Nach dem philosophischen Bestseller „Die Wurzeln der Welt“: „Coccia definiert das Verhältnis zwischen Mensch und Natur neu.“ Peter Wohlleben
Was ändert sich für uns Menschen, wenn wir uns nicht länger als Individuen betrachten, sondern als Teil des einen Lebens auf der Erde? Die Raupe baut einen Kokon, verwandelt sich in einen Schmetterling und verändert damit grundlegend ihre Form. Diese Beobachtung führt Emanuele Coccia zu der Annahme, dass auch der Mensch kontinuierlich Metamorphosen durchläuft: Der Fötus wird zum Erwachsenen, der sich am Ende seines Lebens in Atome auflöst und von anderen Lebewesen aufgenommen wird. Coccia verbindet Philosophie und Evolutionsbiologie in seiner Neuvermessung unserer Existenz. Und ermöglicht uns ein neues Verständnis davon, wie wir als Menschen mit der Welt verbunden sind.
Was ändert sich für uns Menschen, wenn wir uns nicht länger als Individuen betrachten, sondern als Teil des einen Lebens auf der Erde? Die Raupe baut einen Kokon, verwandelt sich in einen Schmetterling und verändert damit grundlegend ihre Form. Diese Beobachtung führt Emanuele Coccia zu der Annahme, dass auch der Mensch kontinuierlich Metamorphosen durchläuft: Der Fötus wird zum Erwachsenen, der sich am Ende seines Lebens in Atome auflöst und von anderen Lebewesen aufgenommen wird. Coccia verbindet Philosophie und Evolutionsbiologie in seiner Neuvermessung unserer Existenz. Und ermöglicht uns ein neues Verständnis davon, wie wir als Menschen mit der Welt verbunden sind.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.03.2021Sich als Lachs begreifen
Nastassja Martin und Emanuele Coccia glauben an das Wilde
Dass die Ethnologie mit Claude Lévi-Strauss' Erzählungen aus den traurigen Tropen, Clifford Geertz' Beschreibungen der Hahnenkämpfe auf Bali und Philippe Descolas Berichten aus der zerstörerischen Übergangsregion zwischen westlicher Zivilisation und dem wilden Leben an den Rändern des großen Waldes Amazoniens einige der schönsten und bedeutendsten Prosawerke nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen hat, ist nicht folgenlos geblieben. In Nastassja Martins Erzählbericht "An das Wilde glauben", der 2019 im französischen Original erschienen ist und hier in der hervorragenden Übersetzung von Claudia Kalscheuer erstmals auf Deutsch vorliegt, hat die ethnologisch inspirierte Prosa eine Ebene betreten, die hierzulande bisher einzig von Hubert Fichte in seinem großen Buch "Explosion", das im Untertitel "Roman der Ethnologie" heißt, abgeschritten worden ist.
Während es bei Fichte aber die Wolkenkratzer von Rio de Janeiro waren, die zwischen den hupenden Autos ins Wackeln gerieten und die Wahrnehmung für instabile Subjektzustände empfänglich machten, ist es bei Martin die sibirische Steppe. Die ist nämlich nach dem Zusammenprall mit einem Bären buchstäblich rot geworden. Die Steppe war rot, die Hände waren rot, und Martins geschwollenes und zerrissenes Gesicht war kaum noch zu erkennen.
"Wie in den Zeiten des Mythos herrscht Ununterschiedenheit, ich bin diese undeutliche Form, deren Züge in den offenen Breschen des mit Blut und Sekreten verschmierten Gesichts verschwunden sind", schreibt Martin am Anfang ihres Berichts und fügt hinzu: "Es ist eine Geburt, da es ganz offensichtlich kein Tod ist." Und was dann folgt, sind Bericht und Reflexion dieser Geburt, verwoben zu einem kleinen, gerade mal 140 Seiten langen Text, in dem das Verhältnis von Gesagtem und Weggelassenem neu austariert wird.
