»Eine wahnsinnig packende Wiederentdeckung.« Hildegard Elisabeth Keller, SRF Nach der spektakulären literarischen Wiederentdeckung von »Der Reisende« erscheint nun auch der erste Roman von Ulrich Alexander Boschwitz zum ersten Mal auf Deutsch. Im Berlin der Zwanzigerjahre porträtiert »Menschen neben dem Leben« jene kleinen Leute, die nach Krieg und Weltwirtschaftskrise rein gar nichts mehr zu lachen haben und dennoch nicht aufhören, das Leben zu feiern. Leicht haben es die Protagonisten in Ulrich Alexander Boschwitz' Debütroman nicht. Sie sind die wahren Verlierer der Wirtschaftskrise: Kriegsheimkehrer, Bettler, Prostituierte, Verrückte. Doch abends zieht es sie alle in den Fröhlichen Waidmann. Die einen zum Trinken, die anderen zu Musik und Tanz. Sie treibt die Sehnsucht nach ein paar sorglosen Stunden, bevor sich der graue Alltag am nächsten Morgen wieder erhebt. Doch dann tanzt die Frau des blinden Sonnenbergs mit einem Mal mit Grissmann, der sich im Waidmann eine Frau angeln will und den Jähzorn des gehörnten Ehemanns unterschätzt. Und so nimmt das Verhängnis im Fröhlichen Waidmann seinen Lauf, bis sich neue Liebschaften gefunden haben, genügend Bier und Pfefferminzschnaps ausgeschenkt wurde und der nächste Morgen graut. Wie durch ein Brennglas seziert der zu diesem Zeitpunkt gerade mal zweiundzwanzigjährige Autor das Berliner Lumpenproletariat der Zwischenkriegsjahre.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.01.2020Gebeutelte und Geschlagene
In seinem ersten Roman „Menschen neben dem Leben“ schildert Ulrich Alexander Boschwitz
den Alltag des Berliner Lumpenproletariats zu Beginn der Dreißigerjahre
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Ein deutscher Roman, der fast achtzig Jahre nach seiner Niederschrift erstmals in der Originalsprache veröffentlicht wurde, sorgte 2018 für Aufsehen. „Der Reisende“, ursprünglich 1939 unter dem Titel „The Man Who Took Trains“ in London erschienen, schildert die Erlebnisse eines jüdischen Kaufmanns, der bei den November-Pogromen des Jahres 1938 um seine Existenz gebracht wird und, nach vergeblichem Fluchtversuch, in Zügen der Reichsbahn panisch und ziellos durch ein Land im Ausnahmezustand reist (SZ vom 14.02.2018).
Der Autor, Ulrich Alexander Boschwitz, befand sich zu jener Zeit mitten in seiner eigenen Exil-Odyssee: 1915 in Berlin geboren, war er 1935 mit seiner verwitweten Mutter über Skandinavien, Frankreich und Belgien nach England emigriert und schrieb unter dem Pseudonym John Grane. Dass er die antisemitisch vergiftete, angstgefärbte Lebenswirklichkeit Deutschlands im Vorkriegsjahr aus der Entfernung derart präzise abzubilden vermochte, erregte acht Jahrzehnte später Staunen und Bewunderung.
Ulrich Alexander Boschwitz’ Biografie ist kurz und traurig: Trotz seines jüdischen Hintergrunds wurde er bald nach Kriegsausbruch als „feindlicher Ausländer“ nach Australien deportiert, und er starb 1942 beim Torpedo-Angriff eines deutschen U-Boots auf das Schiff, das ihn nach England zurückbringen sollte. Es wird vermutet, dass sein letztes Manuskript mit ihm unterging. Erhalten blieb jedoch das Typoskript seines Erstlings „Menschen neben dem Leben“, den er 1937 in Stockholm auf Schwedisch publizieren konnte. Wie schon „Der Reisende“, so wurde auch dieses Werk von dem Berliner Verleger und Textscout Peter Graf aufgespürt, behutsam lektoriert und ediert, sodass nun zusätzliches Licht auf jene früh und tragisch beendete Schriftstellerlaufbahn fällt. Und mag es sich bei dieser Wiederentdeckung auch nicht, wie bei Boschwitz’ zweitem Roman, um eine spektakuläre Lückenschließung in der Geschichte der Exilliteratur handeln, steht doch außer Zweifel, dass wir es hier mit einem Debüt von großer literarischer Nachhaltigkeit zu tun haben.
