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Mein Tod spricht Dialekt mit mir: Martin Walser führt in "Messmers Momente" das Leiden an sich als eine Kunst- und Lebensform vor
"Mein Selbstgespräch ist Schweigen"? Das nun nicht gerade. Martin Walser hat zwar sein Tagebuch im ICE verloren, aber der Grand Old Man der "Entblößungsverbergungssprache" konnte auf knapp hundert locker bedruckten Seiten retten, was ihn bedrückt und, selten genug, beglückt.
Die Welt, wie sein Alter Ego Tassilo Herbert Meßmer sie sieht, ist ein Jammertal voll Sinnlosigkeit, Vergeblichkeit, "Weltallruß" und Altersbeschwerden, der Dichter von fast allen guten und bösen Geistern verlassen, und das drückt aufs Gemüt. Der Klappentext verspricht "schwebende Momente der Schwere, leuchtende Momente des Dunklen, durch sprachlichen Ausdruck zum Funkeln gebrachte Düsternis", und tatsächlich funkeln "Meßmers Momente" noch schwärzer, trübseliger und depressiver als "Meßmers Gedanken" (1985) und "Meßmers Reisen"(2002). Wüsste man nicht, dass Meßmer eine Kunstfigur, ein Avatar des Romanciers, ist, der seit je mit sich und der Welt hadert, müsste man ernstlich um Walser fürchten.
Im Grunde ist er aber auch mit 86 Jahren ganz der Alte geblieben. Noch immer leidet er an Rechthaberei und Geständniszwang ("Der Welt genügt es nicht, dich zu besiegen. Du sollst ihr fort und fort gestehen, dass dir recht geschah"), an milder Paranoia ("das Einzige, was mich von meinen Verfolgern unterscheidet"), Beziehungswahn ("Die Tür, die zugeschlagen wird, meint mich"), zitternder Kühnheit und jubelndem Selbstüberdruss. Noch immer kämpft er mit der "unwiderstehlichen Kraft der Entmutigung" und gewaltiger Ohnmacht gegen ein Heer von Feinden: Herren der Moral, Merkwürdigkeitskrämer, Feuilletonisten, Wörterer; neuerdings auch gegen einen Herrn Hellhuber, der ihn offenbar wiederholt am Telefon mit seinen Suaden belästigte. Zu seinen alten Freunden (Nietzsche, Pascal, Hölderlin, Kafka, Robert Walser) sind ein paar neue hinzugekommen, etwa Ovid und Aischylos, aber der verlässlichste Widersacher, der unbarmherzigste Stalker bleibt immer noch Walser selbst: "Außer dir hast du keinen Feind."
So schleppt sich Meßmer, "hingerissen von Schmerzlawinen" und Selbstermächtigungsrhetorik, immer näher an den Abgrund des Todes. Das Leiden an sich selbst ist seine Kunst- und Lebensform, eine seltene Autoimmunkrankheit, die er zärtlich "Ganzdiemeine" nennt. Walser ist Walser, der Ich-bin-der-ich-bin-Herr.
Niemand leidet mehr unter ihm als er selbst; niemand, am wenigsten er selbst, ist vor seinen Selbstentzweiungsklimmzügen und seiner Passionsathletik sicher. Ein Großteil seiner Maximen und Reflexionen ist nach diesem paradoxalen Schema gebaut. Mal nüchtern ("Ich muss mich meiden. Wie meidet man sich?"), mal autokratisch ("Ich bin eine abgewählte Regierung, die nicht geht"), mal erloschen ("Ich bin die Asche einer Glut, die ich nicht war"), mal transzendental obdachlos ("Ich bin eine Wohnung, aus der ich ausgezogen bin"), mal hölderlinesk ("Wüßt ich Übriges, wär ich / älter, könnt ich schöner sagen, / was am Abhang reibt, / meinen Sturz zu bremsen"), mal wehleidig ("Es tut weh, die Sprache derer benutzen zu müssen, die dich schinden") und immer mindestens selbdritt mit sich im Unreinen: "Ich zu sagen tut weh. Ich bin die dritte Person. Und der ist mit mir per Sie, auch wenn er mich aufdringlich duzt." Walser will sich "endlich entkommen", davonlaufen, verstummen, nur noch Blumen und honigherzige Bienen loben, "endlich unverständlich sein, auch für mich". Aber er ist nun mal Igel und Hase: "Ich bin die Fortsetzung von mir." Dass er seinen Leidensmienen und Demutsmasken nicht über den Weg traut, hat schon seinen Grund: "Du musst nichts sein wollen. Dann bist du alles. Aber du musst wirklich nichts sein wollen. Ohne Hintergedanken. Wie zerstampft man Hintergedanken?"
