachkriegsjahren stammenden Aufzeichnungen ist eine siebenstellige polnische Telefonnummer angegeben. Doch derartige Nummern wurden in Polen erst fast 50 Jahre später eingeführt. Mithilfe eines jungen ungarischen Historikers und eines Programms zur Aufdeckung von Plagiaten stellt Musial nun schnell fest, dass die Aufzeichnungen aus vielerlei Vorlagen abgeschrieben wurden, teilweise aus dem Internet. Auch die Gräfin war falsch, ebenso der Professorentitel. Da sie als angebliche Vertraute von zwei Päpsten größere Summen für – nicht existierende – Sozialprojekte in Afrika und Asien ergaunert hatte, wurde sie 2018 wegen Betrugs zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Dr. Mengele war ihr zum Verhängnis geworden.
Doch die Spurensuche und die Aufdeckung des Betrugs bilden nur die dramaturgisch sehr geschickt aufgebaute Rahmenhandlung des Buchs. Im Zentrum steht die Geschichte eines begabten jungen Mediziners, der, womöglich aus Forscherehrgeiz heraus, zum skrupellosen Verbrecher wurde, erzählt anhand der bislang bekannt gewordenen Dokumente und Augenzeugenberichte, an deren Echtheit kein Zweifel bestehen kann. Der Autor hat beide Ebenen miteinander verwoben und durch einen Exkurs über die bekanntesten Fälle von biografischen Hochstaplern ergänzt, die sich als Holocaust-Überlebende oder deren Nachkommen ausgegeben haben. Die ebenso spannende wie beklemmende Darstellung gibt somit auch Einblicke in die Werkstatt der Historiker, die mitunter der Arbeit von Detektiven ähnelt.
In seinem Nachwort geht Jan Philipp Reemtsma der Frage nach, was Menschen dazu antreibt, mit dem Schreckenswort Auschwitz die eigene Biografie anzureichern. Die von ihm gegründete Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur hat Musials Forschungen von Anfang an finanziell unterstützt und daran auch festgehalten, als feststand, dass es sich um ein großes Falsifikat handelt. Reemtsma bescheinigt Musial den „Ruf, auf Quellenpräsentationen ein genaues Auge zu haben“. Das erste Mal hatte dieser es vor zwei Jahrzehnten bewiesen, als er falsch zugeordnete Fotos in der Wehrmachtsausstellung, die Reemtsmas Institut für Sozialforschung verantwortete, entdeckt und ungewollt eine heftige Kontroverse ausgelöst hatte: Es hatte sich um Fotos von Opfern nicht der deutschen Besatzer, sondern der sowjetischen Geheimpolizei NKWD gehandelt. Musial, der seine Dissertation über den Massenmord an den Juden im polnischen Lublin geschrieben hatte, war damals heftig angegriffen worden, weil er angeblich deutsche Verbrechen relativiert hatte, ein grotesker Vorwurf. Reemtsma schreibt nun im Rückblick dazu: Seinerzeit sei der Umgang mit Musial unfair gewesen – „was ich, zu spät, einsehen musste“.
THOMAS URBAN
Bogdan Musial:
Mengeles Koffer.
Eine Spurensuche.
Unter Mitarbeit von
Andrea Böltken. Mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Osburg Verlag, Hamburg 2019,
240 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Bogdan Musial erzählt, wie ihm Dokumente über Josef Mengele angeboten wurden, und verwebt seinen Werkstattbericht mit einer Biografie des KZ-Arztes
Mit dem Namen Dr. Mengele verbinden sich Schreckensbilder: Auschwitz, Menschenversuche im Namen einer wahnsinnigen Rassentheorie, brutalster Zynismus, grenzenlose Grausamkeit. Josef Mengele gehörte zu den NS-Verbrechern, die nach dem Krieg über die sogenannte Rattenlinie untertauchten, ein von Nazihelfern, unter ihnen auch katholische Priester, organisierter Fluchtweg nach Südamerika. Er wechselte mehrmals den Wohnsitz und starb 1979 beim Baden an einem brasilianischen Strand, was aber erst Jahre später bekannt wurde. Seit Langem war das Gerücht im Umlauf, Mengele habe Memoiren verfasst und diese mit anderen Materialien über seine verbrecherische Tätigkeit in einem Koffer aufbewahrt.