„Menschen neben dem Leben“, das waren die kleinen Leute, die aus dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise als die eigentlichen Verlierer hervorgingen: Invaliden, Arbeitslose, Bettler, Kleinkriminelle, psychisch Lädierte, nicht wenige von ihnen ohne Obdach oder auf ärmlichste Verhältnisse zurückgeworfen; Prostituierte und Zuhälter, gefangen in einem System von Abhängigkeiten und Konkurrenzkämpfen. Alfred Döblin hatte in „Berlin Alexanderplatz“ dieses Milieu zu einem Großstadtroman von weltliterarischem Format verdichtet. Ulrich Alexander Boschwitz, ein junger Mann aus bürgerlichem Hause, dürfte das 1929 erschienene Epos gelesen haben, ebenso die Feuilletons von Joseph Roth, vielleicht frühe Werke von Hans Fallada und Erich Kästner, Irmgard Keun und Gabriele Tergit.
Auch Walter Ruttmanns legendären Dokumentarfilm „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ oder Brechts „Dreigroschenoper“ nennt Peter Graf in seinem Nachwort als mögliche Anregungen und Einflussquellen für Boschwitz’ Debütroman. All das ist atmosphärisch gegenwärtig, und doch lässt die kleine Geschichte aus dem Berlin der Zwischenkriegsjahre, die der damals gerade eben über 20-jährige Autor erzählt, einen ganz eigenen Zugang zum Stoff und zum Zeitgeist erkennen.
Eine Handvoll Figuren nimmt er in den Blick, die teils durch Not aneinandergekettet sind, teils im Zufallsgenerator der Metropole aufeinandertreffen. Der mürrisch-resignierte Bettler Fundholz hat, halb widerstrebend, den adipösen, geistig behinderten Ernst, genannt Tönnchen, unter seine Fittiche genommen, organisiert Nahrung und karge Schlafstellen für sie beide. Mitunter gesellt sich der Gelegenheitsdieb Grissmann zu ihnen, durch Verbitterung auf die schiefe Bahn geraten und noch immer von aggressivem Ehrgeiz getrieben. Auch der kriegsblinde Akkordeonspieler und Zündholzverkäufer Sonnenberg bezieht seine Lebensenergie aus Wut und Rachsucht, und seine Frau Elsi, die er mit seinen Launen quält, harrt hilflos bei ihm aus. Einen anderen Frauentyp verkörpert Minchen Lindner, die von reichen Gönnern lebt und ihren trunksüchtigen Vater unterstützt: Abgebrüht, wie sie ist, hat sie sich Selbstwertgefühl und Empfindsamkeit bewahrt. Schließlich fügt sich in diese Konstellation noch der „schöne Wilhelm“, ungelernter Arbeiter ohne Arbeit, Zuhälter aus Not, Amateurdichter mit Manieren und politischem Bewusstsein.
Bis auf Tönnchen, der nur ans Essen denken kann, haben sie alle ihre Hoffnungen, ihre Illusionen noch nicht ganz begraben, fallen immer wieder auf die kleinen oder größeren Glücksversprechen des Großstadtlebens herein.
Boschwitz begleitet diesen Trupp auf seiner Jagd nach trügerischen Tröstungen quer durch Berlin, lässt Randgestalten samt ihren Schicksalen dazustoßen, balanciert trittsicher zwischen Tragik und Komik und veranstaltet schließlich in der Kneipe „Fröhlicher Waidmann“, einer Zufluchtsstätte der Gebeutelten und Geschlagenen, einen thrillerkompatiblen Showdown, punktgenau verortet zwischen Slapstick und großem Drama. Die episodenhaft angelegte Erzählung ist sichtbar filmisch inszeniert, mit vielen Perspektiv- und Schauplatzwechseln, rhythmischem Gespür für Beschleunigung und Retardierung, schnellen Schwenks zwischen dem Innenleben der Figuren, dialogischen Szenen und Gesamtaufnahmen des urbanen Alltags. Man kann sich vorstellen, wie der Autor, wäre ihm mehr Zeit vergönnt gewesen, diese Technik noch verfeinert und formal vervollkommnet hätte.