Meßmer hat immer noch großartige Momente. Sätze wie "Mein Tod spricht Dialekt mit mir" oder "Kein Genie zu sein und doch verkannt zu werden, das ist die Katastrophe" macht ihm so leicht keiner nach. Aber oft stellt sich doch das "Gefühl einer kraftlosen Überschwemmung" ein, der Eindruck, das ganze Elend sei nur Ausdruck und Attitüde, routiniert beschworen und kokett herbeigeschrieben: "Ausgeblutet liege ich auf den Stränden der Zeit. Kunstatem hält mich am Leben." Das weihevoll wallende Wortgeklingel ist manchmal schwer erträglich: "Würf ich mich in die Höhe, / löste Fesseln mit blumigen Händen / und atmete mich frei! Aber ich bin / verurteilt zu schleppen / ein Schicksal scheppernder Schwärze." Wenn Walser Gedichtartiges wie "Die Leere dröhnt. Die Armut geht spazieren. / Hüpf höher, liebe Depression, / ein Weltrekord ist geil auf dich. / Mich siedet die Sehnsucht" zusammenreimt, klingt er wie ein pubertierender Jungdichter aus den Fünfzigern. "Die Erde ächzt in den Angeln der Schwere. / Vom Sehnen matt, schau ich ins Licht. / Meine Flügel sind schmutzig geworden. / Der Exmoderator Günther Nenning liest / in Bremerhaven. / Von mir weit weg bin ich, / ein Straßenschild ohne Namen. / Unsterblichkeit heißt meine Konserve, / Nabelschnur mein Lieblingsschmuck."
Meßmer will noch einmal "brennen" und "sieden", aber seine Füße sind schwer geworden, seine geistreichen Negationen Asche und Selbstmitleid: "Herausgefallen aus den Vokabularen, liege ich bloß und unglaubhaft. Dem Regen ein Kunststoff, der Kultur ein Dreck." Wenn dann noch "die Orgel namens Himalaya bebt", wenn die Worte "konjunktivisch schweifen wie eine Möwe im Wind" und Poesiealbumperlen wie "Sehnsucht ist eine blutende Wunde" hervorbringen, klingt der schmerzliche Verzicht auf Schönfärberei wie Hohn: "Lass aus deinem Mund Perlen strömen, wenn du kotzen möchtest."
"Singsang der Materie. Es wird nichts mehr getauft": Walser tauft so kostbare Wörter wie weltcapabel, haselnussfromm und abbegehren, aber eigentlich will er alle Sprache hinter sich lassen und ins reine Sein eingehen. Nicht umsonst heißt sein Zauberwort Erlösung: "Erlöse mich, o Herr. Lass meine Schuhe aufflammen, wenn ich das Podium betrete. Verbrenne mich gnädig im Nu." So trabt der alte Zirkusgaul halt noch einmal in die Manege und gibt die gequälte, sich quälende Kreatur, um seine Feinde ein letztes Mal zu beschämen. Lachen und Beten wären eine Lösung. Aber "witzig zu sein macht keinen Spaß", und der Gott seiner Privatreligion ist er ja selbst.
In seiner Messmer-Trilogie wollte Walser immer schon "den Ton hervorbringen, der durch mein Leben entsteht". Der misanthropisch-miesepetrige Tonfall hat sich kaum geändert, wohl aber die Musik. Walser zitiert auch diesmal wieder sein altes Bonmot "Ich möchte so müde sein dürfen, wie ich bin", aber langsam wird es ernst: "Bis jetzt war's Geplänkel. Jetzt hat die Schlacht begonnen, die von Anfang an verloren ist." Man leidet mit Walser, wenn er so glorreich scheitert, wie er sich es kaum zu träumen wagte. Aber Mitleid ist das Letzte, was er in seinen schwachen "Momenten" braucht. Und für den Spott zum Schaden sorgt er schon selbst: "Die Welt lacht. Mich aus" heißt sein letztes Wort.
MARTIN HALTER
Martin Walser: "Meßmers
Momente".
Rowohlt Verlag, Hamburg 2013. 103 S., geb., 14,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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"Die Walser-Festspiele gehen weiter." -- Der Tagesspiegel
"In der schönsten und klarsten Sprache, die in Deutschland zurzeit geschrieben wird, verdichtet Martin Walser Erfahrung und Empfindung und weist jeden Herrschaftsanspruch von Zeit und Tod, Macht und Medien zurück. Dieses Buch ist eine Ohrfeige ins Gesicht aller Überzeugungstäter. Man muss es lieben." -- Denis Scheck