Eine von Martins Kernfragen berührt jede ethnologische und verhaltensbiologische Feldforschung: die schlichte Tatsache, dass man einen Großteil des Gesehenen und Erlebten nicht wird erzählen können, weil es einem sowieso niemand glauben oder man sehr schnell in den Bereich der Mythologisierung abrutschen und damit als Wissenschaftlerin unglaubwürdig werden würde. Und Wissenschaftlerin ist Nastassja Martin zuerst. Als Schülerin des Anthropologen Philippe Descola gilt Martin, die 1986 in Grenoble geboren wurde, als Spezialistin für arktische Völker. Bekannt wurde sie mit ihrem 2016 erschienenen anthropologischen Essay "Les âmes sauvages: Face à l'Occident, la résistance d'un peuple d'Alaska", in dem sie Leben und Kampf der indigenen Gwich'in in Alaska beschreibt. Nach den Jahren in Alaska kam Martin 2014 auf die russische Halbinsel Kamtschatka, um das Leben und die Kosmologie der letzten indigenen Nomaden der Gegend zu erforschen. Sie schloss sich vor allem den Ewenen an, einer Ethnie, die hauptsächlich von der Jagd und vom Lachsefischen lebt. Wobei man sich das Verhältnis der Forscherin zu ihren Objekten als ein beidseitig freundliches vorstellen kann.
Denn auch wenn die Ewenen viel über Martins Fragen gelacht und sie oft mal böse, mal ironisch, mal freundlich eine Spionin genannt haben, hätten sie ihr "immer alles gesagt", wie Martin betont. Und das ist nicht nur deshalb beachtenswert, weil der Titel "Spionin" gerade in den Siedlungen, Wäldern und Steppen dieser russischen Region bis heute nichts von seinem tödlichen Schrecken verloren hat. Martin muss es selbst erfahren, als sie in einem zerfallenden gulagähnlichen Krankenhaus in Kljutschi von einem Geheimdienstoffizier verhört wird, um sicherzustellen, dass sie in Kamtschatka tatsächlich als Forscherin und nicht als Spionin gearbeitet hat.
Es ist dieses Krankenhaus, in dem Martin die Idee kommt, die Geschichten, die man sonst nicht erzählt, eben doch, allerdings nur schriftlich, zu erzählen. Sie war nach einer ihrer Operationen, die der mit Goldkette, Goldzähnen und Golduhr verzierte mächtige Chefarzt der Klinik selbst ausgeführt hatte, mit einem Schlauch im Hals zu den lauten Trommelwirbeln einer schlechten Symphonie aufgewacht, die ihr jede Konzentration auf die eigene Lage unmöglich machte. Als sie sich nach dem Sinn der schrecklichen Symphonie erkundigte, bekam sie zur Antwort, dass eine alte, jedoch sehr seriöse Studie gezeigt habe, dass eine Dauerbeschallung mit dieser Musik den Patienten helfe, das Atmen nicht zu vergessen. "Bumm! Und man atmet", notiert Martin.
Es ging ihr in diesem Moment aber weniger um die Eigenheiten des russischen Gesundheitssystems, das ihr nach einer weiteren Operation ein Erwachen unter russischem Hardrock mit dazu tanzender Krankenschwester bescherte, als vielmehr darum, dass sie bemerken musste, dass sie mit ihrem Gesicht auch sich selbst in ihrem Forschungsfeld verloren hatte.
Der Bär, der ihr den "Bärenbiss in Gesicht und Schädel, Fraktur des rechten aufsteigenden Unterkieferastes, Fraktur des rechten Jochbeins, zahlreiche Narben an Gesicht und Kopf, weiteren Biss am rechten Bein" eingebracht hatte, wie es in einem medizinischen Bericht hieß, ging Martin nicht mehr nur aus dem Kopf. Der Bär war auf seine Art Teil ihres Körpers, ihrer Empfindungen geworden - und das war kein Spaß. Der Bär begann, Martin zu faszinieren, und damit hatte sie den Abstand, die rationale Kontrolle, die Wissenschaften von ihren Agenten fordern, über den Gegenstand Bär verloren. Sie war Teil des Feldes "Bär" geworden, und das war durchaus real, weil sich der Bär ja einen Teil ihres Kiefers einverleibt hatte und auch Teil ihres Lebens geworden war. Und nachdem Martin auf der Intensivstation dann noch ein russischer Film gezeigt wurde, in dem ein Mädchen, das auf denselben Vornamen hört wie Martin, im Wald nach ihrem Liebsten sucht, den aber nicht finden kann, weil der sich in einen Bären verwandelt hat und ihr deshalb nichts mehr sagen kann, bricht ihr alter Referenzrahmen vollständig zusammen. "Es gibt nichts Absurdes, nichts Seltsames, nichts Zufälliges mehr. Es gibt nur Resonanzen", fasst sie den Schock nach dem Film zusammen.
