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Fragwürdige Umdeutung von Autonomie: Der Philosoph Michael Quante plädiert für mehr Lebensqualitätsbewertung in der Bioethik.
Eigentlich ist die Sache ganz einfach. Würde, sagt Kant, kommt dem "Gesetzgeber" zu. Und Menschenwürde bedeutet, dass Menschen einander nicht als physische Gegenstände traktieren. Menschenwürde meint, dass Menschen einander wechselseitig im Licht der Fähigkeit sehen, "allgemein gesetzgebend", dabei freilich dieser Gesetzgebung selbst unterworfen zu sein. Das - und nur das! - heißt nach Kant, über Autonomie zu verfügen. Menschenwürde und Autonomie sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Kant freilich ist seit 200 Jahren tot. So tot, dass man heute über "Menschenwürde und personale Autonomie" publizieren kann, ohne dem Prägemeister beider Begriffe die allergeringste Reverenz zu erweisen. Menschenwürde und Autonomie zählen dann etwa schlicht zu "unseren demokratischen Werten", geraten im "Pluralismus" in "Wertekonflikte" und müssen sich bemühen, unter der Fortschrittspeitsche der Lebenswissenschaften irgendwie weiterzukommen. Damit sie dies können, reduziere man ihren Gehalt: den von Autonomie etwa auf "Selbstbestimmung" nach Maßgabe subjektiver "Lebensqualitätsbewertung", den von Menschenwürde aber auf die "besondere Fähigkeit normaler menschlicher Wesen", das eigene Leben doch auch nach Gutdünken einzurichten.
Was damit am Ende gemeint ist, zeigt jetzt Michael Quante an mehreren Testfällen. Testfall Präimplantationsdiagnostik: Theologen mögen zwar an eine Heiligkeit des Lebens auch des in vitro gezeugten Embryos glauben, können diese Sicht "unserer demokratischen Gesellschaft" jedoch nicht mehr aufnötigen - so weit, so unstrittig. Der Embryo wiederum, der zu den Wesen zählt, die im Gang der Dinge "normalerweise" ihr Leben nach eigenen Regeln führen, verfügt ebendeshalb auch über "Würde" - auch das mag konsensfähig sein. Dann aber kommt die Überraschung: Ebendiese Würde bestreitet nicht, wer ihn, den Embryo, trotzdem "verwirft", etwa weil eine Behinderung droht. Die Selektion macht ihm nicht die Würde, sondern "nur" das Lebensrecht streitig, wozu sie zwar keinesfalls nach Kant, wohl aber nach Quante eben kraft eigener "Autonomie" auch befugt ist. 200 Jahre nach Kant sollen so "Lebensqualitätsbewertung" und Respektierung von Menschenwürde versöhnt sein: um den Preis freilich, dass die letztere jedenfalls in ihrer Rechtswirksamkeit verdunstet.
Ähnlich im Testfall zwei, der Sterbehilfe: Wenn Quante von einem "autonomen Tötungswunsch" spricht, ist hier nach Kant gerade schon die Euthanasie der Autonomie am Werk, die nämlich nur um den Preis der Selbstdestruktion die Auslöschung eines zur Würde bestimmten Wesens wollen kann; und das gilt umso mehr, wenn Quante im "Einzelfall" auch die "autonome" Tötung ohne Einwilligung durchgehen lassen will. Merkwürdig ist aber noch ein dritter Testfall, die verbrauchende Embryonenforschung: Eine "pluralistische Ethik", sagt Quante, tut einstweilen gut daran, die Würde des Embryos darin anzuerkennen, dass sie nur überzählige Embryonen, solche also, die keine Implantationskandidaten mehr sind, der Forschung zuführt. Allerdings ist das eine Interimslösung: Denn "in langfristiger Perspektive" empfiehlt es sich doch, Embryonen "nicht unter das Prinzip Menschenwürde" fallen zu lassen, jedenfalls soweit es um "Forschung" an ihnen geht. Verfallsdaten dieser Art kannte die Kantische Menschenwürde nun freilich nicht - so wenig sie es von einer Entscheidung abhängen ließ, wer oder was nun gerade unter sie fiel.
Quantes Buch stellt eine Sammlung von elf Aufsätzen aus einem Zeitraum von etwa dreizehn Jahren dar. Man stößt in dem Band auf Details, die antiquierte Faktenstände betreffen, so etwa, wenn Quante in einem Euthanasieaufsatz von 1998 gegen die Slippery-slope-Argumente anführt, es fehlten für sie die "empirischen Daten". Solche Daten liegen indes für die Niederlande und auch Belgien längst vor, wobei nicht nur auf die regelmäßig erschreckend hohe Zahl von Euthanasien ohne Einwilligung, insbesondere bei Patienten über 80 Jahren, hinzuweisen ist, sondern auch auf die Tatsache, dass es einen deutlichen Trend zu kontinuierlichen tiefen Sedierungen am Lebensende gibt, offenbar, um der Meldepflicht für Euthanasien und so womöglich auch dem Image des "Todesdoktors" zu entgehen. Aktueller sind die Stellungnahmen Quantes zum Neuro-Enhancement ("keine prinzipiellen Einwände") und zu den Patientenverfügungen ("keine kategorischen Einwände gegen deren Gültigkeit"). Auch hier liegt der Fokus ganz auf dem empirischen Willen des Einzelsubjekts, also jenseits authentischer Autonomie. Übrigens: Ganz schnelle Antworten gibt es auch bei Kant nicht. Aber Antworten, die sich an seiner Perspektive auch auf konkrete Fragen zumindest abgearbeitet hätten, hätten dem Leser die Frage erspart, warum hier jene radikal andere Sicht der Dinge, die in den beiden Leitworten Quantes schon liegt, durchgängig ignoriert worden ist. Dass das Buch damit in der neueren Bioethik nicht ganz allein steht, macht die Sache nicht besser. Es verweist eher auf ein echtes Problem.
THOMAS SÖREN HOFFMANN
Michael Quante: "Menschenwürde und personale Autonomie". Demokratische Werte im Kontext der Lebenswissenschaften.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2010. 249 S., br., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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