Am stärksten berührt seine Kunst, Stilmittel des Realismus und der Neuen Sachlichkeit, als da sind: distanzierte Beobachtung und genaue Analyse, mit tiefer Empathie für seine Protagonisten zu verbinden – wobei das Mitgefühl, das auf den Leser überspringt, sich allein aus nüchtern geschilderten Tatsachen speist.
Nehmen wir Tönnchen, der uns zunächst, über die Beschreibung seines Äußeren und die Wahrnehmung seiner Mitmenschen, als dauergrinsender Koloss vorgestellt wird, abstoßend und fast furchterregend. Ein lapidar eingefügter Abschnitt, der seine Kindheitsgeschichte mitteilt, lässt diese Reaktion in Verständnis, ja Sympathie umschlagen, ohne dass auf Emotionen spekuliert würde. In ähnlichem Verfahren stattet Boschwitz jede Figur mit jener Ambivalenz aus, die ein Merkmal bedeutender Literatur ist. Und es überrascht, wie eine solche Leseerfahrung dem eigenen Phlegma abhelfen und auf fremdes Unglück aufmerksam machen kann.
Die klarsichtige Unbefangenheit dieses Schriftstellers im Werden, dem eine Affinität zur Sozialreportage durchaus anzumerken ist, zeigt sich in seinen Kommentaren zum anschwellenden Autoverkehr und zur Rücksichtslosigkeit der Motorisierten gegenüber den „Unbekannten“, den „Uninteressanten“, die den Abgasen ausgeliefert sind. Sie zeigt sich auch in seinen ebenso lakonischen wie ironischen Ausführungen über die Vorteile von Maschinen im Vergleich zu menschlichen Arbeitskräften, und fast gespenstisch nimmt sein Fazit heutige Verhältnisse vorweg: „Alle Probleme schienen sich herrlich lösen zu lassen. Man musste nur noch den maschinellen Menschen erschaffen, um zukünftig ganz ohne Arbeiter fabrizieren zu können.“
Die Mechanik einer Gesellschaft, die auf den nächsten Krieg und noch größere Katastrophen zusteuerte, hatte Boschwitz in seinen jungen Jahren schon durchschaut. Der weitere Verlauf des Jahrhunderts ist bekannt – man würde etwas darum geben, die weitere Entwicklung dieses literarischen Talents erlebt zu haben.
Ulrich Alexander Boschwitz: Menschen neben dem Leben. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Graf. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 304 Seiten, 20,60 Euro.
Sie fallen immer wieder auf
Glücksversprechen des
Großstadtlebens herein
Berlin, 1932: Essensverteilung aus Reichswehrfeldküchen.
Foto: Scherl/SZ PHOTO
Ulrich Alexander Boschwitz (1915–1942).
Foto: courtesy Leo Baeck Institute, New York
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In seinem ersten Roman „Menschen neben dem Leben“ schildert Ulrich Alexander Boschwitz
den Alltag des Berliner Lumpenproletariats zu Beginn der Dreißigerjahre
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Ein deutscher Roman, der fast achtzig Jahre nach seiner Niederschrift erstmals in der Originalsprache veröffentlicht wurde, sorgte 2018 für Aufsehen. „Der Reisende“, ursprünglich 1939 unter dem Titel „The Man Who Took Trains“ in London erschienen, schildert die Erlebnisse eines jüdischen Kaufmanns, der bei den November-Pogromen des Jahres 1938 um seine Existenz gebracht wird und, nach vergeblichem Fluchtversuch, in Zügen der Reichsbahn panisch und ziellos durch ein Land im Ausnahmezustand reist (SZ vom 14.02.2018).
Der Autor, Ulrich Alexander Boschwitz, befand sich zu jener Zeit mitten in seiner eigenen Exil-Odyssee: 1915 in Berlin geboren, war er 1935 mit seiner verwitweten Mutter über Skandinavien, Frankreich und Belgien nach England emigriert und schrieb unter dem Pseudonym John Grane. Dass er die antisemitisch vergiftete, angstgefärbte Lebenswirklichkeit Deutschlands im Vorkriegsjahr aus der Entfernung derart präzise abzubilden vermochte, erregte acht Jahrzehnte später Staunen und Bewunderung.