Martin bleibt dabei aber immer noch genug Wissenschaftlerin, um nicht in willkürliche phantastische Romantik zu versinken. Sie bemerkt auf eine auch körperliche Art, wie der Animismus der nördlichen Indigenen Alaskas und Sibiriens, den sie so konzentriert wie detailversessen studiert hatte, zu ihrer eigenen Erfahrungsverarbeitungstechnik geworden war. "Mein Körper ist zu einem Gebiet geworden, auf dem westliche Chirurginnen in einem Dialog mit sibirischen Bären stehen", schreibt sie. Angesichts des Bären am Leben zu bleiben bedeute, einen Neubeginn in Gestalt einer strukturellen Transformation zu akzeptieren. Und die strukturelle Transformation ist dabei eine doppelte.
Zum einen heißt es, den Eingriff oder das Eindringen des Bären als "normal", als eine Erweiterung ihrer Form durch ein exogenes Element zu verstehen und damit den alten Glauben an eine endogene Substanz des Selbst aufzugeben. Zum anderen aber - und das ist hier entscheidender - heißt es, die alte Praxis, wissenschaftlich verwertbare Fakten in einem Tagesheft zu sammeln und die schrägen, wissenschaftlich unbrauchbaren Gedanken in einem schwarzen Nachtheft zu notieren, wie sie es jahrelang gemacht hatte, aufzugeben. Der Bär war die Grenze, die die schwarzen Hefte überflüssig hat werden lassen. Martin hatte durch den Bären gelernt, der Lachs in den Armen des Jägers zu sein, aber auch der Jäger, der den Lachs in den Armen hält. "An das Wilde glauben" ist die äußerst konzentrierte Ausarbeitung dieses Körper- und Gedankengangs, der von der russischen Steppe in die Plastische Chirurgie eines Pariser Krankenhauses führt, ohne sich zu verlaufen oder im Ungefähren zu verlieren. Was dann fast schon wieder kaum zu glauben ist, wenn man es nicht selbst gelesen hätte.
Und weil Nastassja Martin nicht nur das Glück hatte, den Blick in das Maul eines Bären als Geburt empfinden zu können, sondern auch noch in Paris arbeiten und denken zu dürfen, blieb ihr Bericht auch nicht unbeachtet. Wie lebendig die Fragen um die Verwandlungen von Körpern im Lauf von Individual- wie Gattungsgeschichten gerade in Frankreich diskutiert werden, kann man an einem anderen Buch nachvollziehen.
In Emanuele Coccias Buch "Metamorphosen. Das Leben hat viele Formen" gibt es ein Kapitel, das man als direkten Kontrapunkt zu Nastassja Martin lesen kann. "Gefressen werden" ist es überschrieben und reflektiert einerseits die Tatsache, dass essen die alltäglichste Form der Metamorphose ist, denn essen bedeutet immer, eine Gestalt in eine andere zu überführen. Andererseits ist die Vorstellung, durch Aufgegessenwerden verwandelt zu werden, für die Betroffenen beängstigend. Es handelt sich dabei allerdings um eine Angst, die den weitaus größten Teil der Lebewesen ständig begleitet, mit nur einer Ausnahme: Für Menschen ist es praktisch ausgeschlossen, zur Nahrung von Löwen, Bären, Krokodilen, Raben, Schlangen, Geiern, Schweinen oder Ratten zu werden.
Warum, fragt Coccia, ist es ausgerechnet für moderne Menschen eine so erniedrigende Erfahrung, Nahrung zu sein, wo doch für alle ökologisch fleischgewordenen Wesen gelte, dass sie als Nahrung für andere Lebewesen existieren? Coccias radikale Antwort lautet, dass wir Menschen fast alles dafür tun, uns aus der Gleichheit und Wechselseitigkeit in den Nahrungsketten der anderen Lebewesen herauszuhalten - was einer der Gründe der ökologischen Dauerkrise ist. Sich selbst als Lachs in den Armen eines Jägers zu begreifen ist auf dem Weg aus der Krise aber alles, nur kein kleiner Schritt.
CORD RIECHELMANN
Nastassja Martin, "An das Wilde glauben". Aus dem
Französischen von Claudia Kalscheuer. Matthes & Seitz, 139 Seiten, 18 Euro.
