Heike Behrend studiert Ethnologie in den politisch bewegten Sechzigerjahren; ihre erste Feldforschung führt sie Ende der Siebzigerjahre in die keniani schen Tugenberge; Mitte der Achtzigerjahre begibt sie sich auf die Spuren der Holy-Spirit-Bewegung im Norden Ugandas. Während der Aids-Epidemie arbeitet sie über die katholische Kirche in Westuganda, und schließlich erforscht sie an der kenianischen Küste die lokalen Praktiken von Straßenfotografen und Fotostudios. Diese Autobiografie der ethnografischen Forschung erzählt keine heroische Erfolgsgeschichte, sondern berichtet von dem, was in den herkömmlichen Ethnografien meist ausgeschlossen wird - die unheroischen Verstrickungen und die kulturellen Missverständnisse, die Konflikte, Fehlleistungen sowie Situationen des Scheiterns in der Fremde. So lädt dieses Buch zu einem freimütigen Blick auf die Ethnologie als Poetik sozialer Beziehungen ein. In den wenig schmeichelhaften Namen - »Affe«, »Närrin« oder »Kannibale« -, die der Ethnologin in Afrika gegeben wurden, wird sie mit fremder Fremderfahrung konfrontiert und muss sich fragen, welche Wahrheit diese Bezeichnungen zum Ausdruck bringen, welche koloniale Geschichte sie erzählen und welche Kritik sie an ihrer Person und Arbeit üben. Mit dem Bericht über vier ethnografische Forschungen in Kenia und Uganda in einem Zeitraum von fast fünfzig Jahren reflektiert Heike Behrend auch die Fachgeschichte der Ethnologie und die Veränderungen des Machtgefüges zwischen den Forschenden und den Erforschten, die sie am eigenen Leib erfährt.
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Von Kannibalen hat nicht nur der Westen unruhig geträumt: Heike Behrend gewinnt aus einem Rückblick auf die Irrungen und Wirrungen ihrer Feldforschungen in Afrika eine autobiographische Erzählung der besonderen Art.
Von Helmut Mayer
Klassische ethnographische Feldforschung war, nicht zuletzt auf dem "schwarzen Kontinent", eine in mancher Hinsicht merkwürdige Angelegenheit. Westliche Kulturflüchtlinge auf Zeit bemühten sich um ein Verständnis eher übersichtlicher, irgendwie ursprünglicher und jedenfalls als vormodern wahrgenommener Gesellschaften. Es ging um Gegenbilder zu den Herkunftgesellschaften und allgemeiner zur "westlichen" Zivilisation, deren endgültiger Zugriff den besuchten "Stämmen", "Ethnien" oder "Kulturen" drohte. Wobei ebendiese machtbewehrte Zivilisation oft gleichzeitig in Gestalt der Kolonialverwaltungen mehr oder minder deutlich hinter den Ethnographen und Ethnographinnen stand, die ihrerseits wenig Zweifel daran hatten, das Verhalten der Subjekte ihrer Neugier besser zu verstehen, als es jenen selbst gelingen könnte. Die teilnehmenden Beobachter waren eben vor allem das: Beobachter, welche fremde soziale Praktiken der Vergesellschaftung entschlüsselten, zu deren eigentlichem Verständnis die Akteure selbst kaum Zugang hatten. Man brauchte natürlich Informanten und meist auch Übersetzer, aber das war ein eher technisches Problem der Forschung.
Solches Selbstverständnis hat die Ethnologie im Zuge einer eindrücklichen Selbstkritik in den vergangenen Jahrzehnten auf breiter Basis gründlich revidiert. Kurzgefasst, wurde aus einem - zumindest offiziell - einseitigen Verhältnis, das dem Feldforscher eine kognitive wie praktische Autoritätsposition eingeräumt hatte, eine offenere und von Austausch geprägte Situation. Die Feldforschung war nicht länger einfach ein Fenster in eine andere Welt, sondern ein Prozess von wechselseitigen Aneignungen, Ablehnungen, Transformationen und Spiegelungen, bei dem beide Seiten immer schon Bilder von den jeweils anderen ins Spiel bringen. Man bekannte, bei der Verfertigung kontrastreicher Fremdbilder einiges ausgeblendet zu haben: insbesondere den Anteil, den die Ethnographierten selbst an der Hervorbringung des Wissens über sich hatten, und auch ihre Verfahren, Varianten von Gegen-Ethnographien zu entwickeln, die ihre eigenen Erfahrungen mit den Fremden artikulierten. Man achtete, anders formuliert, mehr auf die fremden Fremderfahrungen.
Sie sind ein zentrales Motiv im Buch von Heike Behrend. Die emeritierte Ethnologin hat einen autobiographischen Bericht über ihre Feldforschungen in Ostafrika geschrieben. Es ist ein Blick hinter die Kulissen, auf die "unheroischen Verstrickungen und kulturellen Missverständnisse, Konflikte und Fehlleistungen" während ihrer Feldforschungen über drei Jahrzehnte hinweg. Das läuft aber nicht etwa bloß auf Anekdoten oder abenteuerliche Geschichten hinaus, sondern es nimmt konsequent Zuschreibungen zum Leitfaden, mit denen sich die Autorin konfrontiert sah: die Einordnungen und Klassifizierungen, denen sie von Seiten der Ethnographierten unterworfen wurde. Daraus wird eine autobiographische Erzählung im Medium der Spiegelungen in kulturell fremd geprägten Wahrnehmungen, bei der man gleichzeitig viel über die konkreten Forschungsarbeiten der Autorin lernt und die erwähnten Revisionen der klassischen Ethnographie konkret mitverfolgen kann.
