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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Von den Chancen urbaner Lebensweisen: Greg Woolf legt eine weit zurückgreifende und recht grundsätzliche Geschichte der Stadt vor.
Wertbesetzte Erfolgsgeschichten stehen inzwischen auch in der Althistorie nicht mehr hoch im Kurs. Wie manifestiert sich diese Tendenz bei der Stadt, einst Paradepferd antiker Errungenschaften, was zivilisatorische Leistungen und politische Verdichtung angeht? Die Griechen brachten in der Tat das Kunststück fertig, ihre meist sehr bescheidenen Städte zu adeln, indem sie die Qualität der Bürgerschaft über die urbanistische Dimension stellten. So zog ein früher Autor "eine Polis auf ihrem Felsen, nach der Ordnung lebend und klein", dem "unvernünftigen Ninive" vor - die Abwertung der molochartig-chaotischen 'orientalischen' Stadt sollte sich später auch aus dem biblischen Babylon-Klischee speisen. Aristoteles bestimmte die Polis als Lebensform allein durch die Eigenschaften und Interaktionen ihrer gleichberechtigten Bürger. Erst in der römischen Kaiserzeit bildeten eine Wasserleitung und bestimmte öffentliche Baulichkeiten einen Standard, um überhaupt sinnvoll von einer Stadt sprechen zu können.
Greg Woolf, dem eine fulminante Biographie des römischen Weltreichs zu verdanken ist (F.A.Z. vom 23. April 2015), betont hingegen in Form einer großen Erzählung, wie spät Städte in der antiken Mittelmeerwelt auftauchten, wie klein die meisten von ihnen blieben und wie voraussetzungsreich, vielfach auch prekär urbanes Leben sich darstellte. Dabei greift er weit zurück und wird sehr grundsätzlich - der Untertitel des englischen Originals lautet "A Natural History".
Man lernt also zunächst viel über Ernährungsweisen, große Gehirne und das besondere Talent des Menschen für Freundschaft untereinander sowie die einzigartige Gemeinschaft mit domestizierten Tieren. Im Zuge der Evolution entwickelte unsere Spezies - "hungrige Allesfresser, gut darin, in großen Gruppen zusammenzuleben, pfiffig im Einsatz unserer Hände, Problemlöser und Problemverursacher" - demnach Merkmale, die es erleichterten, in Städten zu leben. Dieses Leben bot allen, die es ausprobierten, einen Vorteil gegenüber den Artgenossen, die das nicht taten, stellte sie aber zugleich vor immer neue Herausforderungen, die - durchaus im Sinn von Arnold J. Toynbees Modell von "challenge and response" - neue Antworten produzierten. Die im Dunkeln sind dabei kaum mehr zu erkennen, da gescheiterte Versuche kaum Spuren hinterließen.
Woolf grenzt Stadt in diesem Sinne nicht durch Bauwerke oder Bevölkerungszahl von anderen Formen verdichteter Siedlung ab, sondern er definiert sie als ein Aggregat von einander ergänzenden Fähigkeiten, sozialen Differenzierungen, Ungleichheiten und Arbeitsteilungen. Wegen des urbanen Potentials der Spezies Mensch wurde der Urbanismus wieder und wieder erfunden und erprobt, wenn es sich anbot, auf allen Kontinenten außer in Australien.
Die Geschichte der Stadt im engeren Sinn beginnt Woolf nicht zuletzt wegen der Überlieferungslage in Uruk, doch auch hier war der Urbanismus weder Ergebnis eines langfristigen Plans noch zwingende Folge komplexerer agrarischer Sesshaftigkeit. Von den ersten Anläufen bis zu den "Megalopoleis" Alexandria, Rom und Konstantinopel Jahrtausende später: Die Stadt bedeutete nie ein besseres Leben für alle, aber Vorteile für diejenigen, die sie zu ihrer Sache machten und die Potentiale zu nutzen wussten. Nicht Ursprünge, sondern Erfolgs- und Nutzendynamiken sind von Interesse, und im Zuge dieser methodischen Frontbegradigung werden gleich noch Diffusion und Ansteckung als Erklärungsmuster abgeräumt, vielleicht ein wenig vorschnell. Eine glänzende Bemerkung hingegen: Mit der Stadt trat auch das Land als ein grundlegend anderer Raum auf den Plan, und es entwickelten sich vielfältige Beziehungen zwischen beiden.