Emanuele Coccia, "Metamorphosen". Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet. Hanser, 208 Seiten, 23 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nastassja Martin und Emanuele Coccia glauben an das Wilde
Dass die Ethnologie mit Claude Lévi-Strauss' Erzählungen aus den traurigen Tropen, Clifford Geertz' Beschreibungen der Hahnenkämpfe auf Bali und Philippe Descolas Berichten aus der zerstörerischen Übergangsregion zwischen westlicher Zivilisation und dem wilden Leben an den Rändern des großen Waldes Amazoniens einige der schönsten und bedeutendsten Prosawerke nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen hat, ist nicht folgenlos geblieben. In Nastassja Martins Erzählbericht "An das Wilde glauben", der 2019 im französischen Original erschienen ist und hier in der hervorragenden Übersetzung von Claudia Kalscheuer erstmals auf Deutsch vorliegt, hat die ethnologisch inspirierte Prosa eine Ebene betreten, die hierzulande bisher einzig von Hubert Fichte in seinem großen Buch "Explosion", das im Untertitel "Roman der Ethnologie" heißt, abgeschritten worden ist.
Während es bei Fichte aber die Wolkenkratzer von Rio de Janeiro waren, die zwischen den hupenden Autos ins Wackeln gerieten und die Wahrnehmung für instabile Subjektzustände empfänglich machten, ist es bei Martin die sibirische Steppe. Die ist nämlich nach dem Zusammenprall mit einem Bären buchstäblich rot geworden. Die Steppe war rot, die Hände waren rot, und Martins geschwollenes und zerrissenes Gesicht war kaum noch zu erkennen.
"Wie in den Zeiten des Mythos herrscht Ununterschiedenheit, ich bin diese undeutliche Form, deren Züge in den offenen Breschen des mit Blut und Sekreten verschmierten Gesichts verschwunden sind", schreibt Martin am Anfang ihres Berichts und fügt hinzu: "Es ist eine Geburt, da es ganz offensichtlich kein Tod ist." Und was dann folgt, sind Bericht und Reflexion dieser Geburt, verwoben zu einem kleinen, gerade mal 140 Seiten langen Text, in dem das Verhältnis von Gesagtem und Weggelassenem neu austariert wird.
Eine von Martins Kernfragen berührt jede ethnologische und verhaltensbiologische Feldforschung: die schlichte Tatsache, dass man einen Großteil des Gesehenen und Erlebten nicht wird erzählen können, weil es einem sowieso niemand glauben oder man sehr schnell in den Bereich der Mythologisierung abrutschen und damit als Wissenschaftlerin unglaubwürdig werden würde. Und Wissenschaftlerin ist Nastassja Martin zuerst. Als Schülerin des Anthropologen Philippe Descola gilt Martin, die 1986 in Grenoble geboren wurde, als Spezialistin für arktische Völker. Bekannt wurde sie mit ihrem 2016 erschienenen anthropologischen Essay "Les âmes sauvages: Face à l'Occident, la résistance d'un peuple d'Alaska", in dem sie Leben und Kampf der indigenen Gwich'in in Alaska beschreibt. Nach den Jahren in Alaska kam Martin 2014 auf die russische Halbinsel Kamtschatka, um das Leben und die Kosmologie der letzten indigenen Nomaden der Gegend zu erforschen. Sie schloss sich vor allem den Ewenen an, einer Ethnie, die hauptsächlich von der Jagd und vom Lachsefischen lebt. Wobei man sich das Verhältnis der Forscherin zu ihren Objekten als ein beidseitig freundliches vorstellen kann.
Denn auch wenn die Ewenen viel über Martins Fragen gelacht und sie oft mal böse, mal ironisch, mal freundlich eine Spionin genannt haben, hätten sie ihr "immer alles gesagt", wie Martin betont. Und das ist nicht nur deshalb beachtenswert, weil der Titel "Spionin" gerade in den Siedlungen, Wäldern und Steppen dieser russischen Region bis heute nichts von seinem tödlichen Schrecken verloren hat. Martin muss es selbst erfahren, als sie in einem zerfallenden gulagähnlichen Krankenhaus in Kljutschi von einem Geheimdienstoffizier verhört wird, um sicherzustellen, dass sie in Kamtschatka tatsächlich als Forscherin und nicht als Spionin gearbeitet hat.
Es ist dieses Krankenhaus, in dem Martin die Idee kommt, die Geschichten, die man sonst nicht erzählt, eben doch, allerdings nur schriftlich, zu erzählen. Sie war nach einer ihrer Operationen, die der mit Goldkette, Goldzähnen und Golduhr verzierte mächtige Chefarzt der Klinik selbst ausgeführt hatte, mit einem Schlauch im Hals zu den lauten Trommelwirbeln einer schlechten Symphonie aufgewacht, die ihr jede Konzentration auf die eigene Lage unmöglich machte. Als sie sich nach dem Sinn der schrecklichen Symphonie erkundigte, bekam sie zur Antwort, dass eine alte, jedoch sehr seriöse Studie gezeigt habe, dass eine Dauerbeschallung mit dieser Musik den Patienten helfe, das Atmen nicht zu vergessen. "Bumm! Und man atmet", notiert Martin.
