Dieser Band betrachtet das menschliche Leben aus drei Perspektiven, die alle mit seiner zeitlichen Begrenztheit verknüpft sind: Erstens wird untersucht, worin die zeitliche Einheit eines menschlichen Lebens besteht, wo genau es beginnt und wo es endet. Dabei stellt sich heraus, dass die Kategorien "Leben" und "Tod" keine rein naturwissenschaftlichen Begriffe sind. In einem zweiten Schritt werden verschiedene Kausalerklärungen des Alterns, wie sie die neue Wissenschaft der Biogerontologie aufstellt, einer wissenschaftstheoretischen und metaphysischen Analyse unterzogen: Sind die Entdeckungen der Biogerontologie medizinisch verwertbar? Welche normativen Implikationen haben sie? Der dritte Schritt behandelt ausführlich die Frage, ob eine radikale Verlängerung des menschlichen Lebens aus ethischer Sicht wünschenswert ist. Grundlage dafür bildet eine differenzierte Theorie des Guten Lebens.
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Je länger, je lieber: Sebastian Knell und Marcel Weber kalkulieren den Wohlfahrtsgewinn des hohen Alters
Gegenwärtig liegt die maximale menschliche Lebensdauer bei rund 120 Jahren. Zahlreiche Wissenschaftler halten es jedoch für möglich, durch Eingriffe in die biologischen Alterungsprozesse das menschliche Leben zumindest um mehrere Jahrzehnte zu verlängern. Aber sollten wir uns einen solchen Zuwachs an Lebenszeit überhaupt wünschen? Viele Altenheimbewohner würden vermutlich entsetzt abwinken. Auch die Philosophen Sebastian Knell und Marcel Weber, die diese Frage in den Mittelpunkt rücken, wissen, dass ein Mehr an Lebenszeit nicht notwendig auch ein Mehr an Wohlergehen bedeutet. Der Tatsache, am Leben zu sein, könne unabhängig von den konkreten Lebensinhalten kein "intrinsischer benefizieller Wert" zugeschrieben werden. Vielmehr komme ein solcher intrinsischer Wert allein spezifischen Inhalten eines menschlichen Lebens zu.
Für ein längeres Leben kann nach Auffassung der Autoren deshalb nur plädieren, wer damit rechnet, dass die mit einer Lebensverlängerung einhergehenden Chancen deren mögliche Risiken wie Krankheiten, Vereinsamung und Überdruss überwiegen. Die "innerlebensgeschichtliche Wohlfahrtsbilanz" müsse voraussichtlich positiv ausfallen. Damit brechen Knell und Weber die Frage nach der moralphilosophischen Wünschbarkeit einer wesentlichen Verlängerung des menschlichen Lebens auf den Status eines schlichten Buchhaltungsproblems herunter. Um die dadurch aufgeworfenen Bilanzierungsschwierigkeiten zu entschärfen, bekennen sich die Autoren ferner zu der anspruchsvollen und keineswegs selbstverständlichen Prämisse, dass im Laufe eines verlängerten Lebens durchgängig mindestens die in den heutigen westlichen Industrienationen üblichen äußeren Wohlstands- und Autonomiebedingungen erfüllt wären.
Angesichts derart erfreulicher Rahmenbedingungen ist das Ergebnis, zu dem Knell und Weber nach einer umständlichen Abwägung des Für und Wider gelangen, wenig überraschend. Die Chance, durch einen Aufschub des Todes einen "innerlebensgeschichtlichen Wohlfahrtsgewinn" zu erzielen, sei alles in allem als gut zu beurteilen. Zwar bedeute dieser Befund nicht, dass ein verlängertes Leben im Ganzen glücklicher sein würde als ein nicht verlängertes. Es gebe nämlich keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass ein verlängertes Leben die Chance böte, die durch den Zugewinn an Lebenszeit verbesserten Möglichkeiten relativ zu dem veränderten möglichen Optimum umfassender auszuschöpfen. Da aber umgekehrt auch kein Rückgang des bislang erreichten Glücksniveaus zu befürchten sei, überwogen insgesamt die Gründe, die dafür sprächen, eine Ausdehnung des eigenen Lebens für wünschenswert zu halten.
Diese Gründe sind freilich, wie Knell und Weber ausdrücklich einräumen, rein prudentieller Natur. Der einzige Maßstab, an dem sich der homo calculans der Autoren orientiert, ist das eigene liebe Ich. Für die Frage, ob das, was individuell als klug erscheint, sich auch nach überindividuell begründbaren Kriterien als erlaubt oder gar geboten darstellt, ist in diesem Ansatz kein Raum. Wie überall dort, wo es darum geht, welche Leistungen zur Erhaltung seines Lebens der Einzelne beanspruchen darf, lauern hier schwierige Probleme der Verteilungsgerechtigkeit und der Chancengleichheit. Knell und Weber weisen zwar en passant auf diese Gesichtspunkte hin, blenden sie aber im Übrigen aus ihren Erörterungen aus. Ihnen gehe es nämlich lediglich darum, "unter einer rein individualethischen Perspektive zu untersuchen, ob und, falls ja, in welchen Hinsichten ein radikal verlängertes Leben für die davon betroffenen Personen ein wünschenswertes Ziel wäre".
Dieser vordergründig sympathischen Bescheidenheit liegt indessen ein höchst anfechtbares Verständnis von der Rolle und den Aufgaben der praktischen Philosophie zugrunde. Ungeachtet der von Knell und Weber eingeräumten Begrenztheit ihres Untersuchungsgegenstandes erheben beide ausdrücklich den Anspruch, als Ethiker und nicht nur als Lebensunternehmensberater zu sprechen. Aber ist es Ausdruck einer akzeptablen ethischen Konzeption, praktische Philosophie nach Art einer Buchhaltung zur Optimierung von Individualinteressen zu betreiben und das Nachdenken über etwaige moralische Ansprüche deshalb darauf zu beschränken, was für den Fordernden selbst am besten wäre? Ist für die Ethik nicht vielmehr der Schritt über den Horizont der eigenen Interessen hinaus konstitutiv? Muss in ihr nicht zumindest auch die Perspektive jener Personen Berücksichtigung finden, die von der eigenen Interessenwahrnehmung betroffen wären?
Wenn dem aber so ist, sind Knells und Webers Ausführungen von vornherein ungeeignet dazu, den von ihnen erhobenen disziplinären Anspruch einzulösen. Die Autoren präsentieren somit keine Ethik der Lebensverlängerung, nicht einmal den Ausschnitt einer solchen, sondern bestenfalls eine Propädeutik zu einem solchen Werk. Das bedeutet nicht, dass ihre Erwägungen insgesamt unplausibel wären. Aber sie segeln unter falscher Flagge.
MICHAEL PAWLIK
Sebastian Knell und Marcel Weber: "Menschliches Leben".
Verlag Walter de Gruyter, Berlin, New York 2009. 221 S., br., 24,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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