So zeigte sich der deutsch-polnische Historiker Bogdan Musial, zu dessen Forschungsgebieten die deutsche Besatzung in Polen gehört, sofort interessiert, als er von sensationellen Dokumenten über die Menschenversuche in Auschwitz erfuhr, die in einem Zürcher Bankschließfach liegen sollten. Sie stammten zwar nicht von Mengele selbst, doch aus seiner unmittelbaren Nähe, nämlich von einem jüdischen Medizinprofessor aus Budapest, den Mengele zu seinem Assistenten gemacht und so vor dem Holocaust gerettet hatte. Die Informationen hatte Musial von der Enkelin des Professors bekommen, die in eine angesehene ungarische Adelsdynastie eingeheiratet hatte, selbst Medizinprofessorin geworden war und es sogar zur Leibärztin des Papstes Johannes Paul II. und seines Nachfolgers Benedikt XVI. gebracht hatte.
Das Tagebuch des Professors, nun in Auszügen bei Musial abgedruckt, enthält in der Tat zahlreiche bemerkenswerte Informationen über Mengele; sein Verfasser litt darunter, dass auch er selbst an unschuldigen Häftlingen, vor allem jüdischen Glaubensbrüdern, Grausamkeiten verübte, um sein eigenes Leben zu retten. Die Gräfin liefert noch mehr Dokumente, auf vergilbtem Papier mit Bleistift geschrieben. Doch Musial stolpert über eine Kleinigkeit: In den angeblich aus den ersten Nachkriegsjahren stammenden Aufzeichnungen ist eine siebenstellige polnische Telefonnummer angegeben. Doch derartige Nummern wurden in Polen erst fast 50 Jahre später eingeführt. Mithilfe eines jungen ungarischen Historikers und eines Programms zur Aufdeckung von Plagiaten stellt Musial nun schnell fest, dass die Aufzeichnungen aus vielerlei Vorlagen abgeschrieben wurden, teilweise aus dem Internet. Auch die Gräfin war falsch, ebenso der Professorentitel. Da sie als angebliche Vertraute von zwei Päpsten größere Summen für – nicht existierende – Sozialprojekte in Afrika und Asien ergaunert hatte, wurde sie 2018 wegen Betrugs zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Dr. Mengele war ihr zum Verhängnis geworden.
Doch die Spurensuche und die Aufdeckung des Betrugs bilden nur die dramaturgisch sehr geschickt aufgebaute Rahmenhandlung des Buchs. Im Zentrum steht die Geschichte eines begabten jungen Mediziners, der, womöglich aus Forscherehrgeiz heraus, zum skrupellosen Verbrecher wurde, erzählt anhand der bislang bekannt gewordenen Dokumente und Augenzeugenberichte, an deren Echtheit kein Zweifel bestehen kann. Der Autor hat beide Ebenen miteinander verwoben und durch einen Exkurs über die bekanntesten Fälle von biografischen Hochstaplern ergänzt, die sich als Holocaust-Überlebende oder deren Nachkommen ausgegeben haben. Die ebenso spannende wie beklemmende Darstellung gibt somit auch Einblicke in die Werkstatt der Historiker, die mitunter der Arbeit von Detektiven ähnelt.
In seinem Nachwort geht Jan Philipp Reemtsma der Frage nach, was Menschen dazu antreibt, mit dem Schreckenswort Auschwitz die eigene Biografie anzureichern. Die von ihm gegründete Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur hat Musials Forschungen von Anfang an finanziell unterstützt und daran auch festgehalten, als feststand, dass es sich um ein großes Falsifikat handelt. Reemtsma bescheinigt Musial den „Ruf, auf Quellenpräsentationen ein genaues Auge zu haben“. Das erste Mal hatte dieser es vor zwei Jahrzehnten bewiesen, als er falsch zugeordnete Fotos in der Wehrmachtsausstellung, die Reemtsmas Institut für Sozialforschung verantwortete, entdeckt und ungewollt eine heftige Kontroverse ausgelöst hatte: Es hatte sich um Fotos von Opfern nicht der deutschen Besatzer, sondern der sowjetischen Geheimpolizei NKWD gehandelt. Musial, der seine Dissertation über den Massenmord an den Juden im polnischen Lublin geschrieben hatte, war damals heftig angegriffen worden, weil er angeblich deutsche Verbrechen relativiert hatte, ein grotesker Vorwurf. Reemtsma schreibt nun im Rückblick dazu: Seinerzeit sei der Umgang mit Musial unfair gewesen – „was ich, zu spät, einsehen musste“.
THOMAS URBAN
Bogdan Musial:
Mengeles Koffer.
Eine Spurensuche.
Unter Mitarbeit von
Andrea Böltken. Mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Osburg Verlag, Hamburg 2019,
240 Seiten, 24 Euro.
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