Es ging ihr in diesem Moment aber weniger um die Eigenheiten des russischen Gesundheitssystems, das ihr nach einer weiteren Operation ein Erwachen unter russischem Hardrock mit dazu tanzender Krankenschwester bescherte, als vielmehr darum, dass sie bemerken musste, dass sie mit ihrem Gesicht auch sich selbst in ihrem Forschungsfeld verloren hatte.
Der Bär, der ihr den "Bärenbiss in Gesicht und Schädel, Fraktur des rechten aufsteigenden Unterkieferastes, Fraktur des rechten Jochbeins, zahlreiche Narben an Gesicht und Kopf, weiteren Biss am rechten Bein" eingebracht hatte, wie es in einem medizinischen Bericht hieß, ging Martin nicht mehr nur aus dem Kopf. Der Bär war auf seine Art Teil ihres Körpers, ihrer Empfindungen geworden - und das war kein Spaß. Der Bär begann, Martin zu faszinieren, und damit hatte sie den Abstand, die rationale Kontrolle, die Wissenschaften von ihren Agenten fordern, über den Gegenstand Bär verloren. Sie war Teil des Feldes "Bär" geworden, und das war durchaus real, weil sich der Bär ja einen Teil ihres Kiefers einverleibt hatte und auch Teil ihres Lebens geworden war. Und nachdem Martin auf der Intensivstation dann noch ein russischer Film gezeigt wurde, in dem ein Mädchen, das auf denselben Vornamen hört wie Martin, im Wald nach ihrem Liebsten sucht, den aber nicht finden kann, weil der sich in einen Bären verwandelt hat und ihr deshalb nichts mehr sagen kann, bricht ihr alter Referenzrahmen vollständig zusammen. "Es gibt nichts Absurdes, nichts Seltsames, nichts Zufälliges mehr. Es gibt nur Resonanzen", fasst sie den Schock nach dem Film zusammen.
Martin bleibt dabei aber immer noch genug Wissenschaftlerin, um nicht in willkürliche phantastische Romantik zu versinken. Sie bemerkt auf eine auch körperliche Art, wie der Animismus der nördlichen Indigenen Alaskas und Sibiriens, den sie so konzentriert wie detailversessen studiert hatte, zu ihrer eigenen Erfahrungsverarbeitungstechnik geworden war. "Mein Körper ist zu einem Gebiet geworden, auf dem westliche Chirurginnen in einem Dialog mit sibirischen Bären stehen", schreibt sie. Angesichts des Bären am Leben zu bleiben bedeute, einen Neubeginn in Gestalt einer strukturellen Transformation zu akzeptieren. Und die strukturelle Transformation ist dabei eine doppelte.
Zum einen heißt es, den Eingriff oder das Eindringen des Bären als "normal", als eine Erweiterung ihrer Form durch ein exogenes Element zu verstehen und damit den alten Glauben an eine endogene Substanz des Selbst aufzugeben. Zum anderen aber - und das ist hier entscheidender - heißt es, die alte Praxis, wissenschaftlich verwertbare Fakten in einem Tagesheft zu sammeln und die schrägen, wissenschaftlich unbrauchbaren Gedanken in einem schwarzen Nachtheft zu notieren, wie sie es jahrelang gemacht hatte, aufzugeben. Der Bär war die Grenze, die die schwarzen Hefte überflüssig hat werden lassen. Martin hatte durch den Bären gelernt, der Lachs in den Armen des Jägers zu sein, aber auch der Jäger, der den Lachs in den Armen hält. "An das Wilde glauben" ist die äußerst konzentrierte Ausarbeitung dieses Körper- und Gedankengangs, der von der russischen Steppe in die Plastische Chirurgie eines Pariser Krankenhauses führt, ohne sich zu verlaufen oder im Ungefähren zu verlieren. Was dann fast schon wieder kaum zu glauben ist, wenn man es nicht selbst gelesen hätte.
Und weil Nastassja Martin nicht nur das Glück hatte, den Blick in das Maul eines Bären als Geburt empfinden zu können, sondern auch noch in Paris arbeiten und denken zu dürfen, blieb ihr Bericht auch nicht unbeachtet. Wie lebendig die Fragen um die Verwandlungen von Körpern im Lauf von Individual- wie Gattungsgeschichten gerade in Frankreich diskutiert werden, kann man an einem anderen Buch nachvollziehen.