Eine dieser Klassifizierungen taucht im Titel des Buchs auf. In einer abgelegenen Region im Nordwesten von Kenia, wo die junge Forscherin gegen Ende der siebziger Jahre ihre ersten Erfahrungen "im Feld" zu machen beginnt, noch eng am klassischen sozialanthropologischen Paradigma orientiert, wird sie unter die Affen eingereiht. Womit die neugierige, gegen elementare Höflichkeitsregeln verstoßende und mit ihrem Verhalten Heiterkeitsausbrüche auslösende Fremde zwar ans äußerste, primitive Ende der Fremdheitsskala ihrer Gastgeber, nämlich unter die Tiere verbannt ist. Aber weil die hinter dieser Skala stehende Vorstellungswelt die Grenze zwischen Tier und Mensch nicht als unüberschreitbar ansieht - an entscheidenden Übergängen der Sozialisierung zum vollwertigen Mitglied der Gesellschaft auch ein vorübergehendes Eintauchen in den primitiven Zustand vorsieht -, stehen der Ethnologin Entwicklungsmöglichkeiten offen. Ihre erwiesene Anhänglichkeit (sie kehrt immer wieder aus Deutschland zurück) und das Erlernen von Höflichkeits- und Anstandsregeln führen sie vom "Affen" über "das Ding" zur "kleinen Person" und schließlich, nachdem sie in einen der Clans aufgenommen ist, sogar zur "Europäerin unter den Ältesten".
Auch als Kinderschreck, mit dessen kannibalischen Gelüsten gedroht wird, muss sie auf diesem Weg herhalten. Eine Zuschreibung, die bei der übernächsten ethnographischen Station in ungleich ernsterer Form wiederkehrt. Dort geht es ab Mitte der neunziger Jahre im Westen Ugandas um die katholische Kirche und ihren Umgang mit der Figur des Kannibalen. Die entlegenen Dörfer hatte Behrend schon bei der dazwischenliegenden Erforschung eines besonderen Besessenheitskults und seiner Rolle in den kriegerischen Auseinandersetzungen im Norden Ugandas verlassen. Die Ethnographin ist nun mitten in einer Moderne angekommen, in der sich viele kulturelle Bedeutungen und Praktiken vermischen.
Und in einer Gesellschaft, die sich mit dem Konzept des Zufalls nicht abfindet, sondern für die Toten der gerade ihre höchsten Opferzahlen erreichenden Aids-Epidemie gemäß alten lokalen Traditionen Schuldige in Hexern und Hexen sucht, die oft als Kannibalen auftreten. Kannibalen besonderer und hybrider Art, weil ihre Bedrohung in einer Art perverser Verdrehung zentraler christlicher Vorstellungen ausgemalt wird: Die Opfer werden zu Tode gebracht, müssen dann "auferstehen", um anschließend im gesellig kannibalischen Kreis einverleibt zu werden. Und weil sich unter dem Eindruck pentekostaler Gruppen, die das universal werdende Klima gegenseitigen Misstrauens bearbeiten, die Kirchen leeren, bewilligt der katholische Bischof "Kreuzzüge" gegen Kannibalen - was einerseits zu einer barocken Ausdifferenzierung des einschlägigen Diskurses führt, andererseits aber auch Praktiken der Reinigung und Heilung kultiviert, die Gewalttätigkeiten Grenzen setzen. Die Ethnologin aber muss begreifen, dass sich für ihre Weise des Redens über Kannibalismus und Hexerei - imaginär, aber offensichtlich mit realen gesellschaftlichen Effekten - kein neutraler Raum beanspruchen lässt; stattdessen kommt sie dadurch selbst in den Verdacht, eine Kannibalin zu sein: Das alte westliche Phantasma über das Herz der Finsternis wird zurückgespielt.
Um weniger bedrohliche Austauschprozesse geht es schließlich im letzten Teil, der sich auf lange Jahre der Beschäftigung mit Fotografen an der ostafrikanischen Küste stützt. Er mündet in eine Spiegelung, die gleichzeitig eine mise en abyme ist, wenn die Autorin ihren eigenen autobiographischen Bericht mit einer Biographie in Fotos vergleicht, wie sie zu Zwecken der Darstellung von Verstorbenen in Ostafrika arrangiert werden. Beide lassen sie Psychologie, Innerlichkeit und Geständnis beiseite, um vielmehr ein Ich oder, besser noch: eine Vielzahl von Ichs von außen in den zurückgespielten Wahrnehmungen anderer darzustellen - eine "Poetik der sozialen Beziehungen", die überflüssige Vertraulichkeiten vermeidet. Im Fall der Autorin, ohne auf Bilder zurückzugreifen, in einem schnörkellos geschriebenen, lehrreichen und einnehmenden Text.
Heike Behrend: "Menschwerdung eines Affen". Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 278 S., geb., 25,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
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