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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein verklärendes Porträt des dienstältesten Außenministers eines EU-Staates
Wie viele Sätze braucht man, um zu erklären, wie ein Politiker tickt? Wie viele Beispiele sind nötig, um ihn zu beschreiben? Die österreichische Journalistin und Politikberaterin Margaretha Kopeinig zeichnet in "Merde alors! Jean Asselborn - eine politische Biografie" auf etwa 200 Seiten die Karriere des dienstältesten Außenministers eines Mitgliedstaats der Europäischen Union nach. Seit 2004 ist Asselborn Luxemburgs Chefdiplomat und Immigrationsminister. Seither versucht er, dem zweitkleinsten Land in der EU in der internationalen Politik Gewicht zu verleihen.
Kopeinig nimmt die Leserinnen und Leser in 14 Kapiteln mit zu den zentralen Stationen im Leben des Politikers: Kindheit und Jugend in einer Stahlarbeiterfamilie in der Gemeinde Steinfort, wo Asselborn später 22 Jahre lang Bürgermeister war. Eintritt in die Luxemburger Sozialistische Arbeiterpartei, Aufstieg über den zweiten Bildungsweg, Einzug ins Parlament, Ernennung zum Minister und Vizepremier. Dabei gelingt es der Autorin selten, aus Zitaten und Stationen etwas Aussagekräftiges über den Menschen Asselborn abzuleiten. Was treibt den unermüdlichen Kämpfer für europäische Werte wie Humanität und Solidarität an? Warum empfindet er es als seinen "größten Misserfolg", 2015 während der luxemburgischen EU-Ratspräsidentschaft keine Einigung zur Umverteilung von Migranten und Flüchtlingen erreicht zu haben? Was sind die Schwächen des beliebten und als volksnah bekannten Politikers? Die tieferen Gründe bleiben in der ersten bislang erschienenen Asselborn-Biographie im Dunkeln, oberflächlich kaschiert mit Sätzen wie: "Aufgeben ist, wie gesagt, Jean Asselborns Sache nicht." Oder: "Er engagiert sich seit jeher für jene Gruppen, die keine Lobby haben."
Doch mit der Wahl des Titels beweist Kopeinig, dass sie etwas von dem 71 Jahre alten Politiker verstanden hat. "Merde alors!", Französisch für "Scheiße noch mal", ruft der Sozialdemokrat im September 2018 bei einem informellen EU-Afrika-Treffen zur Migrationspolitik in Wien wütend in die Runde. Der Grund für seinen Zorn: der Parteichef der rechtsnationalen Lega und damalige italienische Innenminister Matteo Salvini.
Kopeinig beschreibt die Szene und ihre Folgen ausführlich - wie Salvini "aufgebracht, mit hochrotem Kopf" auf ein Plädoyer Asselborns für die Einhaltung internationaler Regeln in der Flüchtlingspolitik und die Erleichterung legaler Zuwanderung reagiert. Wie der Rechtspopulist sagt, er wolle lieber Anreize dafür schaffen, dass die Italiener mehr Kinder bekämen, als "neue Sklaven" aus afrikanischen Ländern nach Europa zu holen. Und wie Asselborn das so nicht stehen lassen will, auch aus Rücksicht auf die anwesenden Minister afrikanischer Länder. Noch während Salvini redet, schaltet er sein Mikrofon ein. Zehntausende Italiener seien in der Vergangenheit auf der Suche nach Arbeit nach Luxemburg gekommen, weil sie ihre Kinder in ihrer Heimat nicht hätten ernähren können, unterbricht Asselborn den Redebeitrag des Lega-Chefs. "Das waren keine Sklaven, sondern Menschen, die Italien sehr viel Ehre gebracht haben." Dann knallt der luxemburgische Migrationsminister seine Kopfhörer auf den Tisch, schleudert Salvini jenes berühmt gewordene "Merde alors" entgegen und verlässt den Konferenzsaal.
Der Lega-Chef veröffentlicht später einen heimlich gemachten Mitschnitt der Szene in den sozialen Medien, wohl um Asselborn bloßzustellen. Doch der gibt nicht klein bei, wie Kopeinig beschreibt. Er bleibt dem traditionellen "Familienfoto" der Gipfel-Teilnehmer fern, obwohl oder weil er als Medienprofi um die Macht der Bilder weiß, und attackiert Salvini aus der Ferne weiter. Im Gespräch mit der linksliberalen italienischen Zeitung "La Repubblica" ruft Asselborn europäisch gesinnte Parteien und Politiker dazu auf, eine "Anti-Populisten-Front" zu bilden. Die Populisten wollten jenes vereinte Europa zerstören, das als Friedensprojekt nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sei. "Das dürfen wir ihnen nicht erlauben."
Das entschlossene Vorgehen des Luxemburgers inspiriert zwei Österreicher zu einem Theaterstück über die Rhetorik von Rechtspopulisten; in Luxemburg werden Tausende T-Shirts mit "Merde alors" bedruckt. Der Erlös fließt in Sportprojekte für junge Migranten. Asselborn kostet diesen Triumph über die Methoden Salvinis aus: Er kommt zur Theaterpremiere nach Wien und lobt die T-Shirt-Idee. Auch heute bereue er seinen unüblichen Ausbruch nicht, sagt Asselborn im Gespräch mit Kopeinig.
Hier gelingt, was an vielen anderen Stellen des Buches nicht funktioniert: Sosehr die Autorin sich auch bemüht, klarzumachen, dass der luxemburgische Chefdiplomat ein überzeugter Europäer ist, dessen Einsatz Anerkennung verdient - das Bild, das sie von Asselborn zeichnet, wirkt oft nur verklärend, nicht vielschichtig. Dass sich im Vorwort der ehemalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon für den Luxemburger verbürgt und Asselborns Freunde, die Staatsmänner Frank-Walter Steinmeier und Heinz Fischer, in Wortlaut-Interviews erzählen, was sie an ihm schätzen, verstärkt diesen Eindruck noch.
Doch durch die Beschreibung des Konflikts mit Salvini gewinnt Asselborn Konturen. Er ist nicht nur bereit, für seine Überzeugungen jederzeit mehr oder minder provokante Statements in Kameras und Mikrofone zu sprechen - "Omnipräsenz gehört zu seiner Strategie", schrieb einst das Politikmagazin "Cicero". Der Schlagabtausch zeigt auf glaubwürdige Weise, dass es Asselborn durch und durch empört, wenn Politiker wie Salvini abfällig über Migranten sprechen und ihre nationalen Interessen über alles stellen. Diese Facette des Politikers herauszuarbeiten ist die Stärke von Kopeinigs Buch, das sich über weite Strecken nur liest wie eine Hommage an einen Helden - und eine Abhandlung über die großen Herausforderungen, mit denen die EU in den vergangenen 15 Jahren konfrontiert war: die Migrationskrise, den Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit, die Frage nach der Rolle der EU in der Welt, Brexit, Populismus und neuen Nationalismus. Probleme, an deren Lösung Asselborn weiter mitarbeiten will - er plant, bei der Wahl 2023 in Luxemburg wieder anzutreten.
ANNA-LENA RIPPERGER
Margaretha Kopeinig: Merde alors! Jean Asselborn - eine politische Biografie.
Czernin Verlag, Wien 2020. 224 S., 25,- [Euro].
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