Ulrich Alexander Boschwitz’ Biografie ist kurz und traurig: Trotz seines jüdischen Hintergrunds wurde er bald nach Kriegsausbruch als „feindlicher Ausländer“ nach Australien deportiert, und er starb 1942 beim Torpedo-Angriff eines deutschen U-Boots auf das Schiff, das ihn nach England zurückbringen sollte. Es wird vermutet, dass sein letztes Manuskript mit ihm unterging. Erhalten blieb jedoch das Typoskript seines Erstlings „Menschen neben dem Leben“, den er 1937 in Stockholm auf Schwedisch publizieren konnte. Wie schon „Der Reisende“, so wurde auch dieses Werk von dem Berliner Verleger und Textscout Peter Graf aufgespürt, behutsam lektoriert und ediert, sodass nun zusätzliches Licht auf jene früh und tragisch beendete Schriftstellerlaufbahn fällt. Und mag es sich bei dieser Wiederentdeckung auch nicht, wie bei Boschwitz’ zweitem Roman, um eine spektakuläre Lückenschließung in der Geschichte der Exilliteratur handeln, steht doch außer Zweifel, dass wir es hier mit einem Debüt von großer literarischer Nachhaltigkeit zu tun haben.
„Menschen neben dem Leben“, das waren die kleinen Leute, die aus dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise als die eigentlichen Verlierer hervorgingen: Invaliden, Arbeitslose, Bettler, Kleinkriminelle, psychisch Lädierte, nicht wenige von ihnen ohne Obdach oder auf ärmlichste Verhältnisse zurückgeworfen; Prostituierte und Zuhälter, gefangen in einem System von Abhängigkeiten und Konkurrenzkämpfen. Alfred Döblin hatte in „Berlin Alexanderplatz“ dieses Milieu zu einem Großstadtroman von weltliterarischem Format verdichtet. Ulrich Alexander Boschwitz, ein junger Mann aus bürgerlichem Hause, dürfte das 1929 erschienene Epos gelesen haben, ebenso die Feuilletons von Joseph Roth, vielleicht frühe Werke von Hans Fallada und Erich Kästner, Irmgard Keun und Gabriele Tergit.
Auch Walter Ruttmanns legendären Dokumentarfilm „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ oder Brechts „Dreigroschenoper“ nennt Peter Graf in seinem Nachwort als mögliche Anregungen und Einflussquellen für Boschwitz’ Debütroman. All das ist atmosphärisch gegenwärtig, und doch lässt die kleine Geschichte aus dem Berlin der Zwischenkriegsjahre, die der damals gerade eben über 20-jährige Autor erzählt, einen ganz eigenen Zugang zum Stoff und zum Zeitgeist erkennen.
Eine Handvoll Figuren nimmt er in den Blick, die teils durch Not aneinandergekettet sind, teils im Zufallsgenerator der Metropole aufeinandertreffen. Der mürrisch-resignierte Bettler Fundholz hat, halb widerstrebend, den adipösen, geistig behinderten Ernst, genannt Tönnchen, unter seine Fittiche genommen, organisiert Nahrung und karge Schlafstellen für sie beide. Mitunter gesellt sich der Gelegenheitsdieb Grissmann zu ihnen, durch Verbitterung auf die schiefe Bahn geraten und noch immer von aggressivem Ehrgeiz getrieben. Auch der kriegsblinde Akkordeonspieler und Zündholzverkäufer Sonnenberg bezieht seine Lebensenergie aus Wut und Rachsucht, und seine Frau Elsi, die er mit seinen Launen quält, harrt hilflos bei ihm aus. Einen anderen Frauentyp verkörpert Minchen Lindner, die von reichen Gönnern lebt und ihren trunksüchtigen Vater unterstützt: Abgebrüht, wie sie ist, hat sie sich Selbstwertgefühl und Empfindsamkeit bewahrt. Schließlich fügt sich in diese Konstellation noch der „schöne Wilhelm“, ungelernter Arbeiter ohne Arbeit, Zuhälter aus Not, Amateurdichter mit Manieren und politischem Bewusstsein.