An den Rändern des Mittelmeeres waren die klimatischen und agrarischen Voraussetzungen für Städte Woolf zufolge eher schlecht. Diese kamen daher auch erst spät auf, nach einem gescheiterten Experiment in der Bronzezeit, und ihre Bevölkerungen sahen sich veranlasst, Nischen zu entdecken. Eisen zu nutzen wirkte demokratisierend, und viel stärker als im "Fruchtbaren Halbmond" stellte Migration eine Möglichkeit dar. Zudem begannen Stammesführer und lokale Granden die Chancen des Fernhandels zu nutzen. Die herangeschafften, aus den Überschüssen bäuerlicher Arbeit bezahlten Luxusgüter machten Anführer zu Aristokraten, die sich in einer Stadt besonders gut präsentieren, aneinander messen oder zusammen Herrschaft ausüben konnten - ein zukunftsträchtiger Entwurf, nicht nur in Etrurien und Griechenland. Stabilisierend wirkten lokal geformte Traditionen und kreativ geformte Ordnungen. "Tyrannis, Gesetzgebung und Verfassungen", so eines der nicht wenigen Bonmots, "hielten Gemeinden zusammen, die in früherer Zeit einfach auseinandergebrochen wären". Die Vielzahl der so aus lokalen Machtdynamiken und wirtschaftlicher Anpassung entstandenen Stadtstaaten hielt danach strukturell eine Fülle von Optionen bereit, darunter Netzwerkbildung, Hegemonie oder Integration in ein Imperium. War eine Stadt einmal da, erwies sie sich vielfach als beharrlich, selbst wenn sich die Konstellationen ihrer Gründung völlig veränderten.
Für die imperialen Ordnungen, zunächst der Perser, dann der Makedonen und schließlich der Römer erwies sich der Stadtstaat als besonders brauchbarer Baustein ihrer Macht. Wie selbstverständlich und anscheinend alternativlos gründeten Herrscher bald Städte auch in solchen Regionen, wo man bis dahin auch gut ohne sie ausgekommen war, so die Römer im kontinentalen West- und Mitteleuropa. Ein Grund: Antike Imperien hingen in erster Linie von menschlicher Arbeits- und Organisationsleistung ab, und diese boten Stadtstaaten besser als alle Alternativen. Doch erst in der Römerzeit entwickelten sich einige der wohl an die zweitausend Städte des Reiches zur Monumentalität, die indes von vielen Bedingungen abhing, hohe Kosten verursachte und daher auch nur vergleichsweise kurz währte.
Woolfs Welt ist kontingenzgesättigt, stets wiegelt er ab, redimensioniert, redet wider Fortschrittsvertrauen und Triumphalismus in der Fluchtlinie monumentalischer Geschichtsschreibung. Doch anders als David Graeber und David Wengrow (F.A.Z. vom 29. Januar) oder James C. Scott (F.A.Z. vom 3. August 2019) entwickelt er seine offene Geschichte nicht, um im Rückblick auf die Anfänge zugleich mit der Moderne, dem 'Westen', dem Kapitalismus oder dem Steuerstaat abzurechnen. Das macht sein großes, kluges Buch noch anziehender. UWE WALTER
Greg Woolf: "Metropolis". Aufstieg und Niedergang antiker Städte.
Aus dem Englischen von Susanne Held. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022. 608 S., Abb., geb., 35,- Euro.
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