In Emanuele Coccias Buch "Metamorphosen. Das Leben hat viele Formen" gibt es ein Kapitel, das man als direkten Kontrapunkt zu Nastassja Martin lesen kann. "Gefressen werden" ist es überschrieben und reflektiert einerseits die Tatsache, dass essen die alltäglichste Form der Metamorphose ist, denn essen bedeutet immer, eine Gestalt in eine andere zu überführen. Andererseits ist die Vorstellung, durch Aufgegessenwerden verwandelt zu werden, für die Betroffenen beängstigend. Es handelt sich dabei allerdings um eine Angst, die den weitaus größten Teil der Lebewesen ständig begleitet, mit nur einer Ausnahme: Für Menschen ist es praktisch ausgeschlossen, zur Nahrung von Löwen, Bären, Krokodilen, Raben, Schlangen, Geiern, Schweinen oder Ratten zu werden.
Warum, fragt Coccia, ist es ausgerechnet für moderne Menschen eine so erniedrigende Erfahrung, Nahrung zu sein, wo doch für alle ökologisch fleischgewordenen Wesen gelte, dass sie als Nahrung für andere Lebewesen existieren? Coccias radikale Antwort lautet, dass wir Menschen fast alles dafür tun, uns aus der Gleichheit und Wechselseitigkeit in den Nahrungsketten der anderen Lebewesen herauszuhalten - was einer der Gründe der ökologischen Dauerkrise ist. Sich selbst als Lachs in den Armen eines Jägers zu begreifen ist auf dem Weg aus der Krise aber alles, nur kein kleiner Schritt.
CORD RIECHELMANN
Nastassja Martin, "An das Wilde glauben". Aus dem
Französischen von Claudia Kalscheuer. Matthes & Seitz, 139 Seiten, 18 Euro.
Emanuele Coccia, "Metamorphosen". Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet. Hanser, 208 Seiten, 23 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Leander Scholz kann Emanuele Coccias Lebensphilosophie der Verwandlung etwas abgewinnen. Als Gegenentwurf zu einem vom Verständnis der menschlichen Sonderstellung getragenen Selbstoptimierungsgedanken scheint Scholz Coccias Idee von der Kontinuität aller Lebensformen sympathisch. Die Vorstellung, dass wir eben keine vereinzelten Lebenwesen sind, sondern Gestalten der "Metamorphosen des Lebensstroms", findet Scholz bemerkenswert, zumal sie Befreiung von der Arbeit an der Identität und neue Lebenslust verspricht, wie er feststellt. Die Bezüge des Buches zu Ovid, zur Lebensphilosophie des 20. Jahrhunderts und zur frühen Umweltbewegung entgehen Scholz nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Emanuele Coccia definiert das Verhältnis zwischen Menschen und Natur neu, das ist höchst faszinierend und dringend nötig, um uns die Augen zu öffnen." Peter Wohlleben, Oktober 2020
"Warum, fragt Coccia, ist es ausgerechnet für moderne Menschen eine so erniedrigende Erfahrung, Nahrung zu sein, wo doch für alle ökologisch fleischgewordenen Wesen gelte, dass sie als Nahrung für andere Lebewesen existieren? Coccias radikale Antwort lautet, dass wir Menschen fast alles dafür tun, uns aus der Gleichheit und Wechselseitigkeit in den Nahrungsketten der anderen Lebewesen heraus zu halten - was einer der Gründe der ökologischen Dauerkrise ist." Cord Riechelmann, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13.03.21
"Das Buch erzeugt in seiner zupackenden, bildkräftigen Sprache eine enorme Wirkung." Jörg Magenau, Philosophie Magazin, 3/2021
"Warum, fragt Coccia, ist es ausgerechnet für moderne Menschen eine so erniedrigende Erfahrung, Nahrung zu sein, wo doch für alle ökologisch fleischgewordenen Wesen gelte, dass sie als Nahrung für andere Lebewesen existieren? Coccias radikale Antwort lautet, dass wir Menschen fast alles dafür tun, uns aus der Gleichheit und Wechselseitigkeit in den Nahrungsketten der anderen Lebewesen heraus zu halten - was einer der Gründe der ökologischen Dauerkrise ist." Cord Riechelmann, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13.03.21
"Das Buch erzeugt in seiner zupackenden, bildkräftigen Sprache eine enorme Wirkung." Jörg Magenau, Philosophie Magazin, 3/2021