Bis auf Tönnchen, der nur ans Essen denken kann, haben sie alle ihre Hoffnungen, ihre Illusionen noch nicht ganz begraben, fallen immer wieder auf die kleinen oder größeren Glücksversprechen des Großstadtlebens herein.
Boschwitz begleitet diesen Trupp auf seiner Jagd nach trügerischen Tröstungen quer durch Berlin, lässt Randgestalten samt ihren Schicksalen dazustoßen, balanciert trittsicher zwischen Tragik und Komik und veranstaltet schließlich in der Kneipe „Fröhlicher Waidmann“, einer Zufluchtsstätte der Gebeutelten und Geschlagenen, einen thrillerkompatiblen Showdown, punktgenau verortet zwischen Slapstick und großem Drama. Die episodenhaft angelegte Erzählung ist sichtbar filmisch inszeniert, mit vielen Perspektiv- und Schauplatzwechseln, rhythmischem Gespür für Beschleunigung und Retardierung, schnellen Schwenks zwischen dem Innenleben der Figuren, dialogischen Szenen und Gesamtaufnahmen des urbanen Alltags. Man kann sich vorstellen, wie der Autor, wäre ihm mehr Zeit vergönnt gewesen, diese Technik noch verfeinert und formal vervollkommnet hätte.
Am stärksten berührt seine Kunst, Stilmittel des Realismus und der Neuen Sachlichkeit, als da sind: distanzierte Beobachtung und genaue Analyse, mit tiefer Empathie für seine Protagonisten zu verbinden – wobei das Mitgefühl, das auf den Leser überspringt, sich allein aus nüchtern geschilderten Tatsachen speist.
Nehmen wir Tönnchen, der uns zunächst, über die Beschreibung seines Äußeren und die Wahrnehmung seiner Mitmenschen, als dauergrinsender Koloss vorgestellt wird, abstoßend und fast furchterregend. Ein lapidar eingefügter Abschnitt, der seine Kindheitsgeschichte mitteilt, lässt diese Reaktion in Verständnis, ja Sympathie umschlagen, ohne dass auf Emotionen spekuliert würde. In ähnlichem Verfahren stattet Boschwitz jede Figur mit jener Ambivalenz aus, die ein Merkmal bedeutender Literatur ist. Und es überrascht, wie eine solche Leseerfahrung dem eigenen Phlegma abhelfen und auf fremdes Unglück aufmerksam machen kann.
Die klarsichtige Unbefangenheit dieses Schriftstellers im Werden, dem eine Affinität zur Sozialreportage durchaus anzumerken ist, zeigt sich in seinen Kommentaren zum anschwellenden Autoverkehr und zur Rücksichtslosigkeit der Motorisierten gegenüber den „Unbekannten“, den „Uninteressanten“, die den Abgasen ausgeliefert sind. Sie zeigt sich auch in seinen ebenso lakonischen wie ironischen Ausführungen über die Vorteile von Maschinen im Vergleich zu menschlichen Arbeitskräften, und fast gespenstisch nimmt sein Fazit heutige Verhältnisse vorweg: „Alle Probleme schienen sich herrlich lösen zu lassen. Man musste nur noch den maschinellen Menschen erschaffen, um zukünftig ganz ohne Arbeiter fabrizieren zu können.“
Die Mechanik einer Gesellschaft, die auf den nächsten Krieg und noch größere Katastrophen zusteuerte, hatte Boschwitz in seinen jungen Jahren schon durchschaut. Der weitere Verlauf des Jahrhunderts ist bekannt – man würde etwas darum geben, die weitere Entwicklung dieses literarischen Talents erlebt zu haben.
Ulrich Alexander Boschwitz: Menschen neben dem Leben. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Graf. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 304 Seiten, 20,60 Euro.
Sie fallen immer wieder auf
Glücksversprechen des
Großstadtlebens herein
Berlin, 1932: Essensverteilung aus Reichswehrfeldküchen.
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Ulrich Alexander Boschwitz (1